Patricia kümmert sich um Hühner und Pflanzen
Der Schachclub diesen Freitag ist wortkarg, da die Partie bereits läuft, die Joints bereits brennen. Ein paar Meter weiter wurde eine Ruhe-Ecke eingerichtet – was ironisch daherkommt, sorgen doch die Tausenden Autos, Busse, Flugzeuge, Helis und StraßenverkäuferInnen für ein absolut anti-meditatives Ambiente. Das Insektenhotel ein paar Meter weit befindet sich noch im Aufbau, ein kleiner Hühnerstall ist schon intakt. Jeden Dienstag und Donnerstag kommt die 80-jährige Patricia hier her, wallendes graues Haar, lautes Organ.
Sie kümmert sich um die insgesamt vier Hühner und gießt die Pflanzen. Sie legt einen beinahe unangenehmen Tatendrang an den Tag, beschwert sich, die anderen Freiwilligen würden nicht genug machen. Patricia fragt nach Feuer, nur um postwendend zu triumphieren: "Bekommst du erst wieder, wenn du mindestens fünf Pflanzen gegossen hast!" Ihre Großmutter habe während der Mexikanischen Revolution mit den Soldaten geraucht, die Pflanze kenne sie, seit sie ein kleines Kind war. Ihre wilden Erzählungen oszillieren zwischen Graspsychose, Angeberei und Chronistentum. Man weiß nicht, ob man ihr Glauben schenken soll oder doch lieber eine Flasche Wasser.
Die Mär von den "Drogenkartellen"
Orlando ist mit 31 Jahren zur Cannabis-Pflanze gekommen. Ein Parkinson-Fall eines Verwandten brachte ihn dazu, sich mit dem Gewächs zu beschäftigen. Er glaubt nicht, dass eine Legalisierung die kriminellen Gruppen des Landes stark schwächen würde. Und tatsächlich ist es ein Zeugnis der Unkenntnis, wenn man hofft, dass man mächtige Clanstrukturen durch eine Cannabislegalisierung stilllegen könne. Mexikanische "Drogenkartelle" wie es meist fälschlich heißt, verdienen ihr Geld längst nicht mehr nur durch Drogen. Investments in legale Geschäfte, Übernahme der Bergbau- und Avocado-Produktion des Landes, Zwangsprostitution, massenhafte Erpressungen sowie Menschenhandel sind weitaus lukrativer. Wie in der legalen Wirtschaft auch wurde auf Diversifizierung gesetzt.
Was die Drogen angeht, so sind heutzutage Fentanyl und Methamphetamin wesentlich gewinnbringender als ein paar lausige Tonnen Gras. Cannabis-Aktivist Orlando geht es zudem um etwas Anderes: "Die Pflanzen haben ein Recht darauf, frei zu sein. Deswegen protestieren sie hier. Die Pflanzen sind im Protest. Und zwar solange, bis wir unsere Forderungen erfüllt bekommen", stellt der 36-Jährige klar.
Gibt's denn keine größeren Probleme als Rechte von KifferInnen?, könnte man natürlich fragen. Kürzlich hat ein UN-Ausschuss erstmals in der Geschichte des Landes begonnen, das gewaltsame Verschwindenlassen von Personen zu untersuchen. Nahezu 90.000 Menschen werden in dem nordamerikanischen Staat vermisst. Spurlos verschwunden, von einem Tag auf den anderen – meist tauchen sie nie wieder auf, oder eben Jahre später in einem der Tausenden klandestinen Massengräber. Doch das, auf was die ProtestlerInnen hier aufmerksam machen, zeigt im Kleinen, was im Großen schiefläuft: Wenn BürgerInnen den Behörden noch nicht einmal bei der Umsetzung des geltenden Rechts vertrauen können, bei so etwas Banalem wie Eigenbesitz von Cannabis, wie kaputt ist dann das soziale Gewebe?
Das ist nur eine der Folgen des sogenannten Drogenkrieges. Ein längst verlorener Krieg, der nur aus politisch-wirtschaftlichen Interessen künstlich am Leben erhalten wird – zulasten einer zerstörten und hochtraumatisierten Gesellschaft. Der Lichtblick: Der SCJN, sozusagen das Bundesverfassungsgericht Mexikos, hat das generelle Verbot von Cannabis für verfassungswidrig erklärt. Die große Herausforderung wird sein, dieses Urteil in politische Realität umzusetzen.
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Matthias
am 10.01.2022Das angesprochene Urteil des mexikanischen "Bundesverfassungsgerichts" ist eine Reaktion auf die Klage der Opposition gegen die von der Regierung…