Die beiden Listenführer für die Europawahl bereiten der AfD seit geraumer Zeit Kopfschmerzen: Da wäre zum einen die Festnahme von Maximilian Krahs Mitarbeiter wegen des Spionageverdachts für China, Krahs eigene Nähe zu Russland und China und die Durchsuchung seiner Büroräume durch die Bundesanwaltschaft. Jüngst ließen Äußerungen Krahs zur SS das Fass überlaufen und bescherten der Partei den Ausschluss aus der Rechtsaußen-Fraktion Identität und Demokratie (ID) im EU-Parlament. Seine Parteiführung strafte ihn mit einem Auftrittsverbot, woraufhin er sich aus dem Bundesvorstand zurückzog. Auch der Listenzweite Petr Bystron wird sich künftig nicht mehr auf Marktplätzen präsentieren. Er wurde von der AfD-Führung aufgefordert, sich vom Wahlkampf zurückzuziehen, weil er Geld von einem pro-russischen Netzwerk angenommen haben soll. Seine Bundestagsbüros und Privaträume haben ebenfalls bereits Besuch von den Ermittlern erhalten.

In Baden-Württemberg empört all das den hiesigen Landesverband offenkundig wenig. Bisher mangelt es an einer unmissverständlichen Distanzierung: Der Parteichef der Südwest-AfD Emil Sänze geht mit den Vorwürfen gegen seine Parteikollegen Krah und Bystron sowie dem Ausschluss der AfD aus ihrer bisherigen Fraktion im Europaparlament eher taktisch um. Seine Partei müsse vielmehr die Zeit bis zur Wahl am 9. Juni nutzen, sagt Sänze in einem Fernsehinterview, um "wieder zurückzukommen zur alten Stärke" und um "die Zusammenarbeit der Nationen auf eine neue Plattform zu stellen".
Wenn der Rottweiler Abgeordnete, der vor sechs Jahren mit mehr als 16 Prozent und 2021 mit fast 13 Prozent gewählt wurde, im baden-württembergischen Landtag das Wort ergreift, wird es regelmäßig gruselig. Die europapolitischen Vorstellungen des früheren Bankers sind besonders abseitig. Kürzlich hat der 73-Jährige aus dem völkisch-nationalen Flügel sogar vom Verfassungsschutz verlangt, "sich weniger um die AfD zu kümmern, sondern um die ach so glühenden Anhänger eines Zentralstaates, der zur Folge hat, dass die Bundesrepublik Deutschland aufgelöst werden soll".
Fakten zählen wenig
Selbst bezeichnet sich die AfD als "demokratische Partei und Bürgerbewegung gegen die undemokratische und rechtswidrige Willkür der etablierten Altparteien". In ihrem Europaprogramm strebt die Partei eine Neugründung der Union an: ohne Parlament und Euro, mit mehr Grenzkontrollen, Abtreibungen nur in Ausnahmefällen, mit eingeschränkter Freizügigkeit, ohne Datenschutzgrundverordnung, ohne CO₂-Bepreisung und -Zertifikatehandel, ohne Verbrennerverbot. Gegen Letzteres will die Partei vorgehen "mit allen ihr zur Verfügung stehenden politischen Mitteln".
Dabei gibt es ein solches Verbot gar nicht, entgegen einer weit verbreiteten und von bürgerlichen Parteien und der FDP mit Fleiß genährten Annahme. "Das mittelfristige Ziel der EU ist vielmehr, eine klimaneutrale Mobilität zu ermöglichen – mit welchen Mitteln auch immer", schreibt sogar "Auto-Motor-Sport". Wie wirkungsvoll und realistisch die geplante CO₂-Senkung funktioniere, werde die EU 2026 unter die Lupe nehmen, um sie gegebenenfalls "dann noch einmal anzupassen". Verboten ist lediglich die Produktion neuer Verbrennerautos, die Bestandsflotte bleibt untangiert, Gebrauchtwagen dürfen weiterverkauft werden.
Aber Fakten zählen wenig, wenn die Versuchung überhandnimmt, Stimmung zu machen. Ende vergangener Woche hat die Union mit ihrem zur Lachnummer verkommenen Unterschriftensammlungsversuch im Netz eine AfD-Position hemmungslos übernommen. CDU und CSU hatten ihre Aktion in die Tatsachen entstellende Frage gegossen: "Unterstützen Sie die Forderung zur Rücknahme des Verbrenner-Verbots?" Ziel war, wie es im Konrad-Adenauer-Haus hieß, möglichst schnell "eine sehr große Zahl" von Ja-Stimmen zu sammeln. Doch nur wenige Stunden nach dem Start der Online-Kampagne waren am Samstagvormittag bei gut 180.000 Unterschriften 86 Prozent der Teilnehmenden gegen eine Abkehr von den EU-Verbrenner-Beschlüssen.
Keine Geschlossenheit gegen gefährlichen Unsinn
Der Schuss ging nach hinten los, die Häme ist groß, der Schaden für Europa aber noch viel größer. Eine radikale, inhaltlich schlicht falsche Haltung wurde durch die Union salonfähig gemacht. Und die Einzigen, die von Anfang an gegen alle aus dem Green Deal erwachsenen Regelungen des "ökosozialistischen Brüsseler Haftungs- und Umverteilungsstaates" waren, eben die rechten Flügelstürmer im EU-Parlament, verbreiten auf ihren Facebook-Seiten alarmistische Passagen aus dem AfD-Wahlprogramm: "Mittels der medial befeuerten Klimakatastrophen-Vorhersage" solle "nicht nur eine Energiewende, sondern eine Konsumwende, eine Ressourcenwende, eine Mobilitätswende, eine Ernährungswende und eine industrielle Wende" umgesetzt werden.
Jedenfalls kein Siegeszug
Angesichts der Hetze gegen "Altparteien" und "Systemmedien" müssen Wahlergebnisse der AfD ganz besonders genau analysiert und beschrieben werden. Im Netz meckern Anhänger:innen über die Bewertung der Thüringer Kommunalwahl vom Sonntag bereits gehörig. Das landesweite Plus von knapp neun Prozent in den Räten kann jedenfalls nicht als Niederlage gewertet werden. Wahr ist aber auch, dass Landeschef Björn Höcke einen "Siegeszug" starten wollte. Der wiederum ist ausgeblieben und der Satz des Schmalkaldener Landtagsabgeordneten René Aust "Wir gewinnen Wahlen" nur relativ richtig. Kein einziges neues Spitzenamt ist bisher in den Händen der AfD und im zweiten Wahlgang ist äußerst fraglich, ob sich daran etwas ändern wird. Überhaupt Aust: Der 37-Jährige ist mit seinem Platz drei auf der Europawahlliste nach dem erzwungenen Rückzug von Maximilian Krah und Petr Bystron im Wahlkampf der neue Frontmann. Deshalb lohnt ein genauerer Blick sehr. Seine Kandidatenrede auf der AfD-Europawahlversammlung dauert gerade mal 7 Minuten 33 Sekunden und gibt viel mehr Aufschluss über den Geisteswandel des früheren Sozialdemokraten, als ihm lieb sein kann. (jhw)
Explodierende Energiepreise sind in den Zerrbildern der AfD nur das erste Signal grüner Weltrettung. "Die AfD lässt nicht zu, dass der Mensch anhand seines CO₂-Abdrucks beurteilt wird. Wir teilen die irrationale CO₂-Hysterie nicht, die unsere Gesellschaft, Kultur und Lebensweise strukturell zerstört", heißt es im Wahlprogramm. Auf Seite 42 wird deshalb nichts Geringeres gefordert als "die Abschaffung aller Klimaschutzgesetze auf nationaler und europäischer Ebene".
Auch weil die demokratischen Parteien nicht geschlossen gegen solchen für heute und morgen gefährlichen Unsinn stehen, steigt die Verunsicherung in der Wählerschaft. Sie verstellt den Blick erst recht und macht (noch) empfänglicher für einfache, faktenwidrige Botschaften. Der Wahlforscher Matthias Jung geht davon aus, dass zumindest ein Teil der AfD-Anhänger:innen die Vorwürfe gegen Krah und Bystron tatsächlich, wie von den Betroffenen so lange insinuiert, für eine Kampagne der etablierten Parteien hält. Zudem könne gut sein, dass zumindest an einem Teil die Skandale abprallen und am Wahlverhalten nichts ändern, angesichts des geschlossenen Informationsnetzwerks "alternativer" Medien.
Le Pen und Meloni liebäugeln miteinander
Gerade deshalb fehlen sie kaum, die Auftritte auf den Marktplätzen auch in Baden-Württemberg, die Krah oder Bystron nicht mehr absolvieren dürfen. Die einschlägigen Kanäle im Netz werden ohnehin gefüttert mit immer neuen Happen aus dem Wahlprogramm, dessen Umsetzung längst seriös analysiert ist als Gift für die heimische Wirtschaft, für Gesellschaft und Umwelt. Sänze und sein Co-Vorsitzender Markus Frohnmaier sind äußerst aktiv, versuchen gegenzuhalten und in die AfD-Welt zu hämmern, dass und wie die EU gescheitert ist. Und: "Die Entscheidung über eine neue Form des Zusammenlebens der Völker in Europa darf in Deutschland nach Vorstellung der AfD nur durch eine Volksabstimmung getroffen werden."
Richtig liegen könnte Sänze dagegen mit einer anderen Erwartung: dass die Partner:innen auf dem europäischen Parkett doch nicht ausgehen. Etwa die stramm rechte FPÖ, die in Österreich – Donald Trump lässt grüßen – gerade "gegen das System" durchs Land tourt, steht ohnehin weiter zur AfD. Und die Karten könnten nach der Wahl tatsächlich noch einmal neu gemischt werden. Marine Le Pen (Rassemblement National) und Giorgia Meloni (Fratelli d'Italia), die Nationalistinnen aus Frankreich und Italien, üben sich jedenfalls gerade in vorsichtiger Annäherung. Die eine versucht der anderen schmackhaft zu machen, dass die Idee des gemeinsamen großen Rechtsaußen-Blocks im künftigen EU-Parlament noch lange nicht vom Tisch ist. Was übrigens erhebliche Auswirkungen auf CDU/CSU und ihre Strategie hätte, den radikalen Flügel zu spalten, um neue Mehrheiten gegen Rote, Linke und Grüne zu etablieren. Aber das ist eine ganz andere unrühmliche Geschichte.
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