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Kontext-Sommerserie

Ein Lurch wie ein Land

Kontext-Sommerserie: Ein Lurch wie ein Land
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 Fotos: Mariam Guerrero 

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Mythen und Kolonialgeschichte, Rassismus und Regenerationsfähigkeit: Der Axolotl vereint ganz Mexiko in einem Tier. Nachforschungen im Heimatland des dauerlächelnden Kiemenatmer offenbaren faszinierende Geheimnisse.

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Es ist kühl im Raum, lurchgerechte 16 Grad Celsius. Auf dem Boden stehen vier offene Wassertanks mit einer Kapazität von bis zu 750 Litern. Sie sind nur minimal gefüllt, ein kleiner Schlauch gluckst unentwegt in das hellgelbe Wasser. Am Boden: mehrere schwarze Axolotl. Dass sie eigentlich dunkel aussehen, verwundert viele. In den Medien sind meistens weiße Albino-Axolotl abgebildet. "Das ist Rassismus", sagt José Antonio Ocampo Cervantes.

Ocampo ist Ingenieur für Aquakultur und Leiter des CIBAC. Das ist das Zentrum für biologische und aquakulturelle Forschung, es gehört zur Autonomen Hauptstädtischen Universität (UAM). Er empfängt in einer kleinen Hütte auf dem Gelände direkt an einem der Chinampas, der Kanäle in Mexiko-Stadt, die einst die Méxicas, bei uns als Azteken bekannt, lange vor Ankunft der Spanier angelegt hatten. Zurzeit ist nicht viel los. Sommerferien.

Seit fast sieben Jahren gehört Ocampos Leben dem mexikanischen Schwanzlurch. "Sie sind Opportunisten", sagt er. Ließe man den Axolotl-Nachwuchs zu lange mit den Eltern im Brutkasten, würden diese ihre Kinder einfach auffressen, versichert er. Was genau ihn an den Tieren so fasziniert, kann der 50-Jährige nicht richtig ausdrücken. Vielleicht liegt der Reiz gerade im Rätsel. "Es sind schon seltsame Tiere", gibt er zu. Ob und wie sie miteinander kommunizieren, wie genau sie ihre Umgebung wahrnehmen – viel gilt es noch zu erforschen, um den Axolotl besser zu verstehen.

Keiner kommt am Superlurch vorbei

Sommer-Softness

"Macht doch mal was Leichtes", hören wir immer wieder in unserer Wochenkonferenz. Was Schönes, Nettes, was zum Schmunzeln! Die Welt, sie sei doch schon übel genug. Also haben wir die Kontext-Sommerserie ins Leben gerufen. Über die großen Ferien schreiben unserer Autor:innen Geschichten, die sie schon immer mal schreiben wollten. Absurdes, Herzerwärmendes oder Nachdenkliches über zarten Blütenstaub, fremde Planeten und seltenes Federvieh. Die einzige Vorgabe der Redaktion: Das Thema muss leicht und fluffig daherkommen, wie Capri-Eis in einer lauen Sommerbrise. Voilà, hier Folge 3.  (red)

Folge 1: Geschlagene Zeilen
Folge 2: Der zarte Duft von Kiefernpollen

"Spiegel Online" nennt ihn den "Wunderlurch". Das liegt vor allem an seiner beachtlichen Fähigkeit der Wundheilung: Verletzt sich ein Tier, verliert es beispielsweise ein Bein, wächst dieses durch ein internes Zellerneuerungs-Programm automatisch nach. Deswegen ist die Spezies eines der gefragtesten Labortiere der Welt: Ob Hormonforschung oder regenerative Medizin – alle wollen das Geheimnis des Tiers entschlüsseln.

1804 brachte der Naturforscher Alexander von Humboldt Sondergepäck mit nach Europa. Zwei tote Axolotl schickte er ins Nationale Naturkundemuseum nach Paris, wo sie als exotisches Objekt ausgestellt wurden. Damit legte der Deutsche den Grundstein für die Axolotl-Forschung. Doch leider ist die noch immer Äonen davon entfernt, Medikamente für den menschlichen Gebrauch zu entwickeln. "Das Einzige, was wir bisher haben, sind experimentelle Studien", erläutert José Ocampo. Das Genom des Axolotls wurde bereits dekodiert. Mit 32 Milliarden Basenpaaren ist es zehnmal größer als das menschliche. Es sei zwar bekannt, welche Gene für die Regeneration von Körperteilen verantwortlich sind, jedoch nicht, wie diese Gene aktiviert werden. Zudem ist das lurcheigene Wundheilungs-Programm nicht perfekt. José Ocampo grinst leicht, als er die Anekdote auspackt: "Wir hatten hier einen Axolotl, der sich im Halsbereich verletzt hatte. Im Zuge des Regenerationsprozesses wuchs ihm ein Bein aus dem Hals heraus."

Am mythischen Megalurch kommt dagegen kaum einer vorbei. Der Axolotl ist in der modernen Popkultur das wohl am besten repräsentierte Amphibium: Bücher (Helene Hegemann), Serien (Pokémon), Filme (Dune), Computerspiele (Minecraft) und natürlich Literatur; 1956 widmete der argentinische Schriftsteller Julio Cortázar dem Wassertier sogar eine Liebeshymne. Ein Auszug: "Die Zeit fühlt sich weniger an, wenn wir still sind. Es war ihre Stille, die mich fasziniert hat, als ich die Axolotl zum ersten Mal sah."

Ein Lurch, der sich weigert

Der Axolotl ist voller Mythen, was ihn ungemein mexikanisch macht. In unzähligen Medienberichten wird eine Geschichte erzählt, die anthropologisch durchaus sexy klingt: Die Azteken sahen im Axolotl die Inkarnation von Xólotl, dem Gott des Feuers und des Blitzes. Im Vergleich zu anderen aztekischen Gottheiten bereitete ihm der Gedanke des Sterbens und Aufopferns wenig Freude. Er wollte ewig leben, wie der Axolotl. Was übersetzt aus der aztekischen Ursprache Náhuatl "Wassermonster" bedeuten soll. So bekommt der stille Schwanzlurch gleich noch eine tiefsinnige, prähistorische Note.

Doch all das stimmt vielleicht überhaupt nicht. "Die Azteken maßen dem Axolotl keine mythische Bedeutung bei", erklärt José Ocampo. In den wenigen erhaltenen "Códices", wie die Archäologie hier die alten aztekischen Überlieferungen nennt, taucht der Axolotl nicht auf. Allerdings zerstörten die spanischen Eroberer – oft die umfangreichste, aber wenig objektive Quelle für prähispanische Zeitgeschichte Mexikos – unzählige dieser Dokumente. Das ist der Mystizismus des Axolotls: Er existiert seit Ewigkeiten, doch wir wissen noch so wenig über ihn.

Was bekannt ist: In freier Wildbahn ist der Axolotl vom Aussterben bedroht. In den prähispanischen Kanalsystemen zählte man im Jahr 1998 noch 6000 Tiere pro Quadratkilometer. Die letzte Erhebung aus dem Jahr 2015 kommt nur noch auf 36. Die gefährlichste und unberechenbarste aller Spezies ist und bleibt der Mensch: Sinkende Wasserqualität und die Einführung natürlicher Fressfeinde ins Ökosystem haben zum Niedergang des bis zu 30 Zentimeter langen Tiers beigetragen.

An Labortieren herrscht dagegen kein Mangel. Das bringt jedoch ein anderes Problem mit sich, wie Forscher Ocampo erklärt: "Nach einiger Zeit hat man festgestellt, dass durch eine gewisse, nun ja, Blutsverwandtschaft, die genetische Qualität der Ajolotes in Mitleidenschaft gezogen wurde." Die Wasserschläuche der Axolotl-Behälter blubbern beruhigend vor sich hin.

Der Ajolote, so die Schreibweise in seiner Heimat, gehört zur Gattung der Querzahnmolche. Er frisst Insekten, kleine Fische, Garnelen und Würmer und ist ein schwimmendes Paradoxon. Als Salamander-Art sollte er sich ab einem bestimmten Alter eigentlich per Metamorphose vom kiemenatmenden Wassertier zum lungenatmenden Landtier verwandeln. Doch der Ambystoma mexicanum weigert sich. Die Geschlechtsreife erreicht er zwar, doch er morpht kein Bisschen. Er ist der "Peter Pan" der Amphibien, wie der mexikanische Biologe Luis Zambrano González ihn einst taufte. Ein Leben im ewigen Larvenzustand.

Nun sag, wie hältst du's mit dem Lurch?

Chapultepec ist der Central Park Mexiko-Stadts. Die grüne Lunge, das ökologische Herz, ein Stück urbane Natur. Wer nachts mit dem Flugzeug über die Megacity fliegt, sieht Chapultepec unfreiwillig: ein schwarzes, lichtloses Gebiet, das im Ozean an Kunstlicht für Dunkelheit sorgt. Hier gibt es alles: Wald, Schloss, Essen, Filmvorführungen, einen kleinen See mit Tretboot-Vermietung. 100 Jahre Chapultepec-Zoo feiern die Mexikaner:innen dieses Jahr. Ein neues Highlight des Tierparks: das Axolotl-Museum mit dem wenig metaphorischen Namen "Anfibium".

Die Menschenmassen im Axolotl-Fieber werden nur in Grüppchen nacheinander reingelassen. Gleich beim ersten Glaskasten mit schwimmenden Tieren kreischt ein Vater sein Kind an: "SCHAU MAL, EIN DRACHE!" Ein paar Meter weiter schaut der neunjährige Mathias kurz zu seiner Tante hoch, bevor er sein endgültiges Pressestatement liefert: "Mir gefällt der aus Xochimilco am besten."

Insgesamt 17 Axolotl-Arten gibt es in Mexiko. Vier davon sind im Anfibium zu sehen, in 29 Glaskästen lurchen die rund vier Monate jungen Tieren vor sich hin. Ihre aktive Inaktivität ist faszinierend. In einem Kasten liegen sieben dunkelbraune Axolotl mit schwarzen Punkten übereinander; eine massive Lurch-Orgie scheint im Gange, doch so richtig bespaßt sieht keiner der Teilnehmer:innen aus. Ohnehin ist der Fortpflanzungsprozess eher auf Effizienz ausgelegt: Das Männchen legt eine gelatineartige Kapsel mit den Spermien ab wie ein DHL-Paket beim Nachbarn. Das Weibchen entscheidet sich dann für ein bestimmtes Paket. Warum und nach welchen Regeln das passiert, weiß die Wissenschaft noch nicht.

Alejandro Hernández ist gekommen, um seiner fünfjährigen Tochter Isabella den Axolotl zu zeigen. Sie beobachten die lautlosen Lurche. Ihm gefällt das Museum, sagt er, dem Nachwuchs auch. Die Tiere auf den Arm nehmen ist strengstens verboten. Axolotls können sich zwar an Land bewegen, doch zu lange über Wasser setzt sie unter Stress. Dafür dürfen die Kids Gummitiere in großen stahlgrauen Waschbecken anfassen, die beinahe realistisch aussehen. Die glitschig-nasse Textur der Haut, die täuschend echten Gummikörper – die Kinder sind begeistert. Familienvater Alejandro freut sich auch, denn: "Der Ajolote ist ein eigen mexikanisches Tier. Er hat etwas, das Mexiko repräsentiert."

Vor allem aber ist der lauerjagende Lurch wie passives autogenes Training für die Augen. Man möchte sich zur Behauptung versteigen: Kein anderer Lurch beruhigt die Seele des Zuschauenden derart. Und vielleicht knackt die Wissenschaft eines Tages sein regeneratives Rätsel. Auf Kontext-Nachfrage jedenfalls wollte sich keiner der befragten Lurche äußern.


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Ausgabe 709 / Bedeckt von braunem Laub / bedellus / vor 1 Tag 1 Stunde
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