An diesem kalten Abend im Spätherbst ist der Linke Laden voll. Kein Wunder: Heute dreht sich alles um seine Namensgeberin. Es ist ihr Todestag. Am 30. November 1944 wurde Gertrud Lutz, Widerstandskämpferin gegen das NS-Regime, in Dachau hingerichtet. Der Historiker Günter Randecker und der Publizist Michael Horlacher lesen aus Briefen vor, die Lutz in Gefängnissen und Konzentrationslagern verfasst hat. Sie haben die Dokumente 2010 veröffentlicht unter dem Titel "100 Jahre Gertrud Lutz geb. Schlotterbeck".
Gruppe Schlotterbeck – so wird das kommunistische Widerstandsnetzwerk genannt, dem Lutz angehörte. Sie und ihre Familienangehörigen und Freunde sammelten Informationen über die Rüstungsindustrie, wollten diese den militärischen Gegnern Nazi-Deutschlands zukommen lassen, verteilten Flugblätter und wurden dafür ermordet. Im Zuge einer "Sonderbehandlung", also einer außergerichtlichen Exekution, ließ die Gestapo vor genau 79 Jahren neun Mitglieder der Gruppe erschießen. Einzig Lutz' Bruder Friedrich Schlotterbeck gelang es, in die Schweiz zu fliehen. Erst als er am 9. Juni 1945 nach Stuttgart zurückkehrte und an die Tür des Hauses der Familie klopfte, erfuhr er, dass alle umgebracht worden waren. "Nur das Kind von Trude ist mir geblieben", schrieb er an jenem Tag.
Sein Erinnerungsbericht "Je dunkler die Nacht, desto heller die Sterne" erschien noch 1945 in der Schweiz und danach in mehreren Auflagen in der DDR. In Westdeutschland wurde das Buch erst 1986 publiziert. Nachdem Horlacher es gelesen hatte, ließ ihn ein Gedanke nicht mehr los: Was war aus dem Kind geworden? Erst 23 Jahre später gelang es ihm und Randecker, die Tochter von Gertrud Lutz, Wilfriede Heß, in Berlin ausfindig zu machen. Es stellte sich heraus, dass sie im Besitz der Briefe ihrer Mutter war. Ein Glückstreffer: "Zuvor war über sie kaum mehr publik, als dass sie die Schwester von Friedrich Schlotterbeck war", berichtet Horlacher im Gespräch mit Kontext. Ohnehin stehe die Gruppe zu wenig im gesellschaftlichen Fokus: "Schlotterbeck ist in die DDR abgehauen, hat sich zum anderen Deutschland bekannt, das war hier im Westen ein rotes Tuch. Überhaupt hat man das Gedenken an den kommunistischen Widerstand klein gehalten."
Trude Lutz lebt – im Herzen Tübingens
In dunklem Türkisgrün gehalten, fügt sich der Linke Laden unauffällig ins Tübinger Stadtbild ein. Erst ein Blick ins Schaufenster liefert einen Hinweis auf den Zweck der ehemaligen Ladenzeile: Zu sehen sind ein Portrait von Gertrud Lutz, eins der Kommunistin Clara Zetkin, eine rote Nelke; außerdem Topfpflanzen und ein großes Schild: "Herzlich willkommen". Öffnet man die Tür, bimmelt leise eine Glocke. Sofort fällt der Blick auf farbige Tafeln an der Wand: "Der Name des Linken Ladens erinnert an die Widerstandskämpferin und Kommunistin Gertrud Lutz. In dieser kleinen Ausstellung geht es um sie und ihren antifaschistischen Kampf." 1933 tippte sie, wie hier zu erfahren ist, Flugblätter: "Nieder mit der faschistischen Diktatur! Es lebe der Freiheitskampf des Proletariats!" Dafür wurde sie zu zwei Jahren und vier Monaten Haft verurteilt. Nach ihrer Freilassung zog sie zurück nach Stuttgart, heiratete, wurde 1942 Mutter. Zwei Jahre später nahmen die Nazis sie in Sippenhaft. Wie andere Mitglieder der "Gruppe Schlotterbeck" wurde sie monatelang verhört und vermutlich gefoltert – allerdings machte sie nie Angaben über ihre Kontakte zum Widerstand und wurde schließlich ohne Prozess wegen "Vorbereitungen zum Hochverrat" in Dachau erschossen.
2 Kommentare verfügbar
Peter Nowak
am 08.12.2023Vielleicht stellt Kontext auch andere Zentren in der Region vor, die nach Antifaschist*innen benannt wurden. Mir fallen dazu spontan die Stuttgarter…