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Widerstand gegen den Nationalsozialismus

"Wir wollten die Nazis heraushauen"

Widerstand gegen den Nationalsozialismus: "Wir wollten die Nazis heraushauen"
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Als die Nationalsozialisten vor 90 Jahren beginnen, Politik und Gesellschaft gleichzuschalten, will ihnen in Stuttgart der Eisenbahner Karl Molt bewaffnet entgegentreten. Auch später beweist er, dass Widerstand in der NS-Zeit möglich war. Heute ist Molt fast vergessen.

In der Nacht vom 7. auf den 8. März 1933 liegen 2.000 bewaffnete Männer in den Wäldern rings um Stuttgart. Es sind Kämpfer des Reichsbanners Schwarz-Rot-Gold, einer republiktreuen paramilitärischen Organisation, und mobilisiert hat sie Karl Molt, SPD-Mitglied und Gewerkschafter aus Stuttgart-Sillenbuch. Seit der Ernennung Adolf Hitlers zum Reichskanzler am 30. Januar hat er mit seinen Genossen immer wieder darüber gestritten, wie und wann man endlich gegen die Nazis zuschlagen solle, um die Republik und die Demokratie zu verteidigen. Als die Nationalsozialisten kurz nach der Reichstagswahl am 5. März immer offener zeigen, dass sie auch in Württemberg die Macht übernehmen wollen, will sich Molt nicht mehr beschwichtigen lassen.

"Als alle den Kopf verloren haben", erinnert sich Molt später in einem Brief, lässt er die Reichsbanner-Leute Waffen aus Verstecken holen und Stellungen beziehen: "Wir wollten in dieser Nacht die Nazis aus allen von ihnen besetzten Punkten heraushauen". Doch es kommt anders.

Karl Molt ist zu diesem Zeitpunkt 41 Jahre alt und schon lange politisch aktiv. Mit 18 Jahren, 1909, tritt der gelernte Feinmechaniker der SPD und der Gewerkschaft bei, erst dem Deutschen Metallarbeiter-Verband (DMV), dann der Eisenbahnergewerkschaft. Wie sein Vater arbeitet er für die Reichsbahn, seit 1911 im Bahnhof in Bad Cannstatt, wo er Oberwerkmeister im Telegraphenbau wird und bis Ende 1927 Vorsitzender des Betriebs- und Beamtenbundes. Dann wechselt er als Hauptamtlicher ins Stuttgarter Gewerkschaftshaus.

Streik der Arbeiter gegen Kapp-Putsch zeigt ihre Macht

Geprägt hat Molt, wie im März 1920 die Arbeiterparteien auf den Putsch antirepublikanischer Kräfte um Erich Ludendorff, Walter von Lüttwitz und Wolfgang Kapp in Berlin reagieren: SPD, KPD, USPD und Gewerkschaften rufen im ganzen Reich zum Generalstreik auf. Durch den bis heute größten Streik in der deutschen Geschichte bricht der Kapp-Putsch in sich zusammen, die Weimarer Republik ist erst einmal gerettet.

Schon bald danach tritt Karl Molt dem Wanderklub Schwaben bei, einer Geheimorganisation, die die Republik verteidigen möchte. Sie ist ein Vorläufer des Reichsbanners Schwarz-Rot-Gold, das 1924 gegründet wird. Molt wird Gauführer und technischer Leiter in Württemberg, ist damit zuständig für den Aufbau der paramilitärischen Einheiten.

Dem Reichsbanner gehörten vor allem ehemalige Soldaten an, Aktivisten der Novemberrevolution, Mitglieder der damaligen Arbeiter- und Soldatenräte. Politisch stehen sie der SPD nahe oder sind Parteimitglieder. Dazu kommen einige Männer aus der liberalen DDP und der katholischen Zentrumspartei. Das Ziel: die Verteidigung der Weimarer Republik gegen alle republikfeindlichen Gruppen.

Molt trainiert die Reichsbanner-Gruppen

Politischer Führer des Reichsbanners in Stuttgart und Württemberg ist der junge Kurt Schumacher, der nach dem Zweiten Weltkrieg Vorsitzender der SPD und Oppositionsführer im ersten Deutschen Bundestag werden sollte. Schumacher ist damals zunächst Landtags-, ab 1930 Reichstagsabgeordneter für den Wahlkreis Stuttgart. Etliche Fotos von damals zeigen den großen und hageren Schumacher neben dem klein gewachsenen Karl Molt.

Als nach dem großen Erfolg der NSDAP bei den Reichstagswahlen Ende 1930 der Straßenterror der SA zunimmt, ist Molt in Alarmbereitschaft. Er arbeitet zwar hauptamtlich bei der Gewerkschaft der Eisenbahner, doch in seiner freien Zeit trainiert er die Kameradschaften der Reichsbanner-Schutzformationen. Molts Männer sind uniformiert, treffen sich zu paramilitärischen Übungen – zum Beispiel auf dem Gelände des Waldheims und des Kraftsportvereins in Stuttgart-Heslach. Außerdem erlernt man den Umgang mit der Waffe. Auch in anderen Orten im Deutschen Reich besitzen die Schutzformationen des Reichsbanners leichte Waffen und geheime Depots.

Mit drei Millionen Mitgliedern – nach eigenen Angaben – ist das Reichsbanner eine der größten Massenorganisationen in der Zeit der Weimarer Republik. Eine sichere Bank also für alle Republikaner, sollte man meinen. Als "demokratisches Bollwerk" gilt auch das mächtige Land Preußen, das seit 1919 sozialdemokratisch regiert wird. Drei Fünftel aller Bewohner des Reichs leben hier, wer also die Republik zerschlagen will, muss in Preußen erfolgreich sein.

Rechte Generalprobe: der "Preußenschlag"

Genau das passiert im Sommer 1932 unter der reaktionären Reichsregierung Franz von Papens. Kaum im Amt, hebt von Papen das Verbot der SA auf. Das löst unmittelbar eine Welle der Gewalt aus, führt zu unzähligen politisch motivierten Saalschlachten, Straßenkämpfen, Bombenanschlägen.

Von Papen erklärt nun, der SPD-geführten Regierung in Preußen gelinge es nicht, Sicherheit und Ordnung zu garantieren; daher übernehme er in dem Land selbst die Leitung der Regierung. Über Berlin und Brandenburg verhängt er den Ausnahmezustand; zentrale Grundrechte werden außer Kraft gesetzt, republikanische Beamte und demokratisch gesinnte Polizeipräsidenten werden durch "national eingestellte" Männer ersetzt. Es ist ein Staatsstreich, der als "Preußenschlag" in die Geschichte eingehen wird. Gedeckt wird er durch zwei Notverordnungen, die Reichspräsident Paul von Hindenburg unterschrieben hat.

Doch die SPD schaut diesem Treiben nahezu tatenlos zu. Genauso die Gewerkschaften und das Reichsbanner. Keine Massendemonstrationen, kein Generalstreik. Jetzt ist den Nazis klar, dass sie kaum mit Gegenwehr zu rechnen haben, wenn sie die Macht im Staate übernehmen würden. Ihr Chefpropagandist Joseph Goebbels notiert am 20. Juli in sein Tagebuch: "Man muss den Roten nur die Zähne zeigen, dann kuschen sie. SPD und Gewerkschaften rühren nicht einen Finger."

Um einen Generalstreik durchzuführen, hätten die beiden großen Arbeiterparteien SPD und KPD zusammenarbeiten müssen. 1920 hieß das "Einheitsfront". Doch in den Folgejahren bekämpfen sich die beiden Parteien immer heftiger; man beschuldigt sich gegenseitig sogar, faschistisch oder "sozialfaschistisch" zu sein. Und unterschätzt die Gefahr von rechts.

SPD und Gewerkschaften unterschätzen Hitler

Am 30. Januar 1933 ernennt Hindenburg Adolf Hitler zum Reichskanzler. Die beiden lösen den Reichstag auf und schreiben Neuwahlen für den 5. März aus. Sofort ruft die KPD überall zum Generalstreik auf, doch außer in Mössingen bei Tübingen wird der nirgendwo befolgt. SPD oder die Gewerkschaften rufen nicht zum Streik auf. Sie wollen abwarten. Die SPD-Spitze erklärt zwar in einem Aufruf an die Mitglieder, "die Lebensinteressen der gesamten Arbeiterschaft" stünden auf dem Spiel. Aber jetzt seien "kühles Blut und Besonnenheit erstes Gebot". Und: "Lasst euch nicht zu voreiligen und darum schädlichen Einzelaktionen verleiten." SPD-Co-Fraktionschef im Reichstag Rudolf Breitscheid gibt die Devise aus: "Wir müssen alles tun, um im Einzelnen gerüstet zu sein für den Moment, wo Hitler von der Demokratie abweicht." Und Theodor Leipart, der Vorsitzende des Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbundes (ADGB) erklärt: "Organisation, nicht Demonstration, das ist das Gebot der Stunde."

Dies enttäuscht Leute wie Karl Molt in Stuttgart. Täglich warten sie auf den Befehl, gegen die Nazis loszuschlagen, doch er kommt nicht.

Am 1. Februar spricht Kurt Schumacher nach einer Demonstration bei einer Kundgebung auf dem Stuttgarter Marktplatz vor 7.000 bis 8.000 Anhängern. Molt und das Reichsbanner schützen die Demo und die Kundgebung. Schumacher wettert gegen die Kommunisten und unterschätzt die Nazis. In den Folge-Wochen nimmt der Terror der SA zu. Ohne den Schutz des Reichsbanners könnte die SPD keine Wahlversammlung abhalten, Molt und seine Leute sind bald täglich gefordert.

Von fairen Wahlen oder Waffengleichheit kann vor dem 5. März nicht die Rede sein. Dies trifft vor allem die Kommunisten. Nach dem Reichstagsbrand am 27. Februar setzt die Reichsregierung per "Notverordnung zum Schutz von Volk und Staat" etliche Grundrechte außer Kraft. Auch in Württemberg werden sämtliche Veranstaltungen und Druckschriften der KPD verboten.

"Es wäre uns in Stuttgart geglückt"

Das Ziel der absoluten Mehrheit können die Nazis bei den Wahlen am 5. März dennoch nicht erreichen. Reichsweit kommt die NSDAP auf 43,9 Prozent, in Württemberg auf 41,9, in Stuttgart auf gerade mal ein Drittel der Stimmen.

Gleichschaltung nach der Reichstagswahl

Nachdem Adolf Hitler am 30. Januar 1933 von Reichspräsident Paul von Hindenburg zum Reichskanzler ernannt worden ist und Neuwahlen angesetzt hat, kann die neue Regierung die Arbeit ihrer politischen Gegner zwar schon einschränken, aber noch in beschränktem Maße. Das ändert sich teils schon nach dem Reichstagsbrand am 27. Februar: Die Reichsregierung beschließt die „Notverordnung zum Schutze von Volk und Staat“, mit deren Hilfe sie Grundrechte der Weimarer Verfassung außer Kraft setzen kann. In manchen Ländern wird davon ausgiebig Gebrauch gemacht, gibt es Massenverhaftungen von KPD-Mitgliedern. In Württemberg aber sträubt sich Staatspräsident Eugen Bolz von der Zentrumspartei gegen die Umsetzung – zumindest teilweise: Es gibt keine Massenverhaftungen, aber kommunistische Zeitungen, Flugblätter, Plakate, Veranstaltungen werden verboten.

Das ändert sich rasant nach der Wahl vom 5. März. Nach eher symbolischen Aktionen (Hissen von Hakenkreuz-Fahnen) am 6. und 7. März ernennt am 8. März die Reichsregierung in Berlin den SA-Gruppenführer Dietrich von Jagow zum Reichskommissar für die württembergische Polizei. Begründung: Die Landesregierung könne die Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung nicht mehr gewährleisten. Die Regierung Bolz ist damit entmachtet. Von Jagow baut sofort eine Hilfspolizei auf, rekrutiert aus SA und SS, und in der Nacht vom 10. auf den 11. März beginnt nun auch in Stuttgart eine Verhaftungswelle von KPD-Funktionären. Die Festgenommenen kommen erst in Sammelstellen und kurz danach ins neue KZ Heuberg bei Stetten am Kalten Markt.

Am 16. März verliert von Jagow seine umfassende Machtposition, denn der Landtag wählt Wilhelm Murr, bisher NSDAP-Gauleiter für Württemberg, zum neuen Staatspräsidenten. Murr ernennt am gleichen Tag den bisherigen Vorsitzenden der NSDAP-Gemeinderatsfraktion Karl Strölin zum Staatskommissar für die Verwaltung Stuttgarts, OB Karl Lautenschlager ist damit de facto entmachtet. (os)

Trotzdem wollen die Nazis jetzt auch in den Ländern, den Städten und Gemeinden zeigen, dass sie das Sagen haben. An Rathäusern oder Landtagsgebäuden werden Hakenkreuz-Fahnen gehisst, auch in Stuttgart. Als Karl Molt dies mitbekommt, ist für ihn endgültig klar, dass die Nazis mit Wahlen nicht besiegt werden können. Er mobilisiert die Reichsbanner-Kämpfer.

Die Nazis "herauszuhauen", so schreibt er im Rückblick, "das wäre uns auch für Stuttgart gelungen, wohl sehe ich heute, dass es auf Stuttgart begrenzt geblieben wäre und wir schon in den nächsten Tagen zusammenkartätscht worden wären." Und doch wäre die Aktion damals eine, vielleicht die letzte Chance gewesen. Aber der Parteiführung – auch Kurt Schumacher – ist die Aktion zu riskant; sie verweigert den Schießbefehl. "Die Herren Parteibonzen haben mich an der Herausgabe (der Befehle) durch ihr Intrigenspiel behindert, so dass ich den Einrückbefehl geben mußte, welcher auch in vollständiger Ordnung vor sich ging."

Molt muss fliehen

Jetzt geht es für die SPD Schlag auf Schlag. Ihre Parteizeitung "Schwäbische Tagwacht" wird verboten. Schumacher wird vom 13. Juni an steckbrieflich gesucht. Am 22. Juni verbieten die Nazis die SPD, am 6. Juli 1933 wird Schumacher in Berlin verhaftet. Viele Reichsbanner-Mitglieder und andere NS-Gegner sind schon Wochen oder Monate vorher verhaftet worden, etliche nach der gescheiterten Aktion in Stuttgart.

Auch Karl Molt wird kurz nach der Aktion steckbrieflich gesucht – wegen Hochverrats und Vergehens gegen das Waffengesetz. SS-Leute überfallen sein kleines Reihenhäuschen in der Genossenschaftssiedlung in Sillenbuch, die Polizei durchsucht sein Büro im Gewerkschaftshaus. Er taucht unter und versteckt sich bei Freunden und Genossen.

Monatelang versucht Molt noch, aus dem Untergrund den Widerstand aufrecht und die SPD und das Reichsbanner zusammenzuhalten. Doch die Luft wird immer dünner. Er flieht zunächst nach Paris, später in die Schweiz, nach Rorschach am Bodensee. Er hat alles verloren und lebt von einer spärlichen Flüchtlingshilfe.

Molt versucht nun von der Schweiz aus, den Widerstand gegen das NS-Regime zu organisieren. Auch und besonders den der Eisenbahner. Er knüpft Verbindungen zu anderen Widerständlern, baut ein verzweigtes Netzwerk in Württemberg auf. Doch kurz vor Kriegsausbruch 1939 wird die Gruppe durch die Gestapo zerschlagen.

Für Karl Molt ist dies eine Katastrophe. Die Internationale Transportarbeitergewerkschaft bricht aus Sicherheitsgründen den Kontakt ab. Seine Frau trennt sich von ihm. Selbst in der Schweiz ist er jetzt nicht mehr sicher; er wird verhaftet, die Auslieferung nach Deutschland wäre der sichere Tod. Molt gelingt die Flucht. Bis Kriegsende kann er sich mithilfe von Schweizer Freunden verstecken.

1945 kehrt Molt nach Stuttgart zurück, spricht sich für eine Vereinigung der Linken aus, also eine Sozialistische Einheitspartei. Er arbeitet wieder hauptamtlich für die Eisenbahnergewerkschaft, wird deren Bezirksleiter für Baden-Württemberg. Zur SPD, deren Mitglied er bleibt, pflegt er ein eher distanziertes Verhältnis, unterstützt später eine sogenannte Sozialistische Aktion und die Deutsche Friedens-Union DFU. Selbst in den schlimmsten Zeiten des Kalten Krieges stellt er seine Mitgliedschaft in der Vereinigung der Verfolgten des Nazi-Regimes (VVN) nie in Frage – obwohl es bei der SPD einen Unvereinbarkeitsbeschluss gibt, da die VVN kommunistisch unterwandert sei.

Am 8. November 1978 stirbt Karl Molt. Als Widerstandskämpfer bleibt er in Stuttgart bis heute nahezu unbekannt.
 

Der vorliegende Text basiert auf Recherchen, die der Autor und Filmemacher Hermann G. Abmayr für die zweiteilige SWR-Dokumentation über "Eisenbahner im Widerstand" gemacht hat. Der erste Teil (1933 – 1939) befasst sich unter anderem mit Karl Molt. Online anzuschauen sind sowohl Teil 1 als auch Teil 2 (1940 – 1945).


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1 Kommentar verfügbar

  • Karl Heinz Siber
    am 01.03.2023
    Antworten
    Es ist schade, dass nach Karl Molt in Stuttgart nicht einmal eine Straße (oder wenigstens eine Staffel) benannt ist. Sicher: Dem Gescheiterten wird meist kein Gedenken zuteil, auch wenn er das moralisch Richtige getan und heldenhaft dafür gekämpft hat. Die Mehrheitsgesellschaft widmete Karl Molt…
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