Es wird einem am Ende dann doch mulmig, wenn auf der Bühne der Württembergischen Landesbühne Esslingen (WLB) zu ESC-tauglichen Klängen im Chor gesungen wird: "Der lange Marsch durch die lange Nacht / der Geschichte hat uns stark gemacht. / Wir sind auf dem Weg und wir haben im Sinn, / unser Ziel zu erreichen, denn wir wissen, wohin." Und weiter: "… und niemand kann uns dazu zwingen, / einen Fehler zweimal zu begehen." Ernsthaft? Kann man das so frei von Ironie behaupten? Schön wär’s ja, wenn’s so wäre. Aber was sagt uns unsere politische Gegenwart übers Lernen aus der Geschichte? Und die fast 50 Jahre, die seit 1976 vergangen sind, da die Uraufführung der "Proletenpassion" im Rahmen der Wiener Festwochen mit diesem Finale endete? Zweifel an ihrem Geschichts- respektive Revolutions-Optimismus wären schon damals angebracht gewesen.
Der politische Poet Heinz Rudolf Unger und die Folk-Politrock-Band "Schmetterlinge" glaubten damals noch daran, dass nach all den blutig niedergeschlagenen Aufständen der Unterdrückten und dem sich wiederholenden Triumph der Reaktion eine Zeit beginnen werde, "da sich die Völker befreien". Und das österreichische Produktionskollektiv hatte seinen Bernt Engelmann "Wir Untertanen. Ein Deutsches Anti-Geschichtsbuch" von 1974 gelesen: "Unsere Geschichte ist eine Geschichte von Kämpfen zwischen den Klassen, eine wütende Chronologie!", heißt es in der "Proletenpassion" im marxistischem Sprachduktus. Man wolle der gängigen Darstellung entgegnen, Geschichte sei "eine lange Reihe von Kronen und Thronen, und über allem waltet ein blindes Geschick".
Leidenschaftlich, aber mutlos
Und klar: Die "Proletenpassion", die in Anspielung auf Bachs Passionen ein Oratorium über den Leidensweg der Arbeiterklasse sein will, beruft sich aufs gute alte Agitprop-Theater der Weimarer Republik – das politisch und sozial engagierte Theater für die Arbeiterklasse. Das Ziel: die Massen zur Entwicklung eines revolutionären Bewusstseins zu führen und zur aktiven Teilnahme am Klassenkampf zu bewegen. Man wollte ja nicht im Loop der Ausbeutungsstrukturen steckenbleiben. Da muss man doch positiv denken.
Entsprechend der Agitprop-Idee (ein Begriff zusammengesetzt aus Agitation und Propaganda) ging es natürlich auch in der Esslinger Premiere der "Proletenpassion" gut verständlich und vereinfacht zu. Botschaft und Erzählung werden in griffig verpackten Häppchen serviert. Das geschieht auf unterhaltende, abwechslungsreiche Weise: 34 (von ursprünglich 65) eingängige, rhythmisch oft treibende, politpoetisch getextete Lieder wechseln sich ab mit kurzen, thesenreichen Spielszenen, in denen der jeweilige Gegenstand satirisch oder ironisch auf den Punkt gebracht wird. Eine Politrevue in sechs Stationen, in der es im Schweinsgalopp durch die Geschichte der Revolutionen geht: von den deutschen Bauernkriegen zur französischen Revolution, von der Pariser Kommune zur Oktoberrevolution.
Es ist unterhaltsam und nett anzuschauen, auf so komprimierte Weise Klassenkämpfe auf der Theaterbühne versammelt zu sehen. Und so manches altlinke Herz im Publikum mag sich erwärmen. Nicht ohne Grund wurde die "Proletenpassion" nach ihrer Uraufführung auf Tourneen und als Tripel-Schallplatte vor allem in linken Kreisen ein großer Erfolg, auch weil sie – Agitprop sei Dank – in der gewerkschaftlichen Bildungsarbeit zum Einsatz kam.
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Dieter Rebstock
am 02.04.2024