Marta Ortiz ist wahnsinnig aufgeregt. Es ist das erste Mal, dass sie ihre Heimat besucht, seit sie ein Baby war. Alles ist neu, sie entdeckt das Land wie eine Touristin: die Straßenverkäufer:innen, der Duft der Tortillas, der aus den kleinen Läden in den Seitenstraßen dringt, die Unmengen an Tauben auf dem Platz der Verfassung. Marta kramt in ihrer Handtasche und holt einen ihrer zwei Pässe heraus. Sie erzählt aufgelöst und mit ihrem breiten Lächeln, das sie mitunter verwendet, um ihr hölzernes Spanisch zu überdecken. Sie zeigt mit dem Finger auf die zwei Stempel, beide aus dem Jahr 1980. Einer vom 20. September 1980, der andere vom darauffolgenden 21. September. Das würde bedeuten, dass Marta an zwei Tagen hintereinander das Land verlassen hätte. Der einzige andere Stempel belegt, dass sie am 22. September in Brüssel gelandet ist. Dieses mentale Stirnrunzeln, das Gefühl, dass etwas nicht zusammenpasst, begleitet Marta schon eine sehr lange Zeit.
Früher hieß sie Aurélie. Ob Marta, wie sie sich nun nennt, ihr richtiger Name ist, weiß sie nicht. Sie wurde als fünf Monate altes Baby nach Belgien verschleppt und dort illegal adoptiert. Als sie mit 39 Jahren auf das Thema stößt, lässt sich ihr Leben in ein Vorher und ein Nachher unterteilen. "Es war wie ein Tsunami für mich", erzählt Marta. Seitdem ist die 43-Jährige entschlossen, ihre richtigen Eltern zu finden. Um Marta herum sieht man eine Art vierfarbiges Kreuz aus Blumen, einige ältere Frauen stehen schweigend um den Altar herum. Sie tragen die traditionelle Huipil-Tracht. Um die sogenannten vier Kardinalspunkte – Himmel, Erde, Wasser, Luft – liegen Räucherstäbchen, das Copal-Harz und Steckbriefe. Ein Meer aus Gesichtern und Namen. Vor wenigen Stunden wurde eine Maya-Zeremonie durchgeführt. Hier, im Casa de la Memoria (Haus der Erinnerung) in Guatemala-Stadt, wollen sie das Geschehene nicht vergessen: den Genozid, die versuchte Ausrottung der Maya-Urvölker in Guatemala. Während des Bürgerkriegs (1960 bis 1996) war das Militär für unzählige Unmenschlichkeiten verantwortlich.
Eine davon bestand darin, Babys der Familien in den Dorfgemeinschaften der Kriegszonen einfach mitzunehmen. Das war die Initialzündung für Jahrzehnte an kriminellen Machenschaften – deren Auswirkungen bis nach Deutschland reichen.
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Beate Hugk
am 10.05.2023