"Ihr wisst nicht, was das ist?", sagt ein Aufseher, als Alex Sofer gemeinsam mit anderen Gefangenen ins Vernichtungslager Auschwitz gebracht wird und Rauch in der Ferne aufsteigt. "Da werden eure Familien verbrannt, die heute mit dem Lastwagen weggebracht wurden."
Unmittelbar nach der Befreiung der Lager beteiligt Sofer sich an der Verfolgung der Peiniger. Die ehemaligen Gefangenen werden von den alliierten Besatzungstruppen mit Waffen, später auch mit Motorrädern ausgestattet, durchkämmen Wälder und Dörfer nach Angehörigen der SS. Auch daran erinnert Alex Sofer sich. Er schreibt: "Ich hatte einen Durst nach dem Blut der Nazi-Bestien. Mit jedem erhängten SS-Mann fühlte ich eine Erleichterung in meinem schweren Gemüt."
Geboren wurde Alex Sofer am 5. Mai 1922 im Krynki, einem Ort im Osten Polens, heute unmittelbar vor der Grenze zu Belarus. Sein ursprünglicher Name war Abraham Soifer; den Namen, den er während des Krieges annehmen musste, behielt er bis zu seinem Lebensende. Als Soldat der Roten Armee geriet er 1941 in Kriegsgefangenschaft, floh, schloss sich Partisanen an, wurde gefasst, zum Tode verurteilt, konnte wieder entkommen, kam ins Ghetto von Krynki, wurde nach Auschwitz deportiert, von dort ins KZ Stutthof bei Danzig, schließlich nach Hailfingen und Dautmergen. Nach Kriegsende, von 1948 an, lebte er in Uruguay, heiratete dort seine Schulfreundin Rachel, eigentlich Ruchla. Ihr war er in Auschwitz wiederbegegnet. Er starb am 19. August 2002 in Montevideo. Seine Reise beginnt in seinen Erinnerungen mit der Beschreibung seiner Heimat, dem Leben in Krynki.
"So wurde unser Shtetl judenrein"
Sein "Shtetl Krynki" schildert Alex Sofer mit einiger Wärme: "In einem Tal zwischen sehr flachen Bergen, in der Feuersteinschicht Polens, in der Nähe von Białystok, liegt meine Geburtsstadt", schreibt er. In Krynki lebten nach Sofers Angaben etwa 10.000 Menschen, der größte Teil von ihnen Juden. 2012 besaß der Ort etwa 2.500 Einwohner; 2009 wurde ihm erneut das Stadtrecht zuerkannt.
Krynki galt als Arbeiterdorf, orthodoxe Juden traf man dort nicht an: "80 Prozent der Jugendlichen waren Atheisten, Zionisten, Bundisten, Kommunisten aus allen Parteien." Das Leben im Ort war gesellig und rege – Sofer beschreibt ausführlich die Anlage des Dorfes, die wichtigsten Persönlichkeiten im Ort, Brauchtum, Kultur, Gewerbe: "Krynki war bekannt für seine Gerbereien und seine Arbeiterbewegung, die bereits in den 1890er Jahren entstand. (…) In Krynki war der Klassenkampf nicht nur eine Theorie, die in Agitationsbroschüren geschrieben stand. Die umliegenden Städtchen, die keine Industrie hatten, betrachteten zwar zu jener Zeit den Sozialismus als eine Art Tand für wenige Intellektuelle und Aufgeklärte. Aber in Krynki galt die Idee der sozialen Revolution als Ziel fast der gesamten Jugend."
Nach ihrem Überfall auf Polen 1939 überließen die Deutschen aufgrund des Hitler-Stalin-Pakts Krynki zunächst der Roten Armee. 1941 dann griff Nazi-Deutschland die Sowjetunion an, Sofer wurde in die Rote Armee eingezogen. Er beschreibt die Ungewissheit der Menschen in Krynki, die zunehmende Verschlechterung der Lebensumstände, die Angst; sehr detailliert beobachtet er militärische Manöver. Exekutionen sind hier schon an der Tagesordnung. Mit vielen anderen wird er in Viehwagen gesperrt und abtransportiert – "So wurde unser Shtetl judenrein."
Eine Unmittelbarkeit, die betroffen macht
Die Selektion beginnt im Ghetto Krynki: "Dann kam ein anderer Deutscher und sagte, dass er 118 Personen separiert hat, darunter mich. Im gesamten Transport befanden sich 1.200 Personen. Der Befehl, den er bekommen hatte, lautete, 10 Prozent am Leben zu lassen." Man erfährt vom Leben im Lager, von Krankheiten, Durchfall, Hunger, von grober Arbeit, sadistischen Aufsehern und auch vom berüchtigten KZ-Arzt Josef Mengele. "Mengele, ein älterer Mann, groß, schlank, mit glänzenden Augen, ging üblicherweise mit großen Schritten, eine Hand im Mantel, eine Zigarette im Mund. So stand er auch an der Bahnstation, wenn die Transporte kamen und alle an ihm vorbei mussten. Mit einer einfachen Bewegung seines linken Zeigefingers schickte er Zehntausende in die Gaskammer; mit der gleichen Gelassenheit führte er die Selektionen bei Männern und Frauen durch."
Alex Sofers Erinnerungen besitzen eine Unmittelbarkeit, die betroffener macht als jedes nüchterne Geschichtsbuch. Seine Sprache ist voller Sehnsucht nach der verlorenen Heimat, voller Ohnmacht, Fatalismus, voller Hass. Was nicht nur der Krieg, was die zynische Menschenvernichtungsmaschinerie des Nationalsozialismus mit diesen Menschen, den Überlebenden, machte, das ist hier präsent - energisch und trocken.
Volker Mall: Krynki-Auschwitz-Hailfingen. Die Memoiren von Alex Sofer/Abraham Soyfer. Books on Demand (BoD), 292 Seiten, 24,99 Euro. Erhältlich im Buchhandel oder direkt online bei BoD.
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