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Auf der Straße

Es wird Nacht

Auf der Straße: Es wird Nacht
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Am Morgen im Bett höre ich draußen vor dem Fenster das Meeresrauschen. In Wahrheit sind es die Geräusche von Autoreifen auf der verregneten Straße. Man nennt es Airpumping. Es ist November und zwischen den kalten Tagen im Stuttgarter Kessel manchmal doch so feucht und warm wie im Sommer an der See. Wenn auch weniger gesund. Die Luft in meiner Gegend am Kernerplatz, über der Monsterbaustelle S 21, nimmt dir die Luft zum Atmen.

Zwei Jahre nachdem ich in diese Gegend gezogen bin, diagnostizierte der HNO-Arzt Kehlkopffunktionsstörungen und ich bin mir ziemlich sicher, dass meine oft heisere Stimme nicht vom Brüllen und Schreien kommt. Viel Zeit verbringe ich allein und schweigend. Telefonieren ist seit den digitalen Korrespondenzen mithilfe des Taschentelefons ohnehin aus der Mode. Und auf meinen Spaziergängen sage ich höchstens mal "Guten Tag"; in einer kleinen Stadt lassen sich Begegnungen mit Bekannten nur schwer vermeiden. Zwar knurre ich manchmal "verdammte Scheiße" in die Scheißatmosphäre, aber dafür bestraft dich der liebe Gott selbst im Trauermonat November nicht mit Heiserkeit.

Wenn ich an einer einschlägigen Kneipe vorbeikomme, erinnere ich mich beim Blick auf die Umgebung an das hässliche Gerede vom "Schönsaufen". Die dafür notwendigen Mengen Stoff könnte ich mir heute nicht mehr leisten.

Eine große Chance für den Spaziergänger, sich mit seiner Umgebung zu arrangieren, ist die Nacht. Das Licht im Dunkel. Wenn ich nach Sonnenuntergang die Därme und Schläuche unserer Bahnhofsbaustelle verlassen habe, wärmt mich das Herbstlaub, das auf einer toten Straße neben den vorbeirasenden Autos im Regen schimmert. Nicht alle Katzen sind grau in den verlassenen, vom Baugewühl malträtierten Gegenden der Stadt. Wo du nächtens aus kindischer Angst vor bösen Menschen ein schönes Lied summst. Happiness Is A Warm Gun. John Lennon hat diesen Spruch einst auf einer Waffenzeitschrift entdeckt. In den belebteren Teilen der Stadt hast du inzwischen mit immer brutalerem Reklamegeflimmer zu kämpfen. Es braucht längst nicht mehr nur Lärm, um den Spaziergänger zu betäuben. Licht genügt. Und schon röchelt er Highway To Hell.

Mein Leben als Wertschöpfungskette

Auf meinem Weg vom Kleinen Schlossplatz zum Plattenladen Second Hand Records leuchtet mir eine Vitrine des heimischen Außenwerbung-Unternehmens entgegen, weiße Buchstaben auf hartem Orange: "Ich werde digital". Dass ich diese Krankheit in mir trage, hatte ich schon länger vermutet. Jetzt wurde sie mir zur Gewissheit wie die Kehlkopffunktionsstörungen. Umgehend habe ich mit meinem Taschentelefon digital geprüft, was Digitalisierung bedeutet. Es hat mit dem lateinischen digitus (Finger) und dem englischen digit (Ziffer) zu tun, und das Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz (die lustigste Kooperation aller Zeiten) definiert die Sache so: "Die Kennzeichen der Digitalisierung sind die Virtualisierung und Vernetzung der realen Welt, das Teilen von Daten sowie die plattformbasierte Organisation von Wertschöpfungsketten. Das Besondere daran ist, dass Daten und Datenmodelle keinem physischen Verschleiß unterliegen und deshalb von mehreren Akteuren gleichzeitig und mehrfach genutzt werden können. Dies eröffnet zugleich eine hohe Skalierungsfähigkeit von Geschäftsmodellen und deren Organisation über Plattformen."

Da "Ich" nunmehr digitalisiert werde und dennoch ein dem Verschleiß unterliegendes Opfer von Finger & Ziffer bin, betrachte ich mich von jetzt an als plattformbasierte Organisation von Wertschöpfungsketten. Der Kauf von Schallplatten und deren Abspielen mittels Plattenspieler passen vermutlich nur bedingt in dieses System zur Vernetzung der realen Welt. Um meiner fleischlichen und geistigen Digitalisierung näherzukommen, habe ich inzwischen das dauerhafte "Kaminfeuer" eines Senders auf meinem digital gesteuerten Fernseher gespeichert. So kann ich mir jederzeit zu flackernden Flammen und knisternden Holzscheiten Country-Songs von Vinylscheiben anhören. Würde ich mir dazu noch eine Flasche Bourbon und eine Cohiba reinziehen, wäre das zwar eine Problem für meinen Kehlkopf und die Rauchmelder. Aber eine völlig neue Wertschöpfungskette in heimischer Mietwohnungskulisse.

Es gibt nicht den geringsten Grund, sich über die Digitalisierung lustig zu machen, so wenig wie über jede andere Revolution seit 1789. Nur aus Gründen der Realsatire muss ich noch mal die Online-Poesie aus dem Wirtschaftsministerium zitieren: "Die Digitalisierung begegnet uns überall – und hat die Art, wie wir arbeiten und leben, stark verändert. Videokonferenzen sind in vielen Berufen längst üblich, Menschen bestellen Lebensmittel immer mehr online, Urlaub buchen sie zunehmend im Internet."

Post und Faschismus

Anscheinend aber bestellen Menschen nicht nur Lebensmittel und Urlaubsreisen online, sondern jeden Dreck, den kein Mensch braucht. Womöglich ist das die Ursache, warum ich wochenlang keine Post geliefert bekomme – und Mitte November einen Brief erhalte, der Anfang Oktober abgeschickt wurde. Und erst neulich hat mich wieder meine Bank angerufen, ob ich umgezogen sei: Ein Brief sei als "unzustellbar" zurückgekommen. Damit klar ist: Der Brief enthielt weder eine Mahnung noch eine Drohung. Ich bin nicht abgetaucht, sondern sitze nach wie vor in derselben Bude vor demselben digitalen Kaminfeuer und höre dieselben Lieder. Und an meinem Briefkasten steht in gut lesbaren Buchstaben mein in unserem Landstrich nicht ganz ungewöhnlicher Name.

Mag sein: Ich schwelge in Privatproblemen, die auch mit einer Beschwerde bei der Post nicht zu lösen waren. Ein Postbote, den ich als Gewerkschafter kenne, hat mir erzählt, dass er und seine Kollegen schon lange völlig überlastet seien, weil ihre Zustellbezirke immer größer würden. Als digitalisiertes Ich darf ich guten Gewissens sagen: Bei dieser Angelegenheit geht es nicht mehr nur um ein Einzelschicksal namens Bauer. Es wird Nacht und düster: allenthalben mehr Arbeit, weniger Geld.

Dennoch habe ich Hemmungen, angesichts der Weltlage und der leibhaftigen Boten des Postfaschismus meine Briefverkehrsstörungen in meine digitalisierte Schreibmaschine zu tippen. Aber was willst du machen, wenn du deinem digitalisierten Ich begegnet bist.

Eine altersbedingte Neigung zur Dunkelheit

Dieser Tage habe ich mir nach einer etwas deprimierenden abendlichen Ausscheidung aus den Därmen unserer Bahnhofsruine überlegt, ob es nicht besser wäre, für immer Nachtspaziergänger zu werden. Herumstiefler im lärmenden Licht der Finsternis. Falls ja, muss mir klar sein, dass der Nachtschwärmer nicht von der Nacht schwärmt. Vielmehr wendet er sich aufgrund einer altersbedingten Neigung der Dunkelheit zu, der verlockenden Schwester des Tageslichts. Und geht in ihr verloren.

Die Nacht ist ein Mythos, und beim Aufschreiben ihrer Reize sollte man ihr nicht auf den Leim gehen, am allerwenigsten nachts. Quentin Tarantinos Lieblingsautor Charles Willeford hat einmal gesagt: "Falls du nachts eine gute Idee hast, steh nicht auf und schreib sie auf. Wenn du das tust und es dann am nächsten Morgen liest, wird es wie etwas aussehen, das du mitten in der Nacht aufgeschrieben hast."

Diese Tagebuchzeilen hier, das schwöre ich, habe ich nicht in der Nacht geschrieben. Ich habe sie an einem Morgen getippt, nachdem ich nachts wieder mal auf keine Idee kam, welchen Sinn der nächste Tag noch haben könnte.


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1 Kommentar verfügbar

  • Dieter Rebstock
    am 29.11.2023
    Antworten
    Wer nachts spazieren geht, muss auch Charles Willeford lesen. Mehr gibt es dazu nicht zusagen.
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