KONTEXT:Wochenzeitung
KONTEXT:Wochenzeitung

Immobilienmarkt in Stuttgart

Ein lebenswertes Zuhause

Immobilienmarkt in Stuttgart: Ein lebenswertes Zuhause
|

Datum:

Angela Gerace lebte fast ein halbes Jahrhundert lang unbehelligt in einer Wohnung im Stuttgarter Westen. Dann landete die Immobilie auf dem Markt. Zweimal ist Angela Gerace mitverkauft worden. Nun hat sie die zweite Räumungsklage gewonnen.

Es ist fünf nach zwölf Uhr mittags und Sandra Gerace weint. Eine halbe Stunde hat die Verhandlung am Amtsgericht Stuttgart gedauert, nochmal eine halbe bis zur Urteilsverkündung. Drei Mal war sie in den vergangenen zwei Jahren vor Gericht. Und jetzt: hat sie gewonnen. Ihre Mutter, 75 Jahre alt, wird nicht geräumt und darf in ihrer Wohnung bleiben. Zumindest bis die Vermieter sich etwas Neues einfallen lassen.

Seit Anfang 2019 begleiten wir die beiden Frauen, Mutter Angela und Tochter Sandra Gerace. Angela Gerace lebt seit 1970 in einer Wohnung im Stuttgarter Westen, Reinsburgstraße, das Haus stammt aus den 1950ern. Jahrzehnte wohnte Gerace dort unbehelligt, bis das Haus an Immobilienspekulanten verkauft wurde. Seitdem ist es vorbei mit dem ruhigen Leben.

Anfangs war das Haus in Privatbesitz, der Vermieter kam manchmal zu Besuch zu Frau Gerace ins erste OG links. Er mochte ihre alten "Hundle" und ihren Kaffee, das Verhältnis sei sehr gut gewesen. Dann verkaufte er das Gebäude an die Stuttgarter Immobilienfirma Schwäbische Bauwerk, weil die im Internet auf den ersten Blick einen schwäbisch-soliden Eindruck machte. "Vermietung ist für uns mit viel Verantwortung verbunden, deshalb legen wir bei unserer Arbeit großen Wert auf Qualität und Nachhaltigkeit", verspricht die Firma auf ihrer Homepage. Auf den zweiten Blick entpuppte sie sich als "einer der größten Wohnungsspekulanten" der Stadt, der "seine Mieter besonders rücksichtslos auspresst", wie der Mieterverein sagt (Kontext berichtete).

Die Schwäbische Bauwerk schickte kurz nach dem Kauf 2019 einen Brief, der ankündigte, die Miete steige von sehr günstigen 400 Euro kalt (466,76 warm) auf teure 1.065,51 Euro kalt. Das Haus, hieß es, würde modernisiert, neue Fenster, Alarmanlage, Aufstockung, Außenaufzug. Frau Gerace und die restlichen Mieter der insgesamt zwölf Wohnungen könnten aber "zum Ablauf des übernächsten Monats kündigen".

Angela Gerace ist eine resolute Frau, Schwäbin, ihre Rente ist klein, ihre Wohnung penibel sauber, eine gepflegte und geliebte Heimat seit 53 Jahren. Damals hat sie bei der Post gearbeitet. Heute ist Gerace Rentnerin mit 40-prozentiger Behinderung. 1.000 Euro im Monat kalt kann sie sich nicht leisten. Zunächst ist sie verzweifelt. Was um Himmels willen tun? Ihre Ärzte sind in der Nähe, Einkaufsmöglichkeiten, eine Bushaltestelle vor der Tür, nicht zu vergessen das Herz, das an diesen vier Wänden hängt, in denen sie den größten Teil ihres Lebens verbracht hat. Eine vergleichbar günstige Wohnung? In der Stuttgarter Innenstadt? Es klingt wie ein Scherz. Ihr Zuhause also aufgeben?

Dürfen die das?

Unterstützt von ihrer Tochter Sandra nimmt sie sich stattdessen einen Anwalt. Auch, weil sie plötzlich von der Schwäbischen Bauwerk Briefe bekommt. Zum Beispiel wegen eines Schilds, das seit Jahren und mit Erlaubnis des alten Hausbesitzers an einem Nagel an der Wohnungstür hängt. Sie habe fremdes Eigentum beschädigt, meinen die neuen Hausbesitzer, Gerace müsse eine neue Tür kaufen. Sie hat ihren Balkon auf der Innenseite neu gestrichen, auf eigene Rechnung und ebenfalls mit Erlaubnis des Vorbesitzers, weil irgendwann in 50 Jahren Mietverhältnis der Lack abgeblättert war. Die Schwäbische Bauwerk kreidet ihr auch das an. Die Farbe passe nicht. Ein Kämmerle vor der Tür, das sie seit ihrem Einzug und immer problemlos als Abstellkammer für Putzzeug nutzte, wird ihr abgenommen. Das sei nicht mitvermietet, heißt es. Aus Überforderung mit beinahe dreifachen Mietforderungen, aus Trauer über den möglichen Verlust der Wohnung wird Wut. Dürfen die das?

Tochter Sandra fängt an, sich mit Mietrecht auseinanderzusetzen. Welche Rechte haben Mieter:innen gegenüber Hausbesitzern? Wen muss sie laut Gesetz in die Wohnung lassen? Weil die Schwäbische Bauwerk auch andernorts in der Stadt ähnlich unverschämt agiert, berichtet die Presse über ihren Fall. Der Mieterverein schaltet sich ein. Die Immobilienfirma möchte damals nicht mit Kontext sprechen. Nach mehreren Anfragen schickt der Chef, der Verantwortliche für all die Tränen und durchwachten Nächte, seine Mutter vor, die ausrichtet, er sei nicht zu sprechen.

Von einer Immo-Firma zur nächsten

Die Schwäbische Bauwerk lässt ein paar Monate später ab von dem Haus in der Reinsburgstraße. Und verkauft es an die Protectum GmbH aus Fellbach. "Unser Ziel ist es, dass wertvollste Gut des Menschen – die eigene Immobilie – für Jedermann zu realisieren (…). Im Vordergrund steht hierbei immer die Erfüllung eines Grundbedürfnisses der Menschheit – ein lebenswertes Zuhause!", heißt es auf der Homepage.

Wieder soll modernisiert werden, diesmal ohne Außenaufzug, die Arbeiten fangen im Mai 2020 an. Die neuen Eigentümer sind nett und beruhigend in Gesprächen, aber das waren die Leute von der Schwäbischen Bauwerk anfangs auch. Die Geraces sind wachsam geworden. Mutter Gerace hat gelernt, dass eine Bleibe, die einem nicht selbst gehört, kein sicherer Hafen ist. Und dass jeder Schritt ab jetzt wohlüberlegt sein muss, wenn sie später keine böse Überraschung erleben möchte.

Gegen die Modernisierung ihrer Wohnung legt sie Einspruch ein. Und wieder stellen sich Fragen: Welche rechtlichen Folgen hat es, wenn sie zwar der Modernisierung widerspricht, Handwerker aber trotzdem in die Wohnung lässt? Welche, wenn sie den Zutritt verweigert? Einen Fensterbauer lässt sie zunächst nicht rein, weil die Termine zur Ausmessung neuer Fenster von der Protectum nur Tage zuvor angekündigt worden waren. Letztlich misst der Handwerker dann doch aus.

Eine Abmahnung bekommt Gerace trotzdem: "Die von Ihnen verweigerte Modernisierungsmaßnahme wird beim Amtsgericht Stuttgart geklärt", schreibt die Protectum. Weitere Abmahnungen folgen, weil Angela Gerace die Tür nicht öffnet für Arbeiten, die nicht Teil der Modernisierungsankündigung der Immobilienfirma sind. Die versucht ihrerseits, das Mietverhältnis mit der "schwierigen Mieterin" zu kündigen, letztlich per Räumungsklage.

Die Geraces sind mittlerweile immer in Hab-Acht-Stellung. Eine Menge Briefe gehen zwischen ihnen und der Protectum hin und her, Mutter und Tochter haben Angst, die Immo-Firma ist entnervt. Monatelang ist es während der Umbauarbeiten laut im Haus, Staub und Dreck kriechen unter den Türen durch, weil die Handwerker nie sauber machen, wenn sie fertig sind. Die beiden Frauen meinen, das sei Absicht, um den noch verbliebenen Bewohner:innen – einige sind bereits ausgezogen – das Leben ungemütlich zu machen, bis auch sie gehen.

Der Streit geht vor Gericht

Dann kommt es zum Streit mit den Handwerkern. Im Urteil des Amtsgerichts Stuttgart, das im Mai 2021 die Räumungsklage verhandelt, steht unter anderem: "Am 21.09.2020 packte einer der Mitarbeiter der Firma (...) die Beklagte am Arm und hauchte dieser ins Gesicht: 'Corona! Hahaha!' Der Mitarbeiter wollte sich dabei außerdem gewaltsam Zugang zur Wohnung der Beklagten verschaffen. Am 22.9.2020 schlugen zwei Mitarbeiter der Firma (...) gegen die Wohnungstür der Beklagten, woraufhin diese die Polizei alarmierte." Sandra Gerace kauft sich Pfefferspray, einmal wird es zum Einsatz kommen.

Vor dem Amtsgericht bekommen die Geraces vollumfänglich Recht. Der Fensterbauer zum Beispiel hätte mindestens eine Woche und nicht nur Tage vor seinem Besuch angekündigt werden müssen, anderes sei dem Mieter nicht zuzumuten. Auch die Kündigungen greifen nicht, weil sie keine ordentlichen Kündigungsgründe enthalten. Die Räumung findet nicht statt.

Die Protectum widerspricht dem Urteil, der Fall landet vor dem Landgericht. Das die Kündigung sowieso als unwirksam ansieht, weil die sich auf einen Haufen vorangegangener Abmahnungen stützt. Denn wer abmahnt, will ja Besserung und muss auch die Chance auf eine solche lassen. Nach der mündlichen Verhandlung im Februar 2022 zieht die Protectum die Räumungsklage zurück.

Elf Abmahnungen von der Immobilienfirma

Abmahnungen haben sie insgesamt elf von der Immobilienfirma bekommen. Sandra Gerace hat dem Makler, der die Wohnung bei Verkaufsportalen einstellen will, beispielsweise nicht erlaubt, Fotos zu machen. Das Gericht urteilte: in Fotos nicht einzuwilligen, sei Geraces gutes Recht. Es geht um Blumenkübel am Balkon, die eventuell Schäden an der Fassade verursachen würde. Die Kübel hängen da seit 15 Jahren, sagen die Geraces, mit Filz unter den Haken, die auf der Balkonbrüstung aufliegen, "so wie man das ja auch macht". Bei ihrem ersten Besuch im Haus fanden die Leute der Protectum die noch "wunderschön", erinnert sich Sandra Gerace.

Sie ist mittlerweile Profi in Sachen Mietrecht. Jeder Brief, jedes Schreiben ist ordentlich abgeheftet. Kurz darauf steht ihre Wohnung bei Immobilienscout24 im Netz zum Verkauf. Drei Zimmer, 61 Quadratmeter, 369.000 Euro. Immer wieder kommen Interessenten, um die Wohnung anzuschauen. Angela Gerace ist jetzt Teil einer "Wertanlage".

Auch andere Wohnungen in den Obergeschossen werden im Netz angeboten, in Zimmer aufgeteilt. Ein 20 Quadratmeter großer Raum, der bei Angela Gerace das Schlafzimmer ist, für 900 Euro im Monat. Mit nur einer Wohnung in dem Haus lassen sich so insgesamt mehr als 2.000 Euro monatlich einnehmen.

Ende März 2022 kommt erneut eine Kündigung. Begründung: Angela Gerace hat am 8. Oktober 1970 einen sogenannten Kettenmietvertrag unterschrieben. Heißt: Wenn keiner kündigt, verlängert der sich stillschweigend immer um drei Monate. Damit, so interpretiert der Anwalt der Protectum, handle es sich um ein befristetes Mietverhältnis.

Nun findet sich aber bei den drei Monaten Kündigungsrecht im Vertrag noch ein Sternchen, das seinerseits auf andere Kündigungsfristen verweist. Und weil das alles nicht eindeutig ist, sind die Geraces und ihre engagierte Anwältin der Meinung, es handle sich um einen unbefristeten Vertrag.

Befristeter oder unbefristeter Vertrag?

Vor dem Amtsgericht treffen sich beide Parteien Ende Februar 2023 wieder. Sandra Gerace vertritt ihre Mutter, der der ganze Stress auf die Gesundheit schlägt. Ihr gegenüber sitzt der Prokurist der Protectum, ein junger Mann Mitte dreißig. Auch er will nicht mit Kontext sprechen.

Der Richter sagt in der Verhandlung, er habe einen ganzen Nachmittag im Archiv verbracht und sich tief in alte Akten zu diesem alten Mietvertrag eingelesen. Die Kündigung, befindet er letztlich, sei unwirksam, der Vertrag unbefristet, die Klage abgewiesen.

Sandra Gerace schießen Tränen in die Augen. Sie umarmt ihre Anwältin, ruft ihre Mutter an, die es erst nicht glauben will. Gewonnen.

Der Verkauf der Wohnungen in der Reinsburgstraße scheint nicht so gut geklappt zu haben. Manche sind verkauft, die Zimmervermietungen sind bisher nicht zustande gekommen. Die, in denen noch Altmieter wohnen, hat der Prokurist der Protectum an seine Schwester und seinen Schwager verkauft, andere gehören nun ihm selbst und seiner Frau. Auch die Wohnung von Angela Gerace. In fünf Jahren kann er ihr wegen Eigenbedarfs kündigen.


Gefällt Ihnen dieser Artikel?
Unterstützen Sie KONTEXT!
KONTEXT unterstützen!

Verbreiten Sie unseren Artikel
Artikel drucken


1 Kommentar verfügbar

  • Dr. Diethelm Gscheidle
    am 02.03.2023
    Antworten
    Sehr geehrte Damen und Herren,

    dieser Artikel zeigt hervorragend auf, dass wir offenbar längst im diabolischen Sozialismus angekommen sind - wie Sie hier sehen, können Sie nicht mehr über Ihre Wohnung verfügen, wenn Sie sie einmal vermietet haben, müssen sich mit garstigen Mietern herumschlagen…
Kommentare anzeigen  

Neuen Kommentar schreiben

KONTEXT per E-Mail

Durch diese Anmeldung erhalten Sie regelmäßig immer Mittwoch morgens unsere neueste Ausgabe unkompliziert per E-Mail.

Letzte Kommentare:






Die KONTEXT:Wochenzeitung lebt vor allem von den kleinen und großen Spenden ihrer Leserinnen und Leser.
Unterstützen Sie KONTEXT jetzt!