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Auf der Straße

Roter Schimmel

Auf der Straße: Roter Schimmel
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Es fällt mir in diesem verregneten Mai schwer, auch nur halbwegs entspannt durch die Straßen zu gehen. In der Stadt herumzuschweifen und in Gedanken abzuschweifen. Das übliche Reklame-Bombardement zur Steigerung des Unterwäschekonsums wurde ergänzt mit den Anheizerplakaten des Wahlkampfs. Und wenn du denkst, dich an das Spießrutenlaufen im Pappnasenwald gewöhnt zu haben, taucht die Anfeuerungswerbung für die Fußball-EM auf, für die Gladiatorenkämpfe in deiner Stadt.

Ich habe versucht, mich ans Ufer unseres abgelegenen Flusses namens Neckar zu retten, musste aber in der Hektik der Pfingstzeit auf weiten Strecken fürchten, unter die Räder unserer noch unterentwickelten Luftpumpenbewegung zu kommen. Es geht weiter bergab. Mein Kopf verweigert die Beinarbeit. Mir scheint es ein wenig zu gehen wie der Reisenden Pia in Sibylle Bergs Roman "Die Fahrt". "Woanders in Europa war es arm, trostlos, hässlich, verbaut", heißt es da. "Aber freudlos, das gab es nur hier, und sie würde unter hundert hässlichen Landschaften immer die deutsche herausfinden ..."

Freudlos. Böse Sache. Ich traue mich kaum noch, in Frau Bergs Buch zu lesen: "Was ist nur aus den Deutschen geworden? Wie traurig war das alles. Diese Fettwurst essende Gemeinschaft von Fußballprolls. Hurra, wir sind Deutschland, und wir sind stolz darauf. Worauf nur, ihr Dumpfbacken? Dass ihr die Fahne wieder ansehen könnt, ohne euch zu übergeben?"

Neulich habe ich der Schriftstellerin zugehört, wie sie als Bühnen- und Wahlkampfpartnerin des EU-Politikers und Satirikers Martin Sonneborn ihre Texte vor Publikum gelesen hat. Leicht vernuschelt, mit kleinen Stolperern. Schön komisch, berührend. Nichts bereitet mir mehr Freude als diese Art Humor aus den Tiefen des Freudlosen. Darauf eine Fettwurst!

Und dann wieder mit den Füßen auf Asphalt. Vor mir ein SPD-Plakat. Man sieht darauf ein weißes Pferd neben einer blonden Frau im roten Kleid. Darunter steht der Name der Schimmelreiterin im Ruhestand samt ihrem Lotterie-Spruch: "Aufs richtige Pferd setzen!"

Dieses Bild-Wort-Ensemble in den VfB-Farben Weiß und Rot ist freudvoll-deutsch. Ein Kamel oder Lama statt des Gauls auf dem Plakat mit dem Pferdesetzer-Text hätte das Humorverständnis hierzulande vermutlich überfordert. Nach einer Abschweifung in die Geschichte offenbarte sich mir der tiefe Sinn der Botschaft: Hatte der römische Kaiser Caligula einst ernsthaft vor, sein Lieblingsrennpferd Incitatus zum Konsul zu ernennen, so ist es nur konsequent, wenn die Stuttgarter SPD heute einen Schimmel zum Stadtrat kürt. Ist sie ihrem Ruf als Mal-hü-mal-hott-Partei schuldig. Darauf eine Salami!

Gegen die Freudlosigkeit deutscher Protestkultur

Wie gesagt, meine Spaziergänger-Kondition hat nachgelassen. Nicht zwingend ein Altersproblem, ich bin verstrickt in Dinge, die durchaus mit dem Kolumnentitel "Auf der Straße" zu tun haben: in Aktionen, die gemacht werden müssen. Und da wiehert bei der Vorbereitung auch mal schmerzhaft der Amtsschimmel.

Vermutlich ist es nicht schandhaft, hier mal aus meinem Alltagskram zu berichten. Die eigene Soße aufzukochen. In einem kleinen Team, das wir letztes Jahr gegründet und auf die Schnelle Netzwerk genannt haben, organisierten wir neulich "Das Fest gegen rechts – für eine bessere Demokratie". Der Name "Fest" war gedacht als Antwort auf die oft herrschende Freudlosigkeit deutscher Protestkultur. Motto: Wir bieten schöne Musik, Humor und entgiftetes Klima. Haben Nazis alles nicht.

Ein paar Tage später folgte ich der Einladung, mich mit einem kurzen Wortbeitrag am Solidaritätskonzert sehr guter Stuttgarter Bands unter dem Titel "Stuttgart gegen Antisemitismus" im Theater Rampe zu beteiligen. Und ich denke, der kleine Text, den ich dafür gemacht habe, passt in meine Kolumne – als Beispiel für das, was auffällt auf dem Wanderweg durchs Leben.

Im schönen, politisch offenen Haus der Rampe, sagte ich, habe ich so viel Zeit, etwas über Antisemitismus zu sagen, wie der jüdische Texaner Kinky Friedman in seinem vier Minuten langen Countrysong "They Aint Makin' Jews Like Jesus Anymore". Womöglich wäre ein Lied die geeignetere Form, in vier Minuten das Thema Antisemitismus zu behandeln. Also habe ich versucht, etwas aufzuschreiben, das mir ähnlich vertraut erscheint wie Musik. Es geht so:

Vor zwei Jahren sah ich ein dünnes Buch, das ich mir spontan aufgrund seines Titels kaufte: "Was soll an meiner Nase bitte jüdisch sein?" Untertitel: "Über den Antisemitismus im Alltag". Ich hab es sehr schnell gelesen. Ironie und Sarkasmus der Texte waren mir sympathisch. Wenig später rief mich ein Mitarbeiter der Schorndorfer Manufaktur an, ob ich eine Lesung mit dem Schweizer Autor Thomas Meyer moderieren wolle – und ob er mir dessen neues Buch schicken solle. Das Porto konnte er sich sparen. Das Buch hieß "Was soll an meiner Nase bitte jüdisch sein?"

Als ich mich damit beschäftigte, spürte ich beim Gedanken an das Treffen mit dem Schriftsteller eine gewisse Verunsicherung: Mann, dachte ich, das wird eine komplizierte Sache. Einerseits hatte ich etwas Bammel vor einem besonderen Menschen, der ein Jude sein müsse. Anderseits dachte ich, ich müsse ihm besondere Anerkennung entgegenbringen. Beides zusammen aber ist nichts anderes als eine Mischung aus Antisemitismus und dem ebenso klischeebeladenen Positiv-Antisemitismus – nämlich Furcht und vorauseilende Bewunderung angesichts eines Juden.

Vermutlich würden nicht viele zugeben, antisemitische Klischees und Vorurteile im Hirn zu haben. Ich erinnere mich an meine Kindheit auf dem Dorf. Bis heute habe ich im Ohr, wie meine Mutter auf Schwäbisch für mich ein hässlich klingendes Wort benutzte: "dr Juuud". Oder auch: "dr Jutt". Zum Glück hatte ich eine ältere Schwester, die schon Bücher gelesen hatte – und mich warnte, den Leuten zu trauen, wenn sie vom Juden sprachen. Heute weiß man, dass Vorurteile über jüdische Menschen von Elternhaus zu Elternhaus übertragen werden. Und heute lese ich in Max Czolleks Buch "Versöhnungstheater", wie die viel beschworene deutsche Wiedergutmachung mit ihren steinernen Symbolen in Wahrheit oft nur ein Akt angestrebter Wiedergutwerdung für die öffentliche Wahrnehmung war. (Der Begriff Wiedergutwerdung stammt übrigens von dem 1945 in Stuttgart geborenen Journalisten, Essayisten und Hannah-Arendt-Übersetzer Eike Geisel; er starb mit 52 Jahren an den Folgen eines Schlaganfalls in Berlin.)

Lernen, was Menschsein bedeutet

Als Stadtspaziergänger begegnet mir deutsche Geschichte auf Schritt und Tritt. Auf meinen Touren gehe ich hinein in unsere verbrecherische Vergangenheit – und erlebe, wie sie mich in die Gegenwart führt. Vergangenheit vergeht nicht. Sie ist präsent, überall. Völkische, Rassisten und Antisemiten haben sich nach der Nazidiktatur kontinuierlich neu organisiert. Und wenn heute von Erinnerungskultur geredet wird, empfehle ich: Wer ein verstörendes Mahnmal sehen will, der besuche den Landtag.

Antisemitismus geht bekanntlich nicht nur von der extremen Rechten aus. Er beherrscht auch Teile der Linken. Oft aber wird vergessen, dass Antisemitismus mit seinen Vorurteilen und dem widerlichen Sündenbock-Denken auch in der sogenannten Mitte der Gesellschaft verankert ist – ebenso wie Rassismus. Dagegen hilft jetzt beim Blick auf Israel und Palästina sicher nicht die Staatsräson mit ihrem Bekenntniszwang. Die konstruktive Debatte mit dem Recht auf Meinungsfreiheit muss möglich bleiben.

Mein Lied geht zu Ende. Es wäre Hochmut, mir einzubilden, ich sei frei von antisemitischen und rassistischen Vorurteilen. Ohne Angst vor dem Fremden in mir. Thomas Meyer erzählt, wie er beim Anblick eines Schwarzen in einem Auto oder auf einem Fahrrad denkt, der Mann habe das Gefährt geklaut. Das heißt:

"Wir müssen nicht nur etwas gegen die Menschenverachtung religiöser und politischer Gruppierungen tun, uns in demokratischen Initiativen engagieren und auf die Straße gehen. Gegen Gewalt und gegen Gedankenlosigkeit. Wir müssen uns Tag für Tag kräftig in den Arsch treten, um uns bewusst zu werden, dass auch in uns das antisemitische, das rassistische Vorurteil lebendig ist. Wir müssen lernen, was Menschsein bedeutet, was es heißt, mit unseren eigenen Vorurteilen umzugehen und Menschen als Gleiche anzuerkennen."

So weit meine kleine Rede, die ich noch ausbauen muss, wenn sie mir als innere Stimme helfen soll. Und meine verdammte Nase, hoffe ich, bleibt noch eine Weile im Wind.

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3 Kommentare verfügbar

  • Wilfried Harthan
    am 31.05.2024
    Antworten
    Hallo Joe,

    du hast hier einen ganz wichtigen Gedanken aufgegriffen. Sich gegen Antisemitismus oder Rassismus zu wenden, bedeutet nicht, frei von antisemitischen Ressentiments zu sein. In unserem Unterbewusstein schleppen wir, meist unbemerkt, den ganzen ideologischen Schrott von zweitausend…
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