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Memoiren von Alex Sofer

Erinnerung an die Vernichtungslager

Memoiren von Alex Sofer: Erinnerung an die Vernichtungslager
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Der polnische Jude Alex Sofer hat nach Kriegsende 1945 in einem Degerlocher Lager seine Erinnerungen an den Kampf gegen die Deutschen und das Leben in den Vernichtungslagern aufgeschrieben. Nun sind die auf Deutsch erschienen.

Es ist das Szenario eines Albtraums: die vielen Schatten der Gefangenen, die Silhouette des Offiziers, die Soldaten, die ihre Gewehre anlegen, die Verurteilten, die vor ihnen stehen, die Hallen, Umzäunungen des Lagers. Der Maler Ludovic de La Chapelle, ein Insasse des Konzentrationslagers Dautmergen, hat die Atmosphäre dieses Ortes in Bildern eingefangen, hat die Exekutionen gemalt. Alex Sofer, ein anderer Überlebender, hat sie beschrieben: "Es geschah nach Arbeitsende um 7 Uhr am Abend. Eine Gruppe von 11 SS-Männern mit Gewehren stand in der Mitte der Straße. Zwei Reihen von je elf zusammengebundenen Männern wurden hereingebracht. Die Verurteilten kamen mit gebeugten Häuptern herein und trugen nur Hemden und keine Schuhe. Ein Auto beleuchtete die Lagerstraße. Das ganze Lager stand an der Seite und beobachtete alles. Die Mörder-Offiziere schauten auf ihre Opfer. Es war totenstill. Plötzlich wurde die Stille durch den Ruf eines russischen Verurteilten unterbrochen: 'Genossen, wir sterben für die Freiheit! Tod den Mördern! Rächt euch!'"

Wenig später liegen 22 Menschen erschossen in ihrem Blut und über dem Konzentrationsaußenlager Dautmergen kreisen bereits die Flugzeuge der Alliierten. Dautmergen-Schömberg, nicht weit von Albstadt (heute im Zollernalbkreis), galt als eines der schlimmsten Lager in Süddeutschland; 15.000 Menschen wurden dort in einem Massengrab verscharrt. Alex Sofer gehörte zu jenen, die befreit wurden, als das Lager bereits zerstört war und die Gefangenen sich auf einem Marsch nach Altshausen bei Ravensburg befanden. Unmittelbar nach Kriegsende war Sofer dann in Stuttgart-Degerloch, in einem Lager für Displaced Persons, kurz: DP, Menschen, die vom Krieg entwurzelt worden waren. In dem Lager im ehemaligen Sanatorium Katz (Hohenwaldau) ermunterten ihn Mitarbeiter einer US-amerikanischen Zeitung dazu, seine Erinnerungen aufzuschreiben. Er tat es.

Alex Sofers Name tauchte schon vor 20 Jahren auf

Alex Sofer fasste seine Kriegsmemoiren auf Jiddisch ab und veröffentlichte sie später in seiner Wahlheimat Uruguay. Beate Schützmann-Krebs, eine Berliner Künstlerin und Sozialarbeiterin, stieß auf die im Internet zugänglichen Aufzeichnungen, übertrug sie ins Englische und informierte Ende 2021 den Herrenberger Volker Mall über ihre Entdeckung. Mall, pensionierter Lehrer, engagiert sich seit Langem für die regionale Aufarbeitung der NS-Geschichte. Er war im Wesentlichen verantwortlich für den Aufbau der KZ-Gedenkstätte Hailfingen-Tailfingen, die sich zwischen Herrenberg und Tübingen befindet. Gemeinsam mit seinem Kollegen Harald Roth forscht er seit vielen Jahren zu dem KZ-Außenlager, gestaltete die Gedenkstätte im alten Rathaus des Ortes Gäufelden-Tailfingen als Dokumentationszentrum, hat vielen Opfern mit aufwendigen Recherchen Gesicht und Geschichte zurückgegeben.

Auf Spuren von Alex Sofer stießen Mall und Roth dabei schon vor gut 20 Jahren: Im Archiv zum Lager Stutthof fanden sie eine "Häftlingspersonalkarte" mit seinem Namen. Durch den Hinweis von Beate Schützmann-Krebs bekam auch diese Nummer ein Gesicht – und erzählt nun ihre bittere Geschichte. Das Buch "Krynki-Auschwitz-Hailfingen: Die Memoiren von Alex Sofer/Abraham Soyfer" wurde jüngst veröffentlicht und am 9. November ‒ dem Jahrestag der Pogromnacht von 1938 ‒ in der Herrenberger Spitalkirche vorgestellt.

Volker Mall übertrug Sofers Text mit Einwilligung von Beate Schützmann-Krebs vom Englischen ins Deutsche, ergänzte ihn um zusätzliche Daten, Bildmaterial, Zeugnisse anderer Gefangener, stellte teils mehrsprachig das jiddische Original neben seine Übersetzung. Ein "Geschichtsbuch des zweiten Weltkriegs" entstand so, wie der Übersetzer und Herausgeber sagt, eines jedoch aus besonderer Perspektive: Geschrieben von einem Mann, der die Zerstörung seiner Heimat erlebte, im Widerstand gegen die Deutschen kämpfte, gefangen wurde, durch die Lager wanderte, tausendfach Gewalt, Grausamkeit, willkürliches Morden erlebte und der, nach dem Ende dieser Odyssee, selbst erfüllt war von Hass und Rachsucht.

Nach der Befreiung verfolgt Sofer seine Peiniger

"Ihr wisst nicht, was das ist?", sagt ein Aufseher, als Alex Sofer gemeinsam mit anderen Gefangenen ins Vernichtungslager Auschwitz gebracht wird und Rauch in der Ferne aufsteigt. "Da werden eure Familien verbrannt, die heute mit dem Lastwagen weggebracht wurden."

Unmittelbar nach der Befreiung der Lager beteiligt Sofer sich an der Verfolgung der Peiniger. Die ehemaligen Gefangenen werden von den alliierten Besatzungstruppen mit Waffen, später auch mit Motorrädern ausgestattet, durchkämmen Wälder und Dörfer nach Angehörigen der SS. Auch daran erinnert Alex Sofer sich. Er schreibt: "Ich hatte einen Durst nach dem Blut der Nazi-Bestien. Mit jedem erhängten SS-Mann fühlte ich eine Erleichterung in meinem schweren Gemüt."

Geboren wurde Alex Sofer am 5. Mai 1922 im Krynki, einem Ort im Osten Polens, heute unmittelbar vor der Grenze zu Belarus. Sein ursprünglicher Name war Abraham Soifer; den Namen, den er während des Krieges annehmen musste, behielt er bis zu seinem Lebensende. Als Soldat der Roten Armee geriet er 1941 in Kriegsgefangenschaft, floh, schloss sich Partisanen an, wurde gefasst, zum Tode verurteilt, konnte wieder entkommen, kam ins Ghetto von Krynki, wurde nach Auschwitz deportiert, von dort ins KZ Stutthof bei Danzig, schließlich nach Hailfingen und Dautmergen. Nach Kriegsende, von 1948 an, lebte er in Uruguay, heiratete dort seine Schulfreundin Rachel, eigentlich Ruchla. Ihr war er in Auschwitz wiederbegegnet. Er starb am 19. August 2002 in Montevideo. Seine Reise beginnt in seinen Erinnerungen mit der Beschreibung seiner Heimat, dem Leben in Krynki.

"So wurde unser Shtetl judenrein"

Sein "Shtetl Krynki" schildert Alex Sofer mit einiger Wärme: "In einem Tal zwischen sehr flachen Bergen, in der Feuersteinschicht Polens, in der Nähe von Białystok, liegt meine Geburtsstadt", schreibt er. In Krynki lebten nach Sofers Angaben etwa 10.000 Menschen, der größte Teil von ihnen Juden. 2012 besaß der Ort etwa 2.500 Einwohner; 2009 wurde ihm erneut das Stadtrecht zuerkannt.

Krynki galt als Arbeiterdorf, orthodoxe Juden traf man dort nicht an: "80 Prozent der Jugendlichen waren Atheisten, Zionisten, Bundisten, Kommunisten aus allen Parteien." Das Leben im Ort war gesellig und rege – Sofer beschreibt ausführlich die Anlage des Dorfes, die wichtigsten Persönlichkeiten im Ort, Brauchtum, Kultur, Gewerbe: "Krynki war bekannt für seine Gerbereien und seine Arbeiterbewegung, die bereits in den 1890er Jahren entstand. (…) In Krynki war der Klassenkampf nicht nur eine Theorie, die in Agitationsbroschüren geschrieben stand. Die umliegenden Städtchen, die keine Industrie hatten, betrachteten zwar zu jener Zeit den Sozialismus als eine Art Tand für wenige Intellektuelle und Aufgeklärte. Aber in Krynki galt die Idee der sozialen Revolution als Ziel fast der gesamten Jugend."

Nach ihrem Überfall auf Polen 1939 überließen die Deutschen aufgrund des Hitler-Stalin-Pakts Krynki zunächst der Roten Armee. 1941 dann griff Nazi-Deutschland die Sowjetunion an, Sofer wurde in die Rote Armee eingezogen. Er beschreibt die Ungewissheit der Menschen in Krynki, die zunehmende Verschlechterung der Lebensumstände, die Angst; sehr detailliert beobachtet er militärische Manöver. Exekutionen sind hier schon an der Tagesordnung. Mit vielen anderen wird er in Viehwagen gesperrt und abtransportiert – "So wurde unser Shtetl judenrein."

Eine Unmittelbarkeit, die betroffen macht

Die Selektion beginnt im Ghetto Krynki: "Dann kam ein anderer Deutscher und sagte, dass er 118 Personen separiert hat, darunter mich. Im gesamten Transport befanden sich 1.200 Personen. Der Befehl, den er bekommen hatte, lautete, 10 Prozent am Leben zu lassen." Man erfährt vom Leben im Lager, von Krankheiten, Durchfall, Hunger, von grober Arbeit, sadistischen Aufsehern und auch vom berüchtigten KZ-Arzt Josef Mengele. "Mengele, ein älterer Mann, groß, schlank, mit glänzenden Augen, ging üblicherweise mit großen Schritten, eine Hand im Mantel, eine Zigarette im Mund. So stand er auch an der Bahnstation, wenn die Transporte kamen und alle an ihm vorbei mussten. Mit einer einfachen Bewegung seines linken Zeigefingers schickte er Zehntausende in die Gaskammer; mit der gleichen Gelassenheit führte er die Selektionen bei Männern und Frauen durch."

Alex Sofers Erinnerungen besitzen eine Unmittelbarkeit, die betroffener macht als jedes nüchterne Geschichtsbuch. Seine Sprache ist voller Sehnsucht nach der verlorenen Heimat, voller Ohnmacht, Fatalismus, voller Hass. Was nicht nur der Krieg, was die zynische Menschenvernichtungsmaschinerie des Nationalsozialismus mit diesen Menschen, den Überlebenden, machte, das ist hier präsent - energisch und trocken.


Volker Mall: Krynki-Auschwitz-Hailfingen. Die Memoiren von Alex Sofer/Abraham Soyfer. Books on Demand (BoD), 292 Seiten, 24,99 Euro. Erhältlich im Buchhandel oder direkt online bei BoD.


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