Der berlin-babylonische Hype, der den deutschen Kino- und TV-Mainstream seit Längerem befeuert, ist in pandemischen Zeiten auch ins Theater geschwappt. Wie etwa am Stuttgarter Staatsschauspiel, wo Erich Kästners "Fabian oder Der Gang vor die Hunde" und das Musical "Cabaret" auf dem Spielplan stehen – Produktionen, in denen sich Kostümbildner:innen am Nostalgie-Schick der 1920er abarbeiten und Männer mit Hüten in Dreiteiler und Frauen mit Federboa in kesse Pailletten- und Charlestonkleidchen stecken.
Einerseits wird die Weimarer Republik interpretiert als Vorhölle der Nazi-Zeit – speziell natürlich in Gestalt des "Sündenpfuhls" Berlin und seiner Tanz-auf-dem-Vulkan-Atmo. Andererseits scheint sich darin das heutige Lebensgefühl widerspiegeln zu wollen. Die Menschen ziehen nach 100 Jahren Parallelen. Als wäre heute nicht alles anders. Als gäbe es keinen Sozialstaat. Ohnehin wird diese Zeit zwischen Erstem Weltkrieg, Spanischer Grippe, Hyperinflation und Weltwirtschaftskrise gerne beschönigend als Goldene Zwanziger bezeichnet.
An der Esslinger Landesbühne spielen sie jetzt Alfred Döblins "Berlin Alexanderplatz", oder besser: "Die Geschichte vom Franz Biberkopf". Also nicht den berühmten Roman von 1929, sondern die unbekannte Hörspielfassung, die Döblin 1930 auch noch geschrieben hat: 800 Seiten eingeschmolzen auf 44. Vom Großstadtepos und seiner Milieustudie blieb noch eine poetisch umflorte Verbrechermoritat übrig, die den sehr holprigen Rückweg des entlassenen Sträflings ins Leben nunmehr schlaglichtartig beleuchtet. Reste der genialen und zukunftsweisenden Montage- und Collagetechnik des Romans, die Automobile und Orte sprechen und Stimmen die Bibel zitieren lässt, blieben aber noch übrig.
Ein Paradebeispiel für die Klassismusdebatte
Auch "Berlin Alexanderplatz" spielt in den Zwanzigern, aber eben nicht im exzessiven Nachtleben der Bessergestellten oder der Bohème, sondern im Milieu der Bitterarmen, die ausschließlich ums Überleben zu kämpfen haben. Hier kommt keine Nostalgie auf. Biberkopf, der seine Freundin aus Eifersucht erschlug, deswegen vier Jahre im Knast saß, ist zudem nicht gerade ein Sympathieträger wie der Germanist Dr. Jakob Fabian oder der Showstar Sally Bowles. Zudem haben der Regisseur und Bühnenbildner Alexander Müller-Elmau und sein Team Biberkopf aus dem sozialen Brennpunkt des Berliner Scheunenviertels in die heutige Zeit geholt, in die Bronx irgendeiner deutschen Stadt. Denn, so Anna Gubiani, die Dramaturgin der Produktion, "die politischen Umstände, die Unsicherheiten, die Umbruchstimmung sind unserer aktuellen Gesellschaft leider nicht so fremd und bieten dadurch Raum zum Denken".
Da haben wir sie wieder: die Parallelisierung der Zwanziger. In diesem Falle ist sie aber berechtigt. Denn wie stehen die Chancen heute für Menschen, die prekären, armen Verhältnissen entstammen? Nicht umsonst gibt es ja erst seit ein paar Jahren einen neuen politischen Trendbegriff namens "Klassismus", der die Diskriminierung von Menschen aufgrund ihrer sozialen Herkunft meint. Ein weitverbreiteter Klassismus der lapidar-perfidesten Art unterstellt zum Beispiel Armen, sie seien zu faul zum Arbeiten. Die neue linke Klassismusdebatte brachte das Thema gesellschaftsspaltender Klassenunterschiede erst in die Öffentlichkeit. Der Begriff "Klasse" war ja eigentlich über die Jahrzehnte verschüttgegangen, weil in der deutschen Nachkriegsgeschichte das Bild einer nivellierten Mittelschichtsgesellschaft entstanden war, in der es keine Arbeiterklasse mehr gibt. Die Finanzkrise 2008/09 brachte es dann an den Tag: die extreme soziale Ungleichheit, die Armut, die Tatsache, dass bis zu 20 Prozent der Kinder in Großstädten in Hartz-IV-Haushalten leben. Und Corona offenbarte in dieser Hinsicht noch mehr, zum Beispiel, wie schlecht bezahlt zuweilen systemrelevante Berufe werden.
Aber zurück zum Biberkopf Franz, der ein Paradebeispiel für die Klassismusdebatte abgibt, weil er nach seiner Haftentlassung rechtschaffen werden und einer geregelten Arbeit nachgehen will. Was er alles versucht, um das zu erreichen, spielt in der Hörspielfassung aber keine Rolle. Da landet er im Nullkommanix wieder dort, wo er herkam: in deprimierender Armut und einem kriminellen Zuhältermilieu.
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