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Lawrence Ferlinghetti

Als Gedichte die Welt veränderten

Lawrence Ferlinghetti: Als Gedichte die Welt veränderten
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International berühmt, doch in Deutschland kaum bekannt: Im Stuttgarter Theater Rampe erinnerte die Montage Gruppe an den US-amerikanischen Dichter und Verleger Lawrence Ferlinghetti.

Zuerst die Stimme: Leise, fast singend und heiter klingt sie. "It is the Voice of the fourth Person singular", sagt sie, die Stimme der vierten Person Singular. "It is the Voice within the Voice of a Turtle. It is the Face behind the Face of a Race. Poetry is made of Night-Thoughts (Es ist die Stimme in der Stimme einer Schildkröte. Es ist das Gesicht hinter dem Gesicht einer Rasse. Poesie wird gemacht aus Nachtgedanken)." Lawrence Ferlinghetti ist es, der spricht, eines seiner Gedichte liest, begleitet von der italienischen Rockband El Topo Grand Hotel. "Ferlinghetti Blues" heißt das Stück, es entstand 2001.

Wer war der Poet? Rund 30 Menschen sind am Montagabend ins Theater Rampe gekommen, um es zu erfahren. Wer von ihnen kennt Ferlinghetti bereits? – Dies ist die erste Frage des Abends. Es sind wenige.

Geboren wurde Lawrence Ferlinghetti 1919 in Yonkers, einem Stadtteil von New York. Seinen Vater traf er nie, seine Mutter musste sich früh in psychiatrische Behandlung begeben. Er wuchs zunächst bei einer Tante auf, die mit ihm nach Frankreich zog, später bei sehr wohlhabenden Zieheltern in den USA. Er studierte, fuhr zur See, meldete sich freiwillig zum Kriegsdienst, lag als Kapitän eines Schiffes vor der Küste, als die Alliierten 1944 in der Normandie landeten. Der Atombombenabwurf über Nagasaki, sagte er später, habe ihn augenblicklich zum Pazifisten gemacht.

Für die Kunstfreiheit vor Gericht

Ferlinghetti ließ sich in San Francisco nieder. Dort eröffnete er 1953 den City Lights Bookstore, die erste Buchhandlung, die ausschließlich Taschenbücher verkaufte – ein Affront gegen eine Gesellschaft, die Literatur als einen Luxusgegenstand betrachtete. Ein Jahr später gründete er den Verlag City Lights Books. Ferlinghetti verlegte Allen Ginsbergs Gedichtband "Howl", ein Buch, das unter dem Vorwurf der Obszönität beschlagnahmt wurde, einen Skandal auslöste. Vor Gericht erkämpfte er eine Kunstfreiheit, die heute längst selbstverständlich ist.

1955 dann veröffentlichte er mit "Pictures of the Gone World (Bilder der verschwundenen Welt)" seinen ersten eigenen Gedichtband. 1958 folgte "A Coney Island of the Mind (Eine Coney Island des Geistes)". Etwa eine Million Exemplare dieses Buches sind weltweit in Umlauf; es wurde in zwölf Sprachen übersetzt. "A Coney Island of the Mind" ist der mit Sicherheit meistverkaufte Gedichtband in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, vielleicht überhaupt.

Am 22. Februar 2021 starb Lawrence Ferlinghetti, einen Monat vor seinem 103. Geburtstag. Am 18. Februar sollte er noch, mittels einer Videoübertragung, teilnehmen an einer Veranstaltung des Stuttgarter Literaturhauses zur "Beat Generation", sagte jedoch krankheitshalber ab. An seiner Stelle war der Schriftsteller T.C. Boyle auf dem Bildschirm zu sehen.

Heute in der Rampe wie damals im Literaturhaus ist es der Kulturjournalist Manfred Heinfeldner, der spricht, gemeinsam mit Micha Piltz von der Montage Gruppe am Tag nach Ferlinghettis 105. Geburtstag einführt ins Leben und Werk des Dichters, Buchhändlers, Verlegers, Aktivisten. Die Montage Gruppe beschäftigt sich immer wieder montags in der Rampe mit Themen der Popkultur – dieses Mal also geht es um eine Lyrik, die Spuren hinterließ.

Gedichte mit visuellem Charakter

Die Frage, wie Ferlinghettis politischer Aktivismus heute zu bewerten sei, wird später in der Rampe zu einer angeregten Diskussion führen. An seiner Leistung als Verleger gibt es keinen Zweifel, ebenso wenig daran, dass die "Beat Generation" die Literatursprache nachhaltig veränderte, den Jargon aufnahm, den Blick aufs Alltägliche lenkte, Tabus brach. Der Rhythmus des Jazz sickerte hinein in die Texte dieser Autorengruppe. Mit ihrer offenen Form, getragen von Assoziationen, Wortspielen, Witz und dem Puls der Musik, kann man sie als eine frühe Form des Rap verstehen.

Dabei sah sich Lawrence Ferlinghetti selbst nicht als Mitglied der "Beat Generation". Er wollte Abstand halten, wies deshalb auch die Erstveröffentlichung von Jack Kerouacs Roman "On the Road" zurück – was er später bereute. Ferlinghetti suchte seine Vorbilder auch in Europa, verehrte Dichter wie Jacques Prevert, T.S. Eliot, Apollinaire, die Surrealisten. Politisches Engagement tritt bei ihm deutlich hervor; Themen wie Drogen, Sex, Spiritualität, die für die "Beat Generation" bestimmend waren, spielen in seinen Texten allenfalls eine Nebenrolle. Von Anfang an war Ferlinghetti auch Maler; als Lyriker entwickelte er einen eigenen Stil, der Zeilen, Satzfragmente, Bilder und Einfälle typografisch auf der Seite verstreut und dem Gedicht so einen visuellen Charakter gibt.

Und Ferlinghettis Stimme besitzt jenen singenden Ton, ist leise, zurückhaltend, ironisch, ohne jemals bitter zu werden. In der Rampe sitzt das Publikum und lauscht Aufzeichnungen von ihm, lauscht der Jazzmusik, die seine Lesungen begleitete. Der Abend führt in eine andere Welt, eine andere Zeit: Lange vor der digitalen Revolution war das, vor der Verbreitung des Fernsehens sogar. Vor 70 Jahren sorgten Dichterlesungen in San Francisco für knallvolle Häuser, junge Menschen strömten zu solchen Events, Lyrik war äußerst hip, die Poeten saßen scharenweise in den Cafés der Boheme beisammen. Was heute als "Poetry Slam" davon nachhallt, wirkt wie ein kläglicher Abklatsch. Einmal war das alles sehr ernst gemeint und man traute Gedichten zu, die Welt zu verändern.

Nationalfahnen zu Rotzfahnen

Die Gedichte, die Lawrence Ferlinghetti schrieb, erkennt man augenblicklich an ihrem Sound, an ihrer stillen, verschmitzten und engagierten Weise, die Welt zu betrachten. Über 70 Jahre hin schrieb Ferlinghetti seine Eindrücke nieder, knapp, klar, eigensinnig und versponnen. Er beobachtete seine Zeitgenossen, schilderte sie mit sanftem Spott, reagierte auf das Zeitgeschehen. Die Geschichte der US-amerikanischen Counter Culture, der linken Gegenkultur, bildet sich wie beiläufig in seinen Texten ab.

Ferlinghetti sah sich als Anarchist, setzte sich ein für den Schutz von Umwelt und Tieren. "Journal for the Protection of all Beings (Journal für den Schutz aller Wesen)", "Over All the Obscene Boundaries (Über all die obszönen Grenzen hinweg)" sind Titel einiger Bücher. Und der Mann, der 1968 schrieb: "Vor allen und jedem, der für den Frieden tötet & tötet & tötet, erhebe ich den Mittelfinger zum einzig angebrachten Gruß", schrieb auch ein ausnehmend schönes Katzengedicht: "The Cat / knows where Flies die /sees Ghosts in Motes of Air / and Shadows in Sunbeams // She hears / the Music of the Spheres and / the Hum in the Wires of Houses / and the Hum of the Universe / in interstellar Spaces / but / prefers domestic Places / and the Hum of the Heater (Die Katze / weiß, wo die Fliegen sterben / sie sieht Gespenster in den Staubwirbeln der Luft /und Schatten in Sonnenstrahlen // Sie hört / die Musik der Sphären und / das Summen der Leitungen im Haus / und das Summen des Universums / zwischen den Sternen / aber / sie zieht die heimeligen Orte vor / und das Summen der Heizung)."

Obschon international berühmt, blieb Ferlinghetti in Deutschland nahezu unbekannt; nur wenige seiner Texte lagen bisher als Übersetzungen vor. Ein Auswahlband, übertragen von Wulf Teichmann, erschienen 1980 bei Hanser; der Verlag Schöffling & Co. hat jüngst eine umfangreichere Sammlung vorgelegt, übersetzt von Ron Winkler. Ganz aktuell erschien im Kleinverlag Kupido ein umfangreicher Band mit Ferlinghettis Reisetagebüchern aus 50 Jahren: "Notizen aus Kreuz und Quer" – im Original: "Writing across the Landscape". Hellwach und schlagfertig bereiste der Dichter nicht nur die USA, Kuba, Nicaragua, Haiti, sondern – oft auf dem Weg zu literarischen Veranstaltungen – immer wieder auch Deutschland, Berlin, Köln, Wiesbaden.

Ende der 1960er-Jahre schon besuchte Ferlinghetti Mexiko, veröffentlichte sein Journal "The Mexican Night (Die mexikanische Nacht)". "Eine sehr einfache Revolution", schreibt er da, "könnte es im Nu richten: Verkündet ein sofortiges Moratorium, verbietet alle Bindungen, Partnerschaften und Ehen zwischen Menschen derselben Hautfarbe, jeder soll sich augenblicklich nach einer Verbindung mit jemandem einer anderen Hautfarbe umsehen, alle Nationalfahnen sollen als Rotzfahnen oder Bandagen in Entbindungskliniken verwendet werden, wo eine neue Generation von mehrfarbigen und -rassigen Babys zur Welt kommt."

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