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Demos gegen "die Mitte" jetzt!

Perle Europas

Demos gegen "die Mitte" jetzt!: Perle Europas
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Deutschland macht die Grenzen dicht und niemanden juckt's. Die "Mitte der Gesellschaft", die erst vor Kurzem massenweise "gegen rechts" auf die Straßen ging, hat offenbar fertig.

Die AfD hat's geschafft: Die "Brandmauer gegen rechts" der sogenannten bürgerlichen "Mitte" ist gefallen. Dass sie nie wirklich existierte, war all denen klar, die Faschisierungspotenzial nicht für die Anziehungskraft schwäbisch-alemannischer Fasnet halten. Dass sie sich aber innerhalb von zwei Jahren in Grenzkontrollen manifestieren würde, kam dann doch überraschend. Deutschland kontrolliert seit Montagmorgen wieder seine Grenzen. Aus schierer Panik vor Flüchtlingen. Parteiübergreifend. Völlig ungeachtet der Tatsache, dass in Deutschland nicht drei Prozent Geflüchtete schuld an der Gegenwartsscheiße sind, sondern Klimawandel, kaputt gesparte Gemeinden, Sozial- und Bildungssysteme, (Stellvertreter-)Kriege, geopolitische Interessenpolitik und eine Ökonomie, die für Wachstum über Leichen geht. Aber hey, wenn's in den 1990ern mit dem "Asylkompromiss" schon mal so toll geklappt hat, "den Flüchtlingen" die Schuld für alles mögliche derart in die Schuhe zu schieben, dass sie sogar dafür angezündet wurden, klappt's 2024 bestimmt auch wieder mit der Sündenbockpolitik im demokratischen Kampf gegen Rechtsextremismus.

Jetzt hat die Regierung aus SPD, Grünen und FDP, die sich Ende 2021 "mehr Fortschritt wagen" in die Koalitionspapiere geschrieben hatte, also einen der größten Schritte in die Vergangenheit gemacht, die Hauptforderung der deutschen Rechtsextremen umgesetzt – und sie in die Politik der ach so demokratisch bewegten "bürgerliche Mitte" überführt: Kein Mensch soll mehr über die deutschen Grenzen kommen. Jedenfalls keiner, der nicht mit dem richtigen Pass und der richtigen Hautfarbe ausgestattet ist. Die Perle Europas, die ihre überlegenen demokratischen Werte wie eine Monstranz vor sich herträgt, hat am Montagmorgen offiziell den Rückwärtsgang eingelegt und gemeinsam entschieden, dass die Abwehr von Migrantinnen und Migranten der beste Weg sei, Deutschland, ja Europa vor dem jähen Untergang zu retten.

Brandmauer in Trümmern

Oder vor "Umvolkung", "Volkstod" oder sonstigen Hirngespinsten, mit denen rechtsradikale Hetzer spätestens seit das Wort "Remigration" mit den "Correctiv"-Enthüllungen populär wurde, immer aggressiver auftraten. Irgendwann übernahmen mit Friedrich Merz (CDU) auch Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD), Grüne und FDP rechte Losungen auf ihren Wahlplakaten, und die Brandmauer lag in Trümmern. Man könnte fast lachen, wenn es nicht so traurig wäre, wie sich selbst hiesige CDU-Bäuerchen wie Oberbürgermeister Frank Nopper im behüteten und historisch migrantisch geprägten Stuttgart von der AfD vor sich hertreiben lassen. Oder wie sich Deutschland Jahr für Jahr als drittgrößte Volkswirtschaft der Welt feiert, dann 41 Milliarden in den Ukraine-Krieg investiert, nur um schließlich Bürgergeldzahlungen an ukrainische Kriegsflüchtlinge zu beweinen. Zum Glück kann man sie ja aus bedingungsloser Solidarität mit der Ukraine als Kanonenfutter wieder abschieben. Ein Flüchtling ist in Deutschland eben nützlich oder tot – oder beides.

Weil ein winziger Teil eines kleinen Anteils an Menschen, die Schutz vor Krieg und Verfolgung suchen, in den vergangenen Monaten Menschen in Deutschland getötet hat, drehen nicht nur Rechtsradikale durch. Sondern mit ihnen auch die "ganz normalen Leute". Also die, die vor ein paar Monaten noch zusammen mit Vertreterinnen und Vertretern von "Mitte"-Parteien enthusiastisch "gegen rechts" auf die Straße gegangen sind und sonst keinen großen Aufriss machen, wenn jeden zweiten Tag in Deutschland eine Frau von ihrem (Ex-Partner) getötet wird. Weil Rechtsruck aufhalten und so. Weil die AfD eine Nazi-Partei ist und selbst aus wirtschaftlicher Sicht "der Untergang" Deutschlands wäre, diesdas. Denn wer putzt dann deutsche alte Ärsche und macht die ganzen mies bezahlten Drecksjobs, wenn die ganzen Ausländer "remigriert" werden – so hört sich ein oft verwendetes Gutsherrenargument subjektiv progressiver "Mitte"-Politikerinnen und Politiker für Migration an. Dass diese "Mitte" noch gefährlicher ist als die AfD, zeichnete sich schon ab, als vereinzelte Gesichter aus CDU/CSU und FDP nicht an Veranstaltungen "gegen rechts" teilnehmen wollten, um Linken so richtig eins auszuwischen (genial).

Da war Bundeskanzler Scholz schon auf dem "Stern"-Cover gewesen ("Ich neige nicht zum Rumheulen") und hatte schnellere und härtere Abschiebungen gefordert. Dann ging's Schlag auf Schlag. Sich selbst als moderat und vernünftig betrachtende Superdemokraten und Parteien, die sich für das "Herz der Gesellschaft" halten (Christdemokraten), wurden immer autoritärer und autoritärer. Und weil man Rechtsradikale in Deutschland bekanntlich am besten loswird, indem man ihre Sprache oder gleich ihre Positionen übernimmt, haben bald darauf auch Grüne, SPD, FDP und die neue Wagenknecht-Sekte von "konsequenter Rückführung" gesprochen. Oder vom "Schutz der deutschen Bürger", von der "Sicherung der Außengrenzen", "beschleunigten Asylverfahren", "Belastung des Sozialsystems durch Migration" – und damit alte Positionen aus der rechtsextremen Bubble ("die Ausländer nehmen den Deutschen die Arbeit weg") in großen Teilen der Bevölkerung renormalisiert.

Aber wen juckt's?

Auch in Stuttgart findet sich ein besonders groteskes Beispiel dafür, wie das "Herz der Gesellschaft" sich als sein Arsch entpuppt hat. Dort soll die japanische Kirchenmusikerin Mizuki Ikeya abgeschoben werden. Seit neun Jahren lebt sie in Stuttgart. Spricht perfekt Deutsch und hat eine Anstellung bei der Kirche. Doch statt sich für seine Selbstbeweihräucherungskanäle in den Sozialen Medien für Ikeyas Bleiberecht einzusetzen, hatte Oberbürgermeister Nopper besseres zu tun und flanierte mal wieder (never forget: "Grausig, grausig, was können wir da tun?") mit hohen Polizeibeamten in einem nächtlichen Rundgang durch die Stuttgarter Innenstadt. Um danach mit einem "Maßnahmenkatalog" Propaganda für legales Racial Profiling und die einfachere Abschiebung Minderjähriger zu machen.

Der einzige, den das und die Grenzkontrollen in Stuttgart zu jucken scheint, ist der linke Stadtrat Luigi Pantisano, der sich kurz vor den Grenzkontrollen mit einem Mikro direkt vors Rathaus stellte und Tacheles redete. Im Rest der Republik: rollende Strohballen im Wüstenwind. Kein Hashtag zum bisherigen Backlash des Jahres in Deutschlands Flüchtlingspolitik. Wo ist er jetzt, der "Schulterschluss der Demokraten"? Wo sind die Demos gegen die "Allianz der Mitte", die sich für Menschenrechte und eine humane Flüchtlingspolitik einsetzen wollte? Als die "Correctiv"-Recherche über die AfD Anfang des Jahres veröffentlicht wurde, ging die bürgerliche Mitte noch empört auf die Straßen. Tausende, ja Millionen Menschen in Deutschland und Österreich demonstrierten "gegen rechts". Auch wenn einem Bürgerbraten aus "ganz normalen Leuten" nie zu trauen ist, hing eine kurze Zeit lang so etwas wie Hoffnung in der Luft – könnte da aus der "Mitte der Gesellschaft" gerade ein zartes antifaschistisches Pflänzchen aus der Pappmaschee-Brandmauer erwachsen?

Das Narrativ der "Mitte" ist ein schlechter Witz

Natürlich nicht. Der nationalistische Reflex kickt. Die Masse schweigt oder ist müde oder im Urlaub, I don't know. "Grenzschutz" klingt plötzlich nicht mehr nach Abschottung, sondern nach "vernünftiger Politik". Die traurige Wahrheit ist eben: Es gibt und gab nie eine "bürgerliche Mitte", die sich nicht irgendwann hat faschisieren lassen. Die wenigen Stimmen, die – fairerweise gesagt, auch bei Grünen und Sozialdemokraten – noch aufbegehren, werden ignoriert, als naiv abgetan oder geteert und gefedert. Das Narrativ der "Mitte" ist ein schlechter Witz. Eine rückgratlose Kasperlefigur, die nur darauf wartet, dass ihr ein starker Arm in den Arsch fährt, um sie aufrecht gehen zu lassen.

Dabei gibt es Stimmen, die sich gegen diesen Kasperlekurs stemmen. Sie werden nur nicht gehört. Die "Seebrücke", eine der wichtigsten zivilgesellschaftlichen Organisationen, die sich für sichere Fluchtwege und die Seenotrettung einsetzt, schrieb am Montagmorgen auf X zum Kotau vor dem rechten Rand: "Was wir in den letzten zwei, drei Wochen erlebt haben, ist an Bodenlosigkeit nicht mehr zu überbieten. Fast täglich werden neue Asylrechtsverschärfungen und immer gewaltvollere Maßnahmen unter dem Deckmantel der ‚Sicherheit' gegen geflüchtete Menschen ins Spiel gebracht und umgesetzt. […] Während das Innenministerium einen Sicherheitsnotstand ausruft, um eine Grundlage zu haben, um an allen deutschen Landesgrenzen Grenzkontrollen einzurichten, rufen wir unseren eigenen Notstand aus, denn wo die Politik versagt, muss die Zivilgesellschaft handeln." Recht haben sie, verdammt nochmal.

Doch ein Blick auf die Kommentare gibt nicht allzu viel Anlass zur Hoffnung, dass diese Zivilgesellschaft sich massenwirksam erheben wird: "Ich freu mich schon auf Abschiebefrachter fahren" oder "Wir hoffen, das Hochwasser schwemmt sie zurück ins Mittelmeer" sind nur die Spitze des verrohten Scheißebergs, der sich obligatorisch unter Beiträgen von Organisationen auftürmt, die sich für Flüchtlinge einsetzen. Während Rechte laut und aggressiv hetzen, schweigt das "Herz der Demokratie" und nimmt die humanitäre Krise an den Grenzen Europas und Deutschlands mit stoischer Kälte hin wie eine Naturkatastrophe. Und selbst für eine solche regen sich in "der Mitte" mehr solidarische Gefühle, wenn deutsche Keller volllaufen.

Ob sich das jemals ändern wird? Ich persönlich will es glauben. Sonst könnten wir den Laden hier morgen dicht machen. Solange sich die "Mitte" einer selbsterklärten "wehrhaften Demokratie", sofern es die überhaupt gibt, nicht die Eier wachsen lässt, um auf die innere Demonstration gegen sich selbst zu gehen, wird sie genau das tun, was sie im Zweifel eben tut – auch wenn sie hinterher vorgibt, von nichts gewusst zu haben.

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3 Kommentare verfügbar

  • bedellus
    vor 2 Wochen
    Antworten
    Was nichts daran ändert, daß richtig oder falsch nicht abstimmungsabhängig definierbar ist.
    Wie war das noch mit der Unmöglichkeit, soviel zu fressen wie man kotzen möchte?
    (Max Liebermann)
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