Anfang Oktober brachen sie in die Apotheke ein, nun sitzen sie noch immer dort fest. Natürlich: Im Theater sind es Stunden, Tage, im wahren Leben viele Monate. Ove Kalshoven (Morris Weckherlin) ist Bufdi der Apotheke und zittert deshalb doppelt unter seiner Maske. Seine Cousine Holle Toepfer (Eva Lucia Grieser) hat ihn zum Einbruch überredet – sie ist an Krebs erkrankt, sie ist verbittert, sie handelt mit Drogen. Enno Standke (Cyril Hilfiker), Oves Freund, ist Journalist, macht mit, weil er einen Medizinskandal wittert. Zu dumm, dass das räuberische Trio in der Apotheke von der ehemaligen Apothekenleiterin Cecilia Zymny (Lauretta van de Merwe) und ihrer Assistentin Merit Tiefenbrunn (Seraina Löschau) ertappt wird. Nur: Was machen diese beiden mitten in der Nacht dort in der Apotheke?
Die Einbrecher:innen nehmen die Apothekenmitarbeiterinnen als Geiseln, fordern Öffentlichkeit, ein Gespräch mit dem Fernsehen. Fünf Personen sind an einem Ort versammelt; bald sind die Masken ab, bald beginnt ein Psychospiel, bei dem sich immer neue Konstellationen ergeben. Von Folge zu Folge tritt eine andere Figur des Spiels in den Vordergrund, wird ein anderer Charakter durchleuchtet, gibt es neue überraschende Wendungen. Twists, Cliffhanger – alles ist mit dabei, was eine gute Streaming-Serie ausmacht. Nur: Dies ist Theater.
Die Idee kam in der Corona-Zeit
"Im Taumel des Zorns", ein Projekt, das sich über die gesamte aktuelle Spielzeit des Tübinger Zimmertheaters erstreckt, ist außergewöhnlich in verschiedener Hinsicht. Es ist ein Stück in sieben Teilen, die in ihrer Handlung aufeinander aufbauen, aber auch als Einzelepisoden gesehen werden können. Ästhetik und Dramaturgie einer Streaming-Serie werden hier konsequent auf die Bühne gebracht – bis hin zum Soundtrack der Musiker Konstantin Dupelius und Justus Wilcken –, aber auch immer wieder gebrochen: Die Serie ist zugleich ein Experiment in Erzählformen. Mit jeder neuen Folge treten neue Autor:innen, neue Regisseur:innen auf. Die Pilotfolge der Reihe schrieb Peer Mia Ripberger, Intendant am Zimmertheater, selbst; als Autor:innen weiterer Folgen wurden Caspar-Maria Russo, Leonie Lorena Wyss, Anaïs Clerc und Hannah Zufall gewonnen. Die künstlerischen Handschriften ändern sich beständig, der formale Anspruch ist hoch, die Spannung auch.
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