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Rettungsdienstgesetz

Strobl und die Sterbequote

Rettungsdienstgesetz: Strobl und die Sterbequote
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Baden-Württembergs Innenminister lobt sich für sein neues Rettungsdienstgesetz – das Fachleute zerpflücken, weil es schon bei der Einsatzplanung von Todesfällen ausgeht und nur in "wirklichen Notfällen" schnell sein will. Damit befasst sich nun das Bundesverfassungsgericht.

Den Unterschied zwischen Herz-Kreislauf-Stillstand und Schlüsselbeinbruch erklärt Baden-Württembergs Innenminister so: Einmal seien laut Thomas Strobl (CDU) wirklich Sekunden entscheidend, beim anderen Mal sei es "im Grunde genommen egal, ob der Rettungswagen nach zehn oder 15 Minuten eintrifft oder ob der Patient nach 15 Stunden behandelt wird". Im zweiten Fall brauche es jedenfalls gar keinen RTW, wie Strobl als politisch zuständiger Kenner Rettungswagen abkürzt. Einen solchen müsse man nämlich "nicht wegen jedem Lohkäs'" rufen. Und einen Notarzt schon gar nicht.

Mal ganz davon abgesehen, dass niemand mit einer für gewöhnlich schmerzhaften Fraktur 15 Stunden unbehandelt bleiben möchte und sollte, ist völlig ungeklärt, wer sich in einer derartig überlangen Zeitspanne darum kümmert, Begleitverletzungen an Lunge, Gefäßen oder weitere Brüche zum Beispiel von Rippen auszuschließen. Geradezu fahrlässig ist aber, dass der Innenminister ausgerechnet das Beispiel Schlüsselbeinbruch bei der Verabschiedung des neuen baden-württembergischen Rettungsdienstgesetzes vorbringt – obwohl Fachleute in der obligatorischen Anhörung im Landtag glaubhaft dargelegt hatten, warum solche Frakturen lieber schnell untersucht werden sollten.

So etwa der Mannheimer Professor Andreas Pitz. Der ist zwar kein Mediziner, sondern Sozialrechtler, aber trotzdem willig, sich realistisch mit einem Schlüsselbeinbruch zu befassen und den möglichen Abläufen, wenn Passant:innen die Leitstelle alarmieren mit der Mitteilung: "Da hinten ist jemand vom Fahrrad gestürzt und schreit ganz laut." Da sei es unmöglich festzustellen, welche Folgen dieser Sturz haben könnten, welche Frakturen genau vorliegen, und deshalb "muss man unheimlich aufpassen, wenn bei Vorgaben für die Einsatzplanung fertige Diagnosen unterstellt werden". Dennoch ermöglicht das kurz vor der Sommerpause im Landtag beschlossene neue Gesetz, noch vor dem Eintreffen der Rettungskräfte zu differenzieren: In "wirklichen Notfällen", wie es in den Worten des Staatsministeriums heißt, sollen RTWs in 95 Prozent der Fälle innerhalb von zwölf Minuten am Unfallort sein.

Pitz war bei Weitem nicht der einzige Experte mit erheblichen grundsätzlichen Bedenken. Und er ist dafür mitverantwortlich, dass sich jetzt das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe mit den Neuregelungen beschäftigt. Die Winnender Björn Steiger Stiftung, die sich selbst als "Thinktank des Rettungswesens" beschreibt, sieht Grundrechte verletzt, "da die Zuständigkeiten und Strukturen bei Notfällen nicht umfassend geklärt sind und weiterhin nicht internationalen Standards entsprechen".

Stiftungspräsident Pierre-Enric Steiger kann Geschichten mitten aus dem Leben erzählen. Zum Beispiel, dass sein Bruder Björn 1969 als Neunjähriger nach einem Fahrradunfall auf dem Heimweg vom Schwimmbad starb, weil eine Stunde lang kein Rettungswagen kam. Oder wie die Eltern die Stiftung gründeten mit Unterstützung unter anderem von Hilda Heinemann, der Gattin des damaligen Bundespräsidenten Gustav Heinemann (SPD). Oder von den größten Erfolgen, worunter die bundesweite Einführung der Notrufnummern 110 und 112 der bekannteste ist.

Menschen sterben wegen der Planungsvorgaben

Zur Gegenwart in Baden-Württemberg passen noch ganz andere Erkenntnisse. Schon in der denkwürdigen Landtagsanhörung wurde Paragraf sechs, Absatz zwei, Satz zwei aufgespießt: Als Zielerreichung sei planerisch für Einsätze, bei denen "akut höchste Eile geboten" ist, um Menschenleben zu retten oder schwere gesundheitliche Schäden abzuwenden, für "bestimmte Notfalleinsätze eine Prähospitalzeit von nicht mehr als 60 Minuten in 80 Prozent anzusetzen". Gerade weil es jede:n jederzeit treffen kann, hat Erik Popp, seit vielen Jahren Notfallmediziner am Universitätsklinikum in Heidelberg, die Botschaft ins Alltagsdeutsch übersetzt. "Das heißt konkret", so Popp am Beispiel Herzinfarkt im Plenarsaal und in Anwesenheit des Innenministers, "ich plane von vornherein so, dass ich einen von fünf Patienten nicht rechtzeitig in die Klinik bringe." Es sei also eine "Sterbequote" gesetzlich verankert, erläutert Steiger, "es sterben jeden Tag Menschen allein wegen der Planungsvorgaben".

Strobl dagegen rühmt es als entscheidende Verbesserung, "dass das erste Rettungsmittel am Notfallort in 95 Prozent der Fälle innerhalb von zwölf Minuten eintrifft". Die bisherige Hilfsfrist mit einer Zeitspanne von 10 bis 15 Minuten werde damit ersetzt. "Der plötzliche Herztod ist nach 12 Minuten definitiv, da braucht es keine Rettungskräfte mehr", hält Steiger in der Begründung für die Verfassungsbeschwerde dagegen, der inzwischen weitere Verbände beigetreten sind. Klar sei aber, dass "der Rettungswagen beim plötzlichen Herztod gar nicht das erste entscheidende Rettungsmittel ist, sondern die durch die Leitstellen telefonisch angeleitete Reanimation, die in fast allen Fällen schneller als der Rettungswagen ist."

Laut dem Innenministerium müsse Baden-Württembergs Rettungssystem "weder den nationalen noch den internationalen Vergleich scheuen". Doch in Österreich findet nach den offiziellen und von Steiger bestätigten Zahlen in hundert Prozent der Fälle genau diese telefonisch angeleitete Reanimation statt. In Deutschland liegt die Quote bei 36 Prozent. Die Frage nach dem Warum ist rasch beantwortet: Gerade in Baden-Württemberg ist die Struktur dieser Leitstellen defizitär, denn sie sind zu klein und nicht mehr zeitgemäß ausgestattet, was sich gerade am Beispiel der Telefonreanimation zeigt. Dort mangelt es an der benötigten Zeit und einer dementsprechenden personellen Ausstattung. Nicht zuletzt wenn die Helfer:innen am anderen Ende der Leitung doch nichts mehr ausrichten können, braucht es eine Pausenregelung für die Mitarbeiter:innen, die den Tod der Patient:in in einer kurzen Auszeit vom stressigen Alltagsbetrieb verarbeiten müssen.

Der Stiftungspräsident hat noch ein weiteres Beispiel für die Unzulänglichkeiten im Südwesten parat. Auch nach dem neuen Rettungsdienstgesetz sei die Ausstattung von Rettungswagen nicht grundsätzlich geregelt. Die Konsequenz kann tödlich sein, wenn zum Beispiel Medikamente gegen eine Lungenembolie nicht vorhanden sind, weil sie nicht überall vorhanden sein müssen. Ein Sanitärer hat Steiger kürzlich berichtet, dass ein Patient – ein auf dem Transport in die Klinik verstorbener Familienvater unter 50 – mit einem Wohnort nur 200 Meter weiter über die Kreisgrenze mit größter Sicherheit überlebt hätte, weil er dann schon auf der Fahrt hätte behandelt werden können.

Strobl nennt die Kritik "nicht nachvollziehbar"

In Baden-Württemberg verwaltet sich der Rettungsdienst selbst. Dabei sei unklar, wie der Staat sicherstellen will, dass die Bürgerinnen und Bürger innerhalb der erforderlichen Frist bei Notfällen gerettet würden, kritisierte Pilz ebenfalls schon in der Anhörung. Zu viel werde dem Innenministerium und den Hilfsorganisationen ohne gesetzliche Vorgaben frei überlassen. Mit einem unmissverständlichen Hinweis – "Ich wünsche viel Erfolg bei der Überarbeitung" – verabschiedete sich der Professor aus dem Landtag. Mit einer Fundamentalkritik meldete er sich nach der Verabschiedung und zur Begründung der Verfassungsbeschwerde wieder: "Wie das neue Rettungsdienstgesetz den grundrechtlichen Anspruch [auf Rettung] gewährleisten will, ist völlig unklar."

An allen Abgeordneten von Grünen und CDU, vor allem aber am Innenminister, prallten noch so unmissverständlich vorgetragene Hinweise ab. Strobl lobt stattdessen weiterhin, wie Neuland betreten und vom Patienten her gedacht werde und meint, Baden-Württemberg nehme eine Vorreiterrolle ein. Noch eine Behauptung, der Fachleute massiv widersprechen – unter anderem mit Verweis auf die Tatsache, dass Baden-Württemberg eine Experimentierklausel verabschiedet hat, um verschiedene Abläufe und Instrumente zu erproben, die in anderen Bundesländern längst Standard sind. Bände spricht die Reaktion auf die Ankündigung der Verfassungsbeschwerde, denn der Innenminister nennt die Kritik der Björn Steiger Stiftung "nicht nachvollziehbar". Aber es zeichne "unseren Rechtsstaat aus, dass auch Gesetze gerichtlich überprüft werden können", heißt es eher gönnerhaft.

Die Opposition im Landtag sieht sich in ihrer Kritik bestätigt. Der Innenminister habe "alle unsere Warnungen in den Wind geschlagen und damit das gesamte Rettungswesen im Land sehenden Auges in diese Situation größter Rechtsunsicherheit gestürzt", sagt der FDP-Fraktionsvize Nico Weinmann und macht darauf aufmerksam, wie sich die Eintreffzeiten von Rettungswagen mit der neuen Regelung sogar verlängern können: "In der alten Fassung galten ab Eingang der Notrufmeldung maximal 15 Minuten, während jetzt vom Zeitpunkt, zu dem der Telefonhörer aufgelegt wird, bis zum Eintreffen des ersten Rettungsmittels bis zu zwölf Minuten vergehen dürfen."

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