Auch bei "Cicero" kommt die Ökopartei nicht gut weg. Die Akten des Wirtschaftsministeriums zeigten, "wie Strippenzieher der Grünen 2022 die Entscheidung über eine Laufzeitverlängerung deutscher Kernkraftwerke manipuliert" sowie den Minister falsch informiert haben, behauptet "Cicero". Für Chefredakteur Alexander Marguier ein "Skandal erster Güte", der "unweigerlich zur Kernschmelze des Vertrauens der Bürger in die Politik führt", wie er im Editorial metaphert.
Führt man sich die mittlerweile rund ein Dutzend Artikel, Interviews und Podcasts des Magazins zu den "AKW-Files" zu Gemüte, dann wurde angeblich nicht nur getäuscht, sondern sogar richtiggehend gefälscht. "Das liest sich wie eine Kriminalgeschichte", rückt Redakteur Gräber im "Cicero"-Politik-Podcast vom 23. April 2024 das Geschehen in justiziable Sphären. Glaubt man seinen Erzählungen, zogen verbeamtete Atomkraftgegner im Ministerium den Atomausstieg ideologiegetrieben mit "systematischer Skrupellosigkeit" und "manipulativen Vorgängen" durch. Anstatt die Meiler "zum Wohle des Landes" auf Jahre hin weiterlaufen zu lassen.
Ein schwerer Vorwurf. Doch ist er berechtigt? Tatsächlich produzierten die letzten drei deutschen Meiler länger Strom als ursprünglich im Atomgesetz von 2011 festgeschrieben: Mehr als drei Monate liefen sie im so genannten Streckbetrieb weiter. Statt zum Jahresende 2022 gingen die AKW Emsland, Isar 2 und Neckarwestheim 2 erst am 15. April 2023 vom Netz.
Auf Kritik antwortet "Cicero" mit Klageandrohung
"Wenn man sich die Dokumente ansieht, die das rechte Medium 'Cicero' veröffentlicht hat, sieht man: Nichts. Es gab viele Bedenken und Probleme für eine Verlängerung der Atomkraft, aber auch gute Argumente für eine kurzzeitige Verlängerung bis März 2023. Die Habeck am Ende auch umgesetzt hat. Der Rest ist typisch rechte Panikmache bis hin zu Lügen, um den Fall aufzubauschen", bewertet der Faktenchecker-Blog "Volksverpetzer" die "AKW-Files" von "Cicero".
Noch intensiver nahm der Blogger Dracon die "AKW-Files" auf seinem Portal unter die Lupe. Dabei stieß er auf zahlreiche Passagen in den Magazinbeiträgen, die den Manipulationsvorwurf erschüttern. Dazu lud er zahlreiche Dokumente hoch. So auch eine Mail des E.ON-Vorstandsvorsitzenden Leonhard Birnbaum vom 24. Februar 2022, in der dieser die "klare Positionierung in der Öffentlichkeit" (Anmerk. d. Redaktion: gegen eine Laufzeitverlängerung des AKW Isar 2, das die E.ON-Tochter Preussen Elektra betreibt) begründet. Die Mail wurde am 5. Mai 2024 vom Portal "Table Media" veröffentlich, bis dahin jedoch nicht vom Autor der "AKW-Files". Auf Kontext-Anfrage dazu reagierte die Redaktion nicht.
Massiven Tadel an der "Cicero"-Berichterstattung gab es auch von politischer Seite. "Was also tun, wenn die Dokumente das auch bei schlechtestem Willen nicht hergeben? Man fummelt und biegt sie sich zu Recht", schrieb Ex-CDU-Generalsekretär Ruprecht Polenz auf X. "Es scheint, dass sich vor allem 'Cicero' den Vorwurf der 'Fälschung' gefallen lassen muss", so das Grünen-Urgestein Jürgen Trittin ebenfalls auf X.
Kritik, die dem Magazin offenbar nicht gefiel: Nach Hochladen der Beiträge flatterten den Blog-Betreibern anwaltliche Schreiben mit Löschaufforderung, Klageandrohung und Gebührenrechnung ins Haus. Die strittigen Beiträge stehen dennoch bis heute online. "Volksverpetzer" schrieb eine Fortsetzungsgeschichte über die als Einschüchterung empfundene juristische Abmahnung. "Man will uns wohl verunsichern, uns Geld kosten. Damit wir es uns zweimal überlegen, ob wir wieder der nächsten rechten Schmutzkampagne widersprechen?", heißt es beim "Volksverpetzer".
Unbeeindruckt spann "Cicero" den vermeintlichen Atom-Skandal derweil weiter. Mehrere Energieexperten kamen in Interviews zu Wort. Etwa der frühere Gesundheitsminister und Unions-Fraktionsvize Jens Spahn– "Was hier sichtbar wird, habe ich noch nie erlebt",– sowie der Ludwigsburger Bundestagsabgeordnete Steffen Bilger: "Auf die Option Kernenergie zu verzichten, ist fahrlässig". Beide CDU-Politiker beklagten vor allem fehlende Transparenz. Bilger drohte mit einem Untersuchungsausschuss.
Der Blackout blieb aus
Auf Social Media behauptete Spahn später, dass Weiterlaufen der Atommeiler hätte "die Versorgungssicherheit erhöht und die Strompreise gesenkt". Ähnlich argumentierte auch der Gastautor Ulrich Waas im "Cicero". Der Ersatz der abgeschalteten AKWs durch Kohlekraftwerke werde das Klima "bis Ende der 2030er-Jahre mit etlichen 100 Millionen Tonnen CO2" zusätzlich belasten und die Verbraucher einen "höheren zweistelligen Milliarden-Euro-Betrag" kosten, prophezeite der ehemalige Deutschland-Chef des französischen Atomkonzerns Areva.
Auch Redakteur Gräber selbst übt sich immer wieder als energiepolitischer Weissager. Im Dezember 2022 prophezeite er bei "Bild TV", dass die Energiewende "grandios scheitert" und in Deutschland aufgrund von Stromknappheit Stromausfälle drohen. "Jetzt spürt jeder: Sich auf wetterabhängige Energiequellen zu verlassen, ist nicht Fortschritt, sondern Rückschritt", sagte er. Zusätzlich bemühte er ein Märchen von des dänischen Schriftstellers Hans Christian Andersen: "Der Kaiser ist nackt und 'Energiewende' bedeutet in Wirklichkeit Energiemangel", polemisierte er.
Im "Cicero"-Podcast vom 24. April 2024 legte er noch eine Schippe drauf. Diejenigen, die den Atomstaat bekämpft haben, hätten einen "Windkraftstaat mit Strukturen geschaffen, die einfach auch anfällig sind für Missbrauch und Korruption sind", deutet er an. Dafür gebe es zwar keinen Hinweis, schränkte er postwendend ein.
Fakt aber ist, dass nach der Atomkatastrophe im japanischen Fukushima eine überwältigende Mehrheit des Bundestags im Juni 2011 eine Änderung des Atomgesetzes billigte, wonach Deutschland bis Ende 2022 gestaffelt aus der Atomenergie aussteigt. Auch die Abgeordneten Spahn und Bilger stimmten damals dem von der eigenen CDU/CSU-Fraktion eingebrachten Antrag mit "Ja" zu. Geschlossen dagegen war damals nur die Links-Fraktion. (Hier die Namensliste.)
Anders als Atomlobbyisten stets behaupten, taumelte das Land nach dem Runterfahren der letzten Meiler auch nicht in den Blackout-Abgrund. "Im Sommer 2023, nach dem Atomausstieg, gab es eine Flut von Strom in Europa, einen Überschuss. Die französischen Kernkraftwerke liefen wieder. Das Schmelzwasser in den Alpen hat erneuerbare Wasserkraft in der Schweiz und in Österreich erzeugt, es gab Windstrom aus Dänemark, Wasserkraft aus Norwegen und Schweden", schreibt die "Wirtschaftswoche" im Rückblick. Statt zu steigen, legten die Strompreise einen Sinkflug hin, der bis heute andauert. Der Grund: Wind und Sonne produzieren hierzulande bereits mehr kostengünstigen Strom als teure fossile Gaskraftwerke. Dadurch sank die klimaschädliche Kohleverstromung massiv bis auf das Niveau der 50er-Jahre und die deutsche Stromproduktion wird immer klimafreundlicher.
Dirk Notheis mischt mit
Bezeichnenderweise wollte sich der ebenfalls vom "Cicero" aufgebotene Ex-Topmanager Karl-Ludwig Kley nicht vor Gräbers Karren spannen lassen: "Das Thema Kernkraft in Deutschland ist erledigt. Ich halte auch nichts davon, das jetzt wieder auf zu machen", betont Kley, der Chef des Pharmakonzerns Merck und bis Juli 2023 Aufsichtsratsvorsitzender des Energiekonzerns Eon war, in einem aktuellen "Cicero" Podcast. Auch auf drängende Fragen von Gastgeber Gräber zur "ideologiegeleiteten Energiepolitik der Grünen" antwortete Kley nicht in dessen Sinne: Ja, er traue den Grünen zu, die deutsche Wirtschaft zur Klimaneutralität umzubauen, so der frühere Top-Manager.
Während "Cicero" Ministerium und Minister mangelnde Transparenz vorwirft, verschweigt das Magazin etwa, dass Podcast-Gast Karl-Ludwig Kley möglicherweise einen Interessenkonflikt hat: als Beiratsvorsitzender von Rantum Capital. Die Frankfurter Investmentfirma ("Von Unternehmern. Für Unternehmer") wurde 2013 gegründet von einem ehemaligen Banker aus dem Ländle: Dirk Notheis.
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bedellus
am 30.05.2024