Seit drei Wochen ist der Rumäne in der Bodenseeregion und pflückt Erdbeeren. Auch bei Regen bleiben er und rund ein Dutzend Mitpflücker:innen trocken, denn hier bei Ailingen erstrecken sich riesige, mannshohe Plastiktunnel über den Boden. Darin: fünf bis sieben schnurgerade, 300 bis 500 Meter lange und mit Stroh geschützte Erdreihen, aus denen Erdbeeren sprießen. Die Gänge dazwischen sind groß genug für kleine Handwagen, auf denen vollgepflückte Kisten zur Waage und anschließend zu einem Anhänger gefahren werden können. Auf jeder Kiste liegt ein Zettel mit einer Nummer, die Nummer ist eine:r Arbeiter:in zugeordnet. Wichtig, denn hier werden die Erntehelfer:innen nach Akkord bezahlt. Mindestens drei Kisten braucht es, um auf den Mindestlohn von zwölf Euro zu kommen, eine Kiste fasst zehn Pappschalen Früchte à 500 Gramm. "Kein Problem", sagt der 41-Jährige, der seinen Namen nicht sagen möchte. Fünf Kisten pro Stunde seien gut zu schaffen. Er pflückt in einem Tunnel, nebenan seine Frau und die drei erwachsenen Kinder.
Rumänische Erntehelfer:innen in Oberschwaben
Ohne sie läuft nichts
Fotos: Joachim E. Röttgers
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Suzana Maurer kommt von der Fairen Mobilität aus Freiburg und klappert an diesem Tag gemeinsam mit ihrer Stuttgarter Kollegin Aleksandra Grobelna, Frank Kappenberger vom DGB Ravensburg sowie Philipp Groll von der Betriebsseelsorge Ravensburg und Heike Gotzmann von der Betriebsseelsorge Singen Felder rund um Meckenbeuren ab. Faire Mobilität ist eine Initiative des DGB und kümmert sich gemeinsam mit Partnerorganisationen wie der Betriebsseelsorge bundesweit um Wanderarbeiter aus der EU. Das Besondere: Die Mobilitätsleute sprechen neben deutsch mindestens eine weitere Sprache, vor allem eine osteuropäische. Sie beraten und klären Wanderarbeiter:innen über ihre Rechte auf, gehen auf Baustellen, auf Lkw-Rastplätze, zu Paketzentren und – wie an diesem Tag – auf Erdbeerfelder.
Bauern mögen die Faire Mobilität nicht
Mit einem kleinen weißen Bus holt Groll die Kolleg:innen am Bahnhof in Meckenbeuren ab. "Ich hoffe, ihr habt Gummistiefel dabei", sagt er und schaut in den grauen Himmel. Es geht aufs Land, links Apfelplantagen, rechts Apfelplantagen. Mal ein wenig Kirsche, mal Hopfen, mal Gerste, dann wieder Apfel. Und weiße Plastiktunnel unter denen die Erdbeeren wachsen. Die Freiland-Erdbeeren sind noch nicht so weit, außerdem ist das Wetter zu schlecht fürs Draußenpflücken. "Da drüben steht ein Dixiklo, das kann heißen, dass auch Erntehelfer da sind", sagt Groll, biegt von der Landstraße ab auf einen Feldweg. Es regnet wieder, also Gummistiefel an, Kapuze hoch, Grobelna steckt Info-Flyer ein. "Ich nehme mal polnisch, rumänisch und ukrainisch mit."
Nach 300 Metern über matschigen Feldweg sind die Eingänge zu den Erdbeerzelten zu sehen. Das erste: leer, das zweite: leer, im dritten zwei Erntehelferinnen. Eine der Frauen kommt vor. Aleksandra Grobelna spricht sie an, auf polnisch. Die Frau ist zurückhaltend bis abwehrend, erzählt, dass nebenan Ukrainer:innen aus Polen arbeiten, ansonsten sei alles "okay". Grobelna lässt ihr ein paar Flyer da, es geht weiter. Der Bus passiert wieder Apfelplantagen, bei Ailingen-Reinach sind die Erdbeertunnel leer, nur an einem Verkaufsstand steht eine sehr junge Frau, Rumänin. Nun ist Suzana Maurer dran, sucht das Gespräch, die junge Frau ist schüchtern. Doch, die Arbeit sei ganz gut, sagt sie. Wie lange sie am Stand sei? "Von 9 bis 18 Uhr." "Alleine?" "Ja." Sie bekommt noch Flyer für die Kolleg:innen und weiter geht’s.
Dritte Station, Ailingen-Weilermühlen. Hier ist der Hof, dessen Landwirt sich im Sommer 2021 und Anfang dieses Jahres vor Gericht verantworten musste. Weil er 18 georgischen Erntehelfern ihren Lohn nicht gezahlt hat. Einer der Helfer hatte Videos über die Arbeit und die Unterkünfte mit verrotteten Decken und kaputten Türen gedreht. Mit Unterstützung der Betriebsseelsorge und der IG BAU (Bauen, Agrar, Umwelt) gingen die Georgier vors Arbeitsgericht Ravensburg, das ihnen Recht gab, der Landwirt ging in Berufung. Doch bevor das Landesarbeitsgericht Stuttgart tagte, einigten die beiden Parteien sich auf eine Nachzahlung. "Ich bin gespannt, ob sich hier etwas geändert hat", sagt Philipp Groll.
Immer weit weg von daheim
Der Trupp stiefelt an mehreren Erdbeertunneln vorbei, in zweien sind Erntehelfer:innen zu sehen, die gebückt die Erdbeeren abklauben. Suzana Maurer tritt näher an eines der offenen Enden heran, ruft "Buna ziua" hinein, einer der Arbeiter kommt vor, lächelt erstaunt. "Buna ziua." Suzana erklärt, wer sie ist und zählt ein paar grundlegende Rechte auf: Mindestlohn, Lohnzahlung auch wenn man nicht auf dem Feld ist, Unterkunft, Arbeitskleidung – die es hier offensichtlich nicht gibt, alle haben ihre Privatklamotten an: Jeans, Jogginghosen, Pullis, Strickjacken.
Wie die Arbeit sei, fragt Maurer. "Okay", antwortet der 32-Jährige freundlich. Etwa 25 Rumän:innen würden auf dem Hof arbeiten. Das mit dem Mindestlohn wusste er, dass man auch Lohn bekommt, wenn man nicht auf dem Feld ist, nicht. Maurer weist darauf hin, dass es sinnvoll sei, die Arbeitszeiten selbst aufzuschreiben, auch wenn eigentlich der Arbeitgeber dafür zuständig sei. Aber wenn es zum Rechtsstreit komme, seien eigene Aufzeichnungen wichtig. Der Rumäne nickt und fragt, ob es eine Telefonnummer gibt, bei der Arbeiter auf rumänisch telefonieren können. Suzana Maurer reicht ihre Visitenkarte und Flyer rüber. Der Erntehelfer steckt sie sichtlich dankbar ein und erzählt, dass er schon öfter in Deutschland gearbeitet hat. In Cuxhaven zwei Jahre als Erntehelfer und drei Jahre bei Tönnies auf einem Schlachthof. Wie war es da? Er verzieht das Gesicht. "Viel Stress. Du wirst krank im Kopf." Mit seiner Familie kommt er jedes Jahr aus Arges in der Walachei, um in Deutschland zu arbeiten. Das Geld reiche daheim ein paar Monate. Dann arbeite er als LKW-Fahrer, europaweit. So hangelt er sich von Job zu Job. "Was soll man machen?", sagt er und zieht die Schultern hoch.
Groll würde gerne einen Blick auf die Unterkünfte werfen, wegen denen vor zwei Jahren der Streit mit dem Landwirt anfing, also marschieren die vier weiter Richtung Hof. Etwa 100 Meter entfernt sind Container zu sehen. "Die hat er nach dem Ärger angemalt", sagt Groll, als die Truppe auf dem Hof ankommt, wo der Junior-Bauer auf einem Gabelstapler sitzt. Sie stellen sich vor, der Landwirt ist sichtlich nicht erfreut. "Da kann man sich doch wenigstens vorher anmelden", sagt er missmutig. "Wir wollen nur mit den Erntehelfern reden", erwidert Heike Gotzmann. Der Landwirt: "Haben Sie das jetzt schon gemacht?" "Ja." "Was haben die gesagt?" Stille. Er grummelt wieder was von "vorher anmelden". "Warum sind Sie denn so sauer?" "Sie haben uns letztes Jahr schon Ärger gemacht." Er bekommt noch einen Flyer – auf deutsch – und Tschüss. Im Bus berichtet Suzana Maurer, der Ernthelfer habe erzählt, dass die Unterkünfte in Ordnung seien: Sie hätten Heizung, sie würden immer zu zweit in einem Zimmer wohnen und es würde keine Miete vom Lohn abgezogen.
Kaum Kontrollen
Etwa 300.000 Erntehelfer:innen kommen pro Jahr zwischen April und Oktober nach Deutschland. Wie viele genau lässt sich nicht sagen, da es seit 2015 keine Beschränkungen mehr gibt, die Arbeitsagentur also nicht mehr eingebunden ist. Die Helfer:innen ernten Erdbeeren, Spargel, Hopfen, Äpfel, Wein. Kamen nach dem Fall des Eisernen Vorhangs vor allem polnische Saisonarbeiter:innen, sind es im Zuge der EU-Osterweiterung vor allem Rumän:innen. Auch weil die polnischen Arbeiterer:innen in anderen Branchen mehr verdienen.
Den Erntehelfer:innen müssen Unterkünfte zur Verfügung gestellt werden, sie haben ein Recht auf den Mindestlohn von 12 Euro pro Stunde, auf Arbeitskleidung und sie müssen krankenversichert werden. Die IG BAU, die mit der Initiative Faire Landarbeit jedes Jahr einen Bericht zur Saisonarbeit in der Landwirtschaft herausgibt, fordert hier Nachbesserung durch den Gesetzgeber. Denn viele Landwirte würden nur eine Gruppenkrankenversicherung abschließen, die nicht alle ärztlichen Behandlungen beinhaltet. Zudem fordert sie mehr Kontrollen: 2021 sei nur ein Prozent der Höfe mit Erntehelfer:innen vom Zoll kontrolliert worden. (lee)
Gegen Ende der Tour stoppt der Bus an Erdbeertunneln in Ailingen-Bunkhofen. An einem Stand werden Spargel und Erdbeeren verkauft. Bevor Suzana mit einem der Saisonarbeiter ins Gespräch kommen kann, nähert sich ein Mittzwanziger: der Juniorbauer Christian Sauter. Zurückhaltend fragt er, was los sei. Er wirkt etwas nervös angesichts der Gruppe aus Gewerkschaft, Journalistin, Betriebsseelsorge, die da vor seinem Feld steht und beteuert, seinen Leuten gehe es gut. "Wir haben auf dem Hof ein Haus für sie, das habe ich richten lassen." Er zählt auf: "WLAN, weil das wichtig ist für den Kontakt nach Hause, Frühstück aufs Feld, Trinkwasser, anderthalb Stunden Mittag." Er zahle nach Stunde, natürlich Mindestlohn. "Bei Akkord haben sie auch schnell mal Faules unten drin und das will ich nicht." Wieder und wieder beteuert er, dass ihm das Wohlergehen der Leute wichtig sei. "Ohne die geht es ja nicht." Seit fünf, sechs Jahren arbeite er mit denen zusammen. Vorher kamen vor allem Polen, nun Rumänen.
Die Ernte sei bislang gut, sagt Sauter. Aber es werde immer schwieriger, wirtschaftlich zu arbeiten. Der Mindestlohn, dauernd neue Vorschriften, die Produktionskosten steigen – "10.000 Euro für Verpackung dieses Jahr" – und vor allem komme zu viel Billigobst aus anderen Ländern. Wenn in Spanien zigtausende Geflüchtete illegal für fast kein Geld in der Landwirtschaft arbeiten, dann können er und seine Kollegen nicht mithalten. Zudem drückten die großen Handelsketten die Preise. "Wenn Sie nur für den Großhandel produzieren, zahlen Sie drauf." Er halte sich mit Direktvermarktung auf Märkten und Ständen über Wasser.
Und in Rumänien arbeiten Pakistaner
Eine rumänische Arbeiterin kommt dazu, Monica, groß, schlank, geschätzt Mitte 40, rotes Kopftuch im blondgelockten Haar. Sie habe früher in der Nähe von Münster gearbeitet. "Das waren sehr, sehr viele Leute, wir haben in Containern gewohnt", sagt sie und macht eine wegwerfende Handbewegung. Ein Freund habe ihr Christian Sauter empfohlen. "Hier wohnen wir im Haus der Großeltern, der Lohn kommt pünktlich", sagt sie noch und eilt zurück zur Arbeit. Dem Jungbauern wäre es mehr als Recht, wenn sie im nächsten Jahr wieder dabei wäre. Noch etwas ist ihm Wichtig: "Ich habe für alle eine extra Krankenversicherung abgeschlossen." Vor einigen Jahren habe eine Arbeiterin einen Schlaganfall gehabt. Das sei dramatisch gewesen. "Es ist nicht schön, die Familie in Rumänien anzurufen und ihr mitzuteilen, dass die Mutter im Krankenhaus liegt." Dann sollen sie doch wenigstens ärztlich gut versorgt werden.
Für den Vormittag ist die Erntehelfer-Tour vorbei. Auf der Fahrt zur Mittagspause erzählt Suzana Maurer, dass sie an Ostern bei Verwandten in Rumänien, in Bukarest, gewesen ist. "Dort ist alles sehr teuer, ein Päckchen Butter kostet vier Euro! Teurer als in Deutschland." In Bukarest hat sie lange für die Konrad-Adenauer-Stiftung gearbeitet, vor einem guten halben Jahr kam sie zurück nach Deutschland und arbeitet seitdem bei der Fairen Mobilität in Freiburg. "Ich habe gelernt, wie viele Rumänen und andere Osteuropäer in Deutschland arbeiten: in der Fleischindustrie, in der Logistik, in der Landwirtschaft. Ohne die würde hier nichts mehr funktionieren." Übrigens, sagt sie, auch in Rumänien gebe es Saisonarbeiter. Auf den Baustellen in Bukarest habe sie sehr viele Pakistaner, Inder, Bangladescher, Vietnamesen und Philippiner gesehen. "Das ist Globalisierung." Und weil dabei die Rechte von Arbeiter:innen nur zu gerne missachtet werden, sei ihre Arbeit wichtig, ergänzt Aleksandra Grobelna. "Wir müssen aufklären und den Menschen zeigen, dass sie nicht alleine hier in Deutschland sind, dass es Leute gibt, die sie unterstützen."
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Peter Nowak
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