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Arbeitsmigration aus Osteuropa früher und heute

Befreiungsschlag mit dem Spargelstecher

Arbeitsmigration aus Osteuropa früher und heute: Befreiungsschlag mit dem Spargelstecher
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Das Stadtensemble des Nationaltheaters Mannheim beschäftigte sich anlässlich zwanzig Jahre EU-Osterweiterung mit Arbeitsmigrant:innen aus Polen. Das Stück "Ein Pfund Spargel" zeigt die Ergebnisse ihrer Recherche.

Ihre Großmutter kam zu Fuß nach Mannheim, erzählt Claudia Pflaum-Richter. Als junge Frau verließ sie um die Jahrhunderwende ihre Heimat Polen und lief über tausend Kilometer, um in der neu gebauten Mannheimer Jutefabrik zu arbeiten. Sie schlief gemeinsam mit mehreren Hundert weiteren Mädchen im extra errichteten Mädchenwohnheim. Menschen ab 14 Jahren wurden damals angeworben, um die neumodische Faser aus den Kolonien weiterzuverarbeiten. Diese Migrant:innen legten den Grundstein für die Geschichte der Arbeitsmigration von Polen nach Mannheim.

Die Geschichte ihrer Großmutter beschreibt Pflaum-Richter vom Stadtensemble in der performativen Lesung "Ein Pfund Spargel". Sie selbst lernte die Großmutter als umtriebige Hausfrau kennen, die sich stets für ihre Kinder und Enkelkinder aufopferte, dabei vom Großvater abschätzig behandelt wurde. Die Performance ist Teil der "Ostopia"-Thementage am Nationalthater Mannheim anlässlich der zwanzigjährigen EU-Osterweiterungen. Durch den Beitritt zur EU wurde Mannheim erneut Wohnort für viele Migrant:innen, manchmal nur für eine Saison. Doch diese Menschen hängen häufig im Dazwischen fest: zwischen Ost und West, den Generationen, den Klassen. Sie sind zwar nicht wenige, trotzdem aber kaum sichtbar. Deshalb hat sich das Stadtensemble Mannheim auf Spurensuche der polnischen Arbeitsmigrant:innen gemacht.

Festgefahren in Zwischenräumen

45 Prozent der Menschen in Mannheim besitzen eine familiäre Einwanderungsgeschichte. Grund genug, um im Stadtensemble immer wieder übers Ankommen zu sprechen und wie es sich anfühlt, mehrere Heimaten zu haben, sagt die künstlerische Leiterin Beata Anna Schmutz. Sie selbst ist in Danzig geboren und noch vor dem EU-Eintritt Polens zum Studieren nach Heidelberg gekommen. Kurz vor Weihnachten 2023 klickte sie sich auf der Suche nach der Kindermesse durch die Website der polnischen Gemeinde Mannheim und landete dabei zufällig auf einer Seite zur Geschichte der Arbeitsmigration von Polen nach Mannheim. Sie sei davon überrascht gewesen, wie früh die Arbeitsmigration aus Osteuropa nach Deutschland anfing. Und ihr ist dabei aufgefallen: Bei den vielen Gesprächen im Ensemble hätten sie sich noch nie mit der Perspektive über die viertgrößte Einwanderungsgruppe in der Stadt – Menschen aus Polen – beschäftigt.

Die performative Lesung "Ein Pfund Spargel" entstand in Zusammenarbeit mit der polnischstämmigen Autorin Ewe Benbenek. Dafür hat Benbenek die Recherchen und Erfahrungen des Stadtensembles in einem Text zusammengeführt. Auch sich selbst befragt sie darin und den eigenen Aufstieg als Arbeiterkind polnischer Gastarbeiter:innen. Das Unbehagen gegenüber den vorherigen Generationen, die als Feldarbeiter:innen, Putz- und Pflegekräfte sowie als Arbeiter in Schlachtbetrieben den eigenen Lebensstandard samt Aufstieg ermöglichten. Benbenek erzählt, wie sie heute mit dem ICE zum Arbeiten durch die BRD fährt und sich nicht mehr die Finger schmutzig macht. Allerdings den Schmutz unter den Fingernägeln noch fühle. Metaphorisch steht sie daher auf Umsteigebahnhöfen und fühlt sich, als stecke sie fest in einem Zwischenraum.

Mit Zwischenräumen ist das Stadtensemble vertraut: Seit 2018 bespielt es mit unterschiedlichen künstlerischen Formaten immer wieder den Raum zwischen Stadt und Theater. Am Tag vor der Premiere von "Ein Pfund Spargel" sitzt ein Teil des Ensembles im Kreis vor dem Aufführungsort Barac. "Die Gruppe repräsentiert die Mannheimer Stadtgesellschaft", sagt Beata Anna Schmutz. Hier träfen Menschen mit verschiedenen Perspektiven aufeinander, geprägt durch ihr Alter, Herkunft, Gender, Lebenssituationen wie Elternschaft, ob sie in Beziehungen leben oder nicht und welche Beziehungsformen sie leben. Eine von ihnen ist die 38-jährige Pianistin und Klavierlehrerin Kateryna Mariash. Sie lebt seit zwei Jahren aufgrund des russischen Angriffskrieges auf ihr Herkunftsland Ukraine mit ihrem Kind in Mannheim. "Was wir hier machen, ist sehr wichtig für mich", sagt sie. Neben Deutsch lernen und ihrem Engagement beim Stadtensemble drehe sich im Moment alles nur ums Arbeiten. "Ich möchte ein besseres Leben für mein Kind." Wie so ein besseres Leben oder eine bessere Gesellschaft aussehen könnte, erfährt sie in der Zusammenarbeit mit dem Ensemble, denn dort bringen zwar alle eigene und oft unterschiedliche Perspektiven mit, aber "dann sehen wir, wie ähnlich die sind".

Die Themen des Stadtensembles entwickeln sich aus ihren Gesprächen und seien ihnen "persönlich wichtig, lokal relevant und global vertreten", berichtet Regisseurin Schmutz. In Langzeitprojekten betreibt das Ensemble künstlerische Forschung zu Fragen, die sie für die "Sendefläche der Kunst für sehr wichtig halten". Daraus entstünden ab und zu auch Stücke zu Ereignissen, die nicht oder kaum vorhanden sind im kollektiven Mannheimer Gedächtnis. Die Performance "Brennstoff" behandelt zum Beispiel den rassistischen Angriff 1992 auf ein Flüchtlingsheim in Mannheim-Schönau.

Manche Herkünfte und Sprachen sind wertloser

"Ich habe in der Recherche rausgefunden, dass meine Familie Wurzeln in Polen hat", erzählt Mary Stickel, die sich beim Stadtensemble engagiert, Mathe und Informatik studiert und nebenbei beim Softwarekonzern SAP arbeitet. Das sei neu für sie gewesen, denn darüber habe niemand gesprochen, sie wolle nun beginnen, darüber zu sprechen. Claudia Pflaum-Richter kennt dieses Schweigen, auch die Geschichte ihrer Großmutter habe eine Generation übersprungen, sagt die 70-Jährige. Ihre Mutter wollte nichts davon hören, obwohl es auch Teil ihrer Geschichte und Teil der ganzen Stadt ist: Das Mädchenwohnheim, in dem Pflaum-Richters Großmutter vor über 100 Jahren untergebracht war, steht bis heute. Es wurde umgebaut und wird nun im Mannheimer Stadtteil Sandhofen als Mietshaus genutzt.

Um das Schweigen zwischen den Generationen geht es an unterschiedlichen Stellen in der Performance "Ein Pfund Spargel". Eine Mutter antwortet lange Zeit nicht auf die Frage: "Was war deine schwerste Arbeit, die du getan hast?" Irgendwann stellt sich heraus: Spargel stechen. So wird der Spargel im theatralen Raum, der sowohl an eine Gaststube mit Holztischen, Stühlen und Spargelsuppe als auch an eine Kirche mit Altar in der Mitte und Buntglasfenstern erinnert, angebetet. Immerhin ist Deutschland Europas Nummer Eins als Spargelanbaugebiet und auch um Mannheim herum befinden sich Spargelfelder.

Seit jeher werden für die Spargelernte Menschen aus Osteuropa als billige Arbeitskräfte angeworben. Ermöglicht wird dieses ausbeuterische Verhältnis auch durch diskriminierende Abwertungen "der Slawen" als ungebildete und minderwertige Menschen. Yasmin Ahmed vom Stadtensemble hat selbst zwar keinen polnischen Hintergrund, aber sie erkenne sich trotzdem in vielem wieder. Die IT-lerin und Content-Creatorin mit schweizerischen und pakistanischen Wurzeln kenne diese Gefühle des Andersseins, die Situation des Ankommens und wisse auch, dass manche Herkünfte und Sprachen wertloser seien als andere.

Das Mannheimer Stadtensemble wirkt hingegen empowernd auf seine Mitglieder. Die künstlerische Leiterin Anna Beata Schmutz erzählt, dass es ihnen wichtig sei, Kunst zu machen und Ergebnisse zu präsentieren, aber der größte Antrieb bestehe für sie darin, "Anlässe zum Gespräch zu schaffen". Die "geteilten Räumen und Gedanken" und das gemeinsame "im Prozess sein" sei schon Kunst.

Demnach endet auch das Stück "Ein Pfund Spargel" folgerichtig erlösend mit einem theatralen Befreiungsschlag gegen die ausbeuterischen Verhältnisse: Mit einem Spargelstecher sticht die Erntehelferin dem Spargelbauern den eigenen Spargel ab.


Am Freitag, 17. Mai 2024 wird die performative Lesung "Ein Pfund Spargel" zum letzten Mal im Barac-Kunsthaus in Mannheim gezeigt. Treffpunkt ist die NTM-Spielstätte Altes Kino Franklin.

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