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Protestcamp mit Cannabis-Plantage

"Unsere Drogenhändler sind auch unsere Machthaber"

Protestcamp mit Cannabis-Plantage: "Unsere Drogenhändler sind auch unsere Machthaber"
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 Fotos: Mariam Guerrero 

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Datum:

Illegaler Grasanbau direkt vor dem Senatsgebäude, dazu kulturelle Angebote: Mexiko macht's möglich. Seit knapp drei Jahren fordern AktivistInnen im "Plantón 420" die Legalisierung von Cannabis. Während die Ampel in Deutschland vor allem zu Genusszwecken legalisieren will, hat der Protest in Mexiko City sehr ernste Hintergründe. Besuch eines ungewöhnlichen Camps.

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Zipp, zipp – zipp. Die Revolution schmeckt würzig. Edgar kommt langsam aus seinem Zelt gekrochen und zündet zur Orientierung erst mal die Pfeife an. Aus dem kleinen gläsernen Stab dringt dünner Rauch. In den paar Sekunden des Ausatmens stehen die Zahnräder still, all die Stressoren dieser Megastadt – der Lärm, die Enge, die Rastlosigkeit. Zwei Züge reichen. Edgar ist einer von sieben Cannabis-AktivistInnen, die hier in Mexikos Hauptstadt im Protestcamp wohnen. Ein wohl weltweit einzigartiges Protestcamp, denn hier wird illegal angebaut, trotz repressiver Drogenpolitik. Geduldet wird der Anbau jedoch.

Dabei liegt die Mahnwache direkt neben dem Senatsgebäude. Die PflanzenkriegerInnen haben Politikerinnen und Senatoren solange genervt, bis diese gesagt haben: Lasst die Kiffer halt machen.

4.000 Cannabis-Pflanzen wachsen im Camp

Über 4.000 Exemplare des gemütserregenden Gewächses, dessen weibliche Blütenabsonderungen gerne geraucht werden, wachsen hier. Hier, inmitten des Wahnsinns der Avenida Reforma, der emblematischen Prachtstraße, die den reichen und wohlhabenden Teil einer tief gespaltenen Stadt darstellt, sorgt ein kleiner Platz für Aufsehen, umzäunt von rotem Gitter. Im Februar 2019 erblickte das "Plantón 420" das Licht der Welt. Eingekesselt von pompösen Betonklötzen, die die kapitalistische Geldakkumulation für alle sichtbar machen – etwa die HSBC-Bank, die bekanntermaßen dem mächtigen Sinaloa-Kartell dabei half, Unmengen an Drogengeld zu waschen.

Orlando Daniels ist ein Mann der ersten Stunde. "Es geht nicht nur darum, hier einfach zu kiffen", versichert der 36-Jährige, "unsere Rechte als Konsumenten werden missachtet." Das konkrete Ziel der AktivistInnen: Legalisierung der Cannabispflanze ohne Bedarfsgrenze.

Hanf-FreundInnen aus der Bundesrepublik rümpfen da vielleicht die Nase: 15, 20 Gramm für den Eigenkonsum sollten doch reichen! Bleibt realistisch mit den Forderungen! Doch Deutschland und Mexiko unterscheidet ein grundlegendes Detail: horrende Korruption der Polizeibehörden. "Wenn die erlaubte Grenze 30 Gramm beträgt, dann 'säen' sie dir eben ein paar Gramm mehr, und du bist am Arsch", erklärt Orlando. Der Fisch stinkt eben vom Kopf her. Der Aktivist erklärt weiter: "Unsere Drogenhändler sind gleichzeitig unsere Machthaber."

Eine Woche fürs Cannabis-Diplom

Edgars Kumpel Ricardo stößt dazu. Es gilt, die Lunte erneut zum Brennen zu bringen. "Ich bin Absolvent der Cannabis-Schule", sagt er, als irgendwie das Thema aufkommt. Das spontane Lachen von Autor und Fotografin kann er überhaupt nicht nachvollziehen. Einen Nachweis hat er nämlich. Stolz präsentiert Ricardo sein Abschlussdiplom – eine Woche dauert es, die Cannabis-Schule im Plantón 420 zu absolvieren. Was man dort lernt? "Zubereitungsmethoden, Erste-Hilfe-Maßnahmen, Rechtliches", so Edgar – "Menschenrechte auch. Ah, und richtig Bong rauchen haben wir gelernt", fügt Absolvent Ricardo hinzu.

Über die Zeit ist das grüne Protestlager zu einem Kulturzentrum gewachsen. Dienstags und donnerstags: Freiwilligen-Arbeit im Camp. Mittwochs ab 17 Uhr: Frauenkreis, ein Safe Space für engagierte Kifferinnen, ab und an auch Kartonage-Workshops. Freitags: Schachspiel (mit Joints). Abends dazu häufig Livemusik. Orlando Daniels sagt, er will hier ein "inklusives Konzept" schaffen. Für ihn bedeutet das, alle Cannabisinteressierten unabhängig des sozialen Status zu integrieren. Alleinerziehende Mütter etwa, die in Mexiko oft besonders stigmatisiert würden, Bauern, oder Menschen, die Hanf medizinisch benötigten.

Patricia kümmert sich um Hühner und Pflanzen

Der Schachclub diesen Freitag ist wortkarg, da die Partie bereits läuft, die Joints bereits brennen. Ein paar Meter weiter wurde eine Ruhe-Ecke eingerichtet – was ironisch daherkommt, sorgen doch die Tausenden Autos, Busse, Flugzeuge, Helis und StraßenverkäuferInnen für ein absolut anti-meditatives Ambiente. Das Insektenhotel ein paar Meter weit befindet sich noch im Aufbau, ein kleiner Hühnerstall ist schon intakt. Jeden Dienstag und Donnerstag kommt die 80-jährige Patricia hier her, wallendes graues Haar, lautes Organ.

Sie kümmert sich um die insgesamt vier Hühner und gießt die Pflanzen. Sie legt einen beinahe unangenehmen Tatendrang an den Tag, beschwert sich, die anderen Freiwilligen würden nicht genug machen. Patricia fragt nach Feuer, nur um postwendend zu triumphieren: "Bekommst du erst wieder, wenn du mindestens fünf Pflanzen gegossen hast!" Ihre Großmutter habe während der Mexikanischen Revolution mit den Soldaten geraucht, die Pflanze kenne sie, seit sie ein kleines Kind war. Ihre wilden Erzählungen oszillieren zwischen Graspsychose, Angeberei und Chronistentum. Man weiß nicht, ob man ihr Glauben schenken soll oder doch lieber eine Flasche Wasser.

Die Mär von den "Drogenkartellen"

Orlando ist mit 31 Jahren zur Cannabis-Pflanze gekommen. Ein Parkinson-Fall eines Verwandten brachte ihn dazu, sich mit dem Gewächs zu beschäftigen. Er glaubt nicht, dass eine Legalisierung die kriminellen Gruppen des Landes stark schwächen würde. Und tatsächlich ist es ein Zeugnis der Unkenntnis, wenn man hofft, dass man mächtige Clanstrukturen durch eine Cannabislegalisierung stilllegen könne. Mexikanische "Drogenkartelle" wie es meist fälschlich heißt, verdienen ihr Geld längst nicht mehr nur durch Drogen. Investments in legale Geschäfte, Übernahme der Bergbau- und Avocado-Produktion des Landes, Zwangsprostitution, massenhafte Erpressungen sowie Menschenhandel sind weitaus lukrativer. Wie in der legalen Wirtschaft auch wurde auf Diversifizierung gesetzt.

Was die Drogen angeht, so sind heutzutage Fentanyl und Methamphetamin wesentlich gewinnbringender als ein paar lausige Tonnen Gras. Cannabis-Aktivist Orlando geht es zudem um etwas Anderes: "Die Pflanzen haben ein Recht darauf, frei zu sein. Deswegen protestieren sie hier. Die Pflanzen sind im Protest. Und zwar solange, bis wir unsere Forderungen erfüllt bekommen", stellt der 36-Jährige klar.

Gibt's denn keine größeren Probleme als Rechte von KifferInnen?, könnte man natürlich fragen. Kürzlich hat ein UN-Ausschuss erstmals in der Geschichte des Landes begonnen, das gewaltsame Verschwindenlassen von Personen zu untersuchen. Nahezu 90.000 Menschen werden in dem nordamerikanischen Staat vermisst. Spurlos verschwunden, von einem Tag auf den anderen – meist tauchen sie nie wieder auf, oder eben Jahre später in einem der Tausenden klandestinen Massengräber. Doch das, auf was die ProtestlerInnen hier aufmerksam machen, zeigt im Kleinen, was im Großen schiefläuft: Wenn BürgerInnen den Behörden noch nicht einmal bei der Umsetzung des geltenden Rechts vertrauen können, bei so etwas Banalem wie Eigenbesitz von Cannabis, wie kaputt ist dann das soziale Gewebe?

Das ist nur eine der Folgen des sogenannten Drogenkrieges. Ein längst verlorener Krieg, der nur aus politisch-wirtschaftlichen Interessen künstlich am Leben erhalten wird – zulasten einer zerstörten und hochtraumatisierten Gesellschaft. Der Lichtblick: Der SCJN, sozusagen das Bundesverfassungsgericht Mexikos, hat das generelle Verbot von Cannabis für verfassungswidrig erklärt. Die große Herausforderung wird sein, dieses Urteil in politische Realität umzusetzen.


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1 Kommentar verfügbar

  • Matthias
    am 10.01.2022
    Antworten
    Herzliche Grüße aus Mexico-Stadt: Kiffen ist hier weit verbreitet und wird so gut wie nicht verfolgt, daher verstehe ich diesen Artikel nicht.
    Das angesprochene Urteil des mexikanischen "Bundesverfassungsgerichts" ist eine Reaktion auf die Klage der Opposition gegen die von der Regierung…
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