Es ist schon absurd: Kein Tag vergeht, ohne dass auf allen erdenklichen Social-Media-Plattformen irgendwelche Leute "Ja aber was ist mit den Massenvergewaltigungen durch Flüchtlinge???" oder ähnliches unter ein x-beliebiges Thema rotzen – während genau dieselben Leute sinngemäß sowas wie "ja, selber schuld" ins Netz rülpsen, wenn Frauen erzählen, was sie als Fans in der "Row Zero" der Band Rammstein erlebt haben. Ihre Erfahrungen schildern betroffene Frauen aktuell und eindrücklich im sehr guten Podcast "Row Zero" von NDR und "Süddeutscher Zeitung". Ein Rechercheteam zeichnet nach, wie das System funktionierte. Dabei wurden gezielt weibliche Fans für Sex rekrutiert. Laut Podcast-Beschreibung geht es um Macht und Missbrauch und die Frage, ob Till Lindemann seinen Status als Superstar ausgenutzt hat – er selbst bestreitet das.
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Wie lange der Podcast noch zu hören sein wird, bleibt abzuwarten. Medien halten sich mit der Berichterstattung jedenfalls schon prophylaktisch zurück. Niemand hat Bock, sich mit Staranwalt Christian Schertz – über den es übrigens aktuell gerade eine schlechte "Dokumentation" in der ARD zu sehen gibt – anzulegen und sich sackteure Abmahnungen und Gerichtsverfahren einzufangen. Mit "irgendwelche Leute", die das mit den Flüchtlingen und Vergewaltigungen ins Netz rülpsen, meine ich natürlich vor allem wütende Männer, für die es in den USA schon über zehn Jahre lang den durch den Autor Michael Kimmel geprägten Begriff "angry white men" gibt. Mit Deutschlandflaggen im Profil. "Stolzmonat"-Fans und Abschiebe-Fanatiker. "Ganz normale" Patrioten, die vollkommen besessen von Ausländern sind, die sich aktuell angeblich in Horden völlig ungestört durch ganz Deutschland vergewaltigen.
Bereits nach der Kölner Silvesternacht im Jahr 2015 waren sie plötzlich ob der Sicherheit "ihrer" deutschen Frauen besorgt. Die "Sex-Syrer" wurden von der "Bild"-Zeitung erfunden. Die Kölner Oberbürgermeisterin schlug Frauen vor, Fremden gegenüber einfach "eine Armlänge Abstand" zu halten, um nicht Opfer eines sexuellen Übergriffs zu werden. Frauen, die darauf hinwiesen, dass die meisten sexuellen Übergriffe meist nicht angezeigt in der Familie und im privaten Umfeld stattfinden und keine Erfindung von Migranten sind, wurden von den angry white men and women wegdiskutiert und machten sie noch wütender.
Fast zehn Jahre später trug vor allem die AfD dazu bei, dass das Schreckensbild des vergewaltigenden Ausländers, der über deutsche Frauen herfällt, in allen Gesellschaftsschichten verfangen hat. Die Gewalttätigen und sexuell Übergriffigen, so das Selbstverständnis der eingebildeten anständigen Deutschen, das sind immer die anderen. Fremde. "Perverse". Homosexuelle. Ausländer. Während eine bloße Telegram-Nachricht in irgendwelchen "Selbstdenker"-Chatgruppen mit irgendeiner quellenlosen "Statistik" reicht, um Stolzianern den Schaum vorm Mund blubbern zu lassen, zaubern ihnen zahlreiche junge Frauen, die vom frauenverachtenden System "Row Zero" bei Rammstein-Konzerten erzählen, ein schadenfrohes Grinsen ins Gesicht.
Übergriffe von Geflüchteten: glaubhaft
Frauen, die angeben, von deutschen Männern vergewaltigt oder in anderer Weise sexuell misshandelt worden zu sein, sind in der Gedankenwelt von Menschen, die gerne rechte und "alternative Medien" konsumieren, vor allem eins: Lügnerinnen, dumm oder selbst schuld daran. In jedem Fall wird stets reflexhaft an ihrer Glaubwürdigkeit gezweifelt und der Aggressor verteidigt. Und das ist das Interessante: Frauen, die etwa in der Silvesternacht 2015 Opfer sexueller Übergriffe waren, wurde dergleichen von denselben Leuten später nicht unterstellt. Sie waren sofort glaubhaft. Weil sich diese Übergriffe wunderbar für Fremdenhass oder Hass auf andere marginalisierte Menschengruppen instrumentalisieren ließen. Doch wenn einflussreiche Männer sich über Jahre hinweg mutmaßlich missbräuchliche Systeme bauen, in denen ihnen junge Frauen zugeführt wurden, dann funktioniert das nicht. Dann kickt der ganz banale Frauenhass plötzlich wieder rein. Rape Culture par excellence. Dann müssen es die Weiber ja nämlich gewollt haben. Dann wird Missbrauch einfach deutsches Kulturgut. Schließlich hat Lindemann ja – bislang – nichts Sexuelles getan, das gesetzeswidrig ist. Genau wie Julian Reichelt, dem vorgeworfen wird, seine Position als "Bild"-Chefredakteur jahrelang für sexuelle Beziehungen ausgenutzt zu haben. Da können noch so viele Frauen noch so lange eidesstattlich unter größten Schamgefühlen und gesellschaftlicher Ächtung versichern, dass sie die Wahrheit gesagt haben: Solang's kein Flüchtling war, sind diese Frauen bei "unsere Frauen" in Deutschland nicht mitgemeint.
Und das ist die perfide, doppelt frauenfeindliche und gleichzeitig rassistische Logik der Rape Culture: Wenn sich Frauen nicht für ein rechtes Weltbild instrumentalisieren lassen, sind sie unglaubwürdig. Wenn sie das rechte Weltbild kritisieren, dann wird ihnen regelmäßig eine Vergewaltigung durch Flüchtlinge gewünscht. Nur echte deutsche Frauen können also Opfer werden. Frauen, die ein Gesellschaftssystem anprangern, in dem deutsche Väter, Onkel, Großväter ihre eigenen Kinder, Nichten oder Enkel sexuell missbrauchen. In dem männliche Rockstars ihre Fans und Medienimperiums-Prinzen beruflich abhängige Kolleginnen sexuell ausnutzen, sind dumme Schlampen. Nestbeschmutzerinnen. Störenfriedas des Patriarchats. Gekränkte Psychotanten, die aufgrund diverser unterstellter pathologischer Dispositionen die Karriere eines erfolgreichen Mannes zerstören wollen. Denn wo Macht ist, ist Recht, ist Wahrheit, ist des Deutschen viriler Stolz. Und den lässt er sich nicht von irgendwelchen Frauen nehmen, die rumzicken, weil der Chef sie ficken will. Nicht in den Kommentarspalten auf X. Nirgendwo.
Bereits vor einem Jahr saß der deutsche Musikmanager Thomas M. Stein bei "Hart aber Fair" und war sich sicher, dass an den ganzen Vorwürfen gegen Lindemann ja überhaupt nichts dran sein könne. "Wie der sich auf der Bühne ausarbeitet, wie der mit 60 Jahren über die Bühne rennt, da soll der plötzlich runtergehen und noch jemanden beglücken?", faselte Stein sichtlich belustigt daher. Schließlich ist er in den wirren Köpfen von Stolzdeutschland nicht "Allahu Akbar" schreiend mit einer Machete aus dem Busch gesprungen und hat sich wie ein Tier über eine blond bezopfte Frau im Dirndl hergemacht. Um die Frauen und ihre sexuelle Selbstbestimmung geht es überhaupt nicht. Sie fungieren lediglich als Token, als Alibi für nationalistische Eigentumsfantasien. Denselben Effekt kann man etwa auch beobachten, wenn sich mal wieder eine wütende Horde Männer im Internet über Werbung, Filme oder Serien aufregt, in denen eine weiße Frau mit einem nicht-weißen Mann in eine Beziehung gescriptet wird. Dann wird sich über "Wokeness" und "Multikulti" echauffiert. Dann hagelt es Verschwörungstheorien darüber, wie "die Deutschen" ausgelöscht werden sollen. Fun Fact zwischendurch: Dieselbe Art von Männern findet es übrigens auch "nicht historisch korrekt", dass es in der Amazon-Fantasyserie "The Lord of the Rings: The Rings of Power", die die Vorgeschichte von J. R. R. Tolkiens "Der Herr der Ringe" und "Der Hobbit" erzählt, schwarze Elben und Hobbits mit dunkler Hautfarbe gibt, haha.
Was erlaubt ist, kann nicht unmoralisch sein?
Es ist einfach vollkommen absurd, was zahlreiche Männer für "korrekt" halten, weil's ja "gesetzlich nicht verboten" ist. Ganz so, als handele es sich beim Gesetz um eine Offenbarungsreligion oder eine Naturkonstante. "Wenn's das Gesetz erlaubt", sehen viele Männer und auch leider einige Frauen mit internalisiertem Frauenhass kein Problem in maximal schädlichen Handlungen. Und dazu braucht man nicht einmal in irgendwelche Kaninchenlöcher von "Alternativmedien" abtauchen. In der anfangs erwähnten ARD-"Dokumentation" zu Christian Schertz kann der bewunderte und gefürchtete Staranwalt, der auch Lindemann aktuell vertritt, unwidersprochen erzählen, dass die Moral "im Gesetz" stehe – also, dass es keine Moral außerhalb des Gesetzes gäbe. Wenn's gesetzlich erlaubt sei, dann kann es für Schertz nicht unmoralisch sein. Wow. Als hätte Schertz nie irgendwas von Rechtsphilosophie und Ethik gehört und wisse nicht, wie Gesetze tatsächlich zustande kommen.
Das weiß er aber natürlich sehr genau – und das ist der Clou: Ein Staranwalt, der im öffentlich-rechtlichen Fernsehen propagiert, dass Moral gleich Gesetz ist, weiß genau, was er da tut. Er nimmt bewusst Einfluss auf der reaktionären Seite eines gesellschaftlichen Diskurses, der mit ganzer Kraft versucht, zu verhindern, dass sich irgendetwas verändert. Klar, Schertz muss so allein schon aus Selbstvermarktungsgründen sprechen, sonst wäre er bald arbeitslos. Doch zu sagen, dass etwas nicht moralisch zu bewerten sei, wenn es gesetzlich erlaubt ist, ist nicht nur vollkommen unwissenschaftlicher Bullshit, sondern im Kern auch frauenfeindlich.
Surprise: Gesetze ändern sich ständig
Moral macht Gesetze. Sie werden gesellschaftlich geformt. Nach Schertz' Logik war etwa die Vergewaltigung der Ehefrau moralisch in Ordnung. Also bis 1997. Dann wurde sie verboten – und im Kopf von Schertz auch dann erst unmoralisch. Und das ist nur ein Beispiel – von der Strafbarkeit sexueller Handlungen zwischen Männern brauchen wir erst gar nicht anzufangen. Gesetze ändern sich schlichtweg ständig und sind hinsichtlich einer emanzipativen Veränderung in der Gesellschaft immer auch die Ergebnisse von sozialen Bewegungen. Feministischen Bewegungen. Linken Bewegungen. Bis auf die ersten 20 Artikel im Grundgesetz ist jedes Gesetz verhandelbar. Der Bundesgerichtshof betont regelmäßig, dass Gesetze aufgrund gesellschaftlicher Veränderungen wandelbar sind. Dass es unzählige rechte Trolls gibt, die bei offensichtlich frauenfeindlichen Handlungen nicht müde werden, zu behaupten, dass "das Gericht" entscheiden müsste, ob diese Handlungen okay sind oder nicht, ist auch Typen wie Schertz geschuldet.
So steht's halt im Gesetz. Und da steht laut Schertz auch die Moral. Obwohl er sich eigentlich nicht "moralisch" über (sexuellen) "Machtmissbrauch" – ein Terminus, der für Schertz völlig gegenstandslos zu sein scheint – äußern will, äußert er sich dann aber doch unbewusst moralisch, wenn er fast schon genervt erklärt, dass ja bereits die "gesamte Literaturgeschichte" voll vom Motiv der "jungen Frau" und des "alten Mannes" wäre. Dass es aber genau deshalb, eben wegen dieser "Literaturgeschichte" etwa, gesellschaftlich für moralisch unbedenklich gehalten wird, wenn viel ältere Männer sich sexuell mit Teenagern abgeben, darauf kommt Schertz nicht. Dass Moral Gesetze beeinflusst.
Selbst wenn die Lindemanns und Reichelts dieser Welt tatsächlich nicht strafrechtlich belangt werden, steht eines jetzt schon fest: Die Welt ändert sich. Frauen und Mädchen halten nicht mehr das Maul und ergeben sich still der Moral alter Männer. Das wird auf lange Sicht Auswirkungen aufs Gesetz haben. Hatte es 1997. Wird es auch in Zukunft.
1 Kommentar verfügbar
Fritz Schwab
am 30.05.2024