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Migrationsdebatte

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Migrationsdebatte: Volkstherapie, jetzt!
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Ein Deutschland, das ernsthaft glaubt, dass Zurückweisungen an der Grenze seine Probleme löst, ist geisteskrank, meint unsere Kolumnistin.

Uhhhh, sie hat "geisteskrank" gesagt! Sicher, sicher: Mit Pathologisierung ist in Deutschland kein Blumentopf zu gewinnen. Bekanntlich ist der zweite Weltkrieg und die industrielle Massenvernichtung von Millionen Menschen nicht das alleinige Symptom eines narzisstisch gekränkten Kunststudenten und dessen vermutetem fehlenden Ei in der Krachledernen; bekanntlich unterschlägt dieser Ansatz die Schuldfähigkeit des "Führers" einer ganzen Gesellschaft, die ihn bejubelte und tatkräftig mithalf, Millionen Mitmenschen systematisch zu ermorden; bekanntlich waren es gerade die Nazis, die die "Volksgesundheit" aufrecht erhalten wollten, in dem sie sich Abertausenden als "geisteskrank" und "lebensunwert" klassifizierten "Ballastexistenzen" entledigten. Doch genau das ist definitiv geisteskrank. War's schon damals. Aber irgendwie waren Millionen Deutsche cool damit – oder haben von nichts gewusst und kollektiv verdrängt, was sich vor ihren Augen und Ohren abgespielt hat. Was ist das anderes als pathologisches Verhalten?

Historisch betrachtet waren psychiatrische Kategorien immer auch Werturteile der herrschenden Klasse und wurden für die legitimierte Diskriminierung, Unterdrückung und Tötung marginalisierter Gruppen herangezogen. Im 19. Jahrhundert gab es eine "Krankheit" namens "Drapetomanie" – eine "Krankheit, die [N-Wort] weglaufen lässt", die Symptome "betroffener" Sklaven zeichneten sich dadurch aus, dass sie die Arbeit schleifen ließen und versuchten, aus der Sklaverei zu entkommen. Darüber würden heute die meisten Leute den Kopf schütteln. Doch es ändert nichts daran, dass sich Herrschaft und Gesellschaft nicht ohne psychologische und psychiatrische Kategorien denken und verstehen lassen. Vor allem Gesellschaft in der Krise. Denn da kickt die Gruppenpsychose offensichtlich besonders rein.

Männer mit Angst 

Das hat die Frankfurter Schule mit ihren Studien zum Autoritären Charakter gezeigt. Das hat Klaus Theweleit schon vor fast 50 Jahren mit seinen "Männerphantasien" ergründet, als er die sexuelle, psychologische und soziopolitische Vorgeschichte des Nationalsozialismus in der Weimarer Republik untersuchte und einen Menschentyp herausarbeitete, der den Faschismus ermöglichte: Männer, die ihre schiere Angst vor der Körperauflösung, vor ihrem eigenen Inneren, vor dem Fremden (in ihnen selbst) nach außen, in das Andere projizierten und dort bekämpften, weil sie selbst nicht damit klarkamen. Der Kern des Faschistischen ist für Theweleit auch die Unfähigkeit, eigene psychische Probleme zu erkennen und mit ihnen integrativ umzugehen, weshalb sie mit Gewalt und der Zerstörung des Anderen gelöst werden müssen.

Wären Adornos, Horkheimers, Erich Fromms und Theweleits Erkenntnisse zur Genese des Faschismus des Nationalsozialismus nicht schon gruselig genug, werden sie noch umso gruseliger, wenn sich zeigt, wie sie heute wieder auf große Teile eines Landes zutreffen – und sich trotzdem nichts zu ändern scheint. Denn was ist es anderes als psychisch gestört, wenn jedes verdammte Buch zum Faschismus und zur Faschisierung von Gesellschaften bereits geschrieben, jede Wahrheit schon erzählt ist und Menschen im Spätkapitalismus immer noch glauben, dass sich die Krisen, die die kapitalistische Wirtschaftsweise verursacht hat, innerhalb exakt des Systems überwinden lässt, das diese Krisen verursacht hat? Ernsthaft. Wir leben jetzt im Jahr 2025. Es liegt offen da unterm hellsten Stern: Deutschland verdrängt – vor allem in der "bürgerlichen Mitte", also dem Ort, an dem der Legende nach durch bloßes Nachdenken und freundliches Bitten Humanismus, Menschenrechte und die Demokratie entstanden sein sollen, haha – kollektiv seine Schuld an diversen Gesellschafts-, Wirtschafts- und Umweltkrisen, das es (mit-)verursacht hat und findet seine Sündenböcke wieder im Anderen, bei den Fremden.

Es ist eine Massenpsychose im Gange

Und währenddessen rennen die Menschen in die Arme derer, die versprechen, die angeblich Schuldigen zu beseitigen und Deutschland wieder "normal" zu machen. Ganz so, als wäre die Normalität, die sie meinen, nicht eben die Ursache ihrer Probleme. Es ist wirklich zum irre Werden: Selbst wenn der vergangene Woche von der CDU mit AfD- und FDP-Stimmen beschlossene – bislang (!) nicht einmal mit dem Grundgesetz zu vereinbarende – Antrag "für Wohlstand und Sicherheit" nach einer Regierungsübernahme von Merz und der CDU durchgesetzt werden würde, könnte er niemals halten, was es verspricht. Denn das "Sofortprogramm", das mehr Wohlstand durch Massenabschiebungen, dauerhafte Grenzkontrollen und eine landesweite "Deutschland den Deutschen"-Stimmung vorgaukelt, ist nichts anderes als autoritäre, faschistische Hetze, die absolut nichts am gegenwärtigen Elend der hiesigen wie internationalen Verhältnisse ändern würde. Sie hat lediglich den Zweck, einer krisengebeutelte Gesellschaft die Illusion zu geben, dass eine Veränderung zum Besseren innerhalb der Scheißespirale möglich ist, die sich dem absoluten Großteil der gesamten Menschheit immer weiter in Kopf und Fleisch dreht. Komme, was wolle.

Man muss wirklich keine Psychologin sein, um zu erkennen, was für eine Massenpsychose im Gange ist, wenn mehr als die Hälfte der Deutschen aktuell (rund 30 Prozent CDU, 20 Prozent AfD, vier Prozent FDP) davon überzeugt ist, dass Massenabschiebungen von Geflüchteten irgendwas an den Ursachen der gegenwärtigen Krisen ändern; dass sich die Symptome des Klimawandels durch paranoid abgesicherte Grenzen draußen halten lassen; dass Abschottung Butter und Gas billiger machen; dass die größten Opfer von Kapitalismus und Klimakrise die Gründe für die anhaltenden wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Probleme sind; dass kartoffeldeutsche Männer durch eine große Abschiebungsoffensive aufhören würden, jeden Tag ihre (Ex)-Partnerinnen zu töten; dass sich "die Wirtschaft" in Deutschland "retten" lässt und Probleme gelöst werden, wenn "Deutschland den Deutschen" Staatsräson wird. Dabei macht der schwarz-braune Block aus CDU, AfD und FDP, der sich nun in der heißen Phase des Bundestagswahlkampfs manifestiert, überhaupt keinen Hehl mehr daraus, dass seine Politik nur denen, die sie machen und den reichsten zehn Prozent des Landes zugute kommt, während er auf den Rest scheißt.

CDU, AfD oder FDP haben sich allesamt für die Schuldenbremse ausgesprochen; alle drei Parteien wollen aber gleichzeitig noch mehr militärisch aufrüsten. Was das bedeutet, ist klar: Würde die CDU ihre Pläne für "mehr Wohlstand und Sicherheit" als Regierungspartei durchziehen, bliebe ein Wirtschaftswachstum selbstverständlich aus, weil auf Dauer schlichtweg Personal fehlen würde, das sich für die Hoffnung auf einen deutschen Pass in mies bezahlter Drecksarbeit knechten ließe. Das wiederum würde dazu führen, dass zur Refinanzierung der Rüstungsausgaben noch mehr Kürzungen im sozialen Sektor eingeleitet werden müssten; dass das Renteneintrittsalter erhöht werden müsste; dass Zuschüsse zu Rente und Krankenversicherung geringer würden. Außerdem würde es zu Umsatzsteuererhöhungen kommen, Bürgergeldempfänger, Alleinerziehende und chronisch Kranke würden noch mehr drangsaliert werden, soziale Einrichtungen wie Jugendhäuser, Frauenhäuser oder Kulturzentren würden wegrationalisiert, um die staatlichen Finanzlöcher zu stopfen. Das alles, während Unternehmen niedriger besteuert und Solidaritätszuschläge für Spitzenverdienende abgeschafft werden würden. "Deutschland aber normal" hieße auch mit der CDU und FDP (Gott bewahre!) am Steuer: Reiche werden reicher, weil Arme noch ärmer gemacht werden.

Genial: Positionen von Rechtsextremen übernehmen

Ahja, und dann hat Deutschland ja aktuell noch einen SPD-Kanzler, der sich vor über einem Jahr schon auf Hochglanzmagazinen als harter Chefabschieber hat inszenieren lassen, um gemeinsam mit den Grünen der Normalisierung von rechten "Remigrations"-Plänen den Teppich auszurollen. Ihr genialer Plan, die Positionen von Rechtsextremen zu übernehmen, damit niemand mehr Rechtsextreme wählen muss, ging – wer hätt's gedacht – nicht auf: Jetzt kann Deutschland am 23. Februar eine SPD und Grüne wählen, die sich in Sachen Flüchtlingspolitik so dermaßen das soziale Rückgrat verbogen haben, dass sie für Menschen wählbar wurden, die rechte Politik gut finden, aber sich noch etwas schlecht dabei fühlten, bevor sich beide Parteien nun schrecklich empörten, dass ihre Normalisierung von Ausländerfeindlichkeit in der weiteren Radikalisierung der CDU und FDP mündete.

Es liegt alles offen da. Nichts ist mehr verborgen. Die Refaschisierung der Gesellschaft ist systemimmanent und verhält sich relational zum Krisengrad. Ihre Wirkungsweisen sind unzählige Male beschrieben. Sie ist umkehrbar. Auch das ist mehrfach über viele Jahre hinweg immer wieder aufgezeigt worden. Und trotzdem ist Deutschland an einem Punkt, an dem sich ein unverbesserliches Täterland seinen Verteidigungskampf deutscher Kultur wieder als "Notwehr" zurechtschwurbelt und sich, wie damals zu Beginn des Ersten Weltkriegs 1914, im Glauben wähnt, Deutschlands Freiheit zu verteidigen, in dem es Belgien abfuckt.

Auch damals war Deutschland davon überzeugt, gerecht zu handeln. Im "Manifest der 93" vom Oktober 1914 veröffentlichten 93 Intellektuelle – darunter auch Max Planck und Wilhelm Röntgen – einen Abgesang auf den deutschen Militarismus und ein "Kulturvolk, dem das Vermächtnis eines Goethe, eines Beethoven, eines Kant ebenso heilig ist wie sein Herd und seine Scholle". Fast die komplette Kunst-, Kultur- und Wissenschaftsszene leugnete auf gruselig aktuelle Weise das Massaker von Dinant und erklärte Deutschland zum missverstandenen Opfer, das ja bloß die europäische Zivilisation vor "Mongolen und [N-Wort]" schützen wolle, welche von Russen und Serben "auf die weiße Rasse gehetzt" werden würden. Der Beginn einer zwei Weltkriege überdauernden, bis heute anhaltenden Selbstlüge eines paranoiden Landes, das sich auch noch mit der allerletzten Schandtat im edlen Verteidigungskampf eines Kulturvolks wähnt. Wenn das nicht geisteskrank ist, was ist es dann?

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13 Kommentare verfügbar

  • kid loco
    vor 2 Wochen
    Antworten
    Eine hervorragende Zusammenfassung der Verhältnisse - Danke, Frau Wolf. Es bleibt der ewige Kampf des Individuums gegen die Umstände, wie es schon die alten Griechen wussten.
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