Alles sei so anonym geworden, klagt Gerace, seitdem das Haus keinen Menschen mehr gehört, die auch mal zum Kaffee kommen wie der alte Hausbesitzer. Sondern Firmen, mit Internetauftritten, mit Visitenkarten, mit versendeten Standardschreiben und Rechtsanwälten, mit Klemmbrettern, auf denen ihr Zuhause erfasst wird.
Ihren ersten großen Kampf hat Gerace 2018 geführt, kurz nachdem das Haus aus Privatbesitz auf den verrückten Stuttgarter Immobilienmerkt geworfen wurde. Gekauft hatte die Immobilie, Baujahr 1958, alt aber ordentlich, die "Schwäbische Bauwerk" von Marc-René Ruisinger (Kontext berichtete). Eine Firma, die sich in dicken Lettern "sozial" auf die Fahnen geschrieben hatte und in einem ihrer ersten Briefe plötzlich einen Außenaufzug ankündigte und fast dreimal so viel Miete von den Bewohnern wollte.
Gerace wehrte sich, sie schaltete einen Rechtsanwalt ein, die Hausbewohner der Nummer 65 gingen auf die Barrikaden. Die Presse war da, Zeitungen, sogar Fernsehen, der Mieterverein schaltete sich ein. Deren Chef Rolf Gaßmann stand wenig später gegen Ruisinger und die "Schwäbische Bauwerk" vor Gericht, weil Gaßmann die Firma in einer Pressemeldung als "einen der größten Wohnungsspekulanten in Stuttgart" bezeichnet hatte. Das sei geschäftsschädigend, fand Ruisinger. Vor Gericht hat er verloren (Kontext berichtete). Die Mietsteigerung kam nicht, auch nicht der Außenaufzug. Angela Gerace und die Hausbewohner hatten Ruhe. Zwischenzeitlich allerdings, so berichtet Rolf Gaßmann, habe die Schwäbische Bauwerk auch das Haus Rötestraße 47 an die Fellbacher Protectum verkauft. "Der gelang es dann, die letzte Mieterin mit Abfindung zu 'entsorgen'".
Elf Wohnungen gibt es in der Reinsburgstraße 65, zwei davon sind von jüngeren MieterInnen bewohnt, so um die 40. Dann gibt es ein Ehepaar um die 70, zwei Männer über 80 und Angela Gerace. Dreimal ist sie nun schon mitverkauft worden. Zuerst, nachdem die alten Eigentümer bei einem Unfall ums Leben kamen. Dann, als der neue Besitzer das Haus an die Schwäbische Bauwerk verkaufte. Jetzt gehört das Haus der Protectum GmbH aus Fellbach, die modernisiert und die Wohnungen einzeln weiterverkauft. Rechtlich zulässig sind zwei Besichtigungstermine die Woche, auch während Corona. Die ersten Interessenten waren bereits da, haben gekuckt, ob die vier Wände von Gerace es wert sind, Geld auszugeben, die nächsten sind schon angemeldet.
Den Prospekt der Protectum ziert ein buntes Familienbild mit glücklichen Kindern – Papa, Mama, Bruder, Schwester, Blume, Schmetterling. "Unser Ziel ist es, das wertvollste Gut des Menschen – die eigene Immobilie – für jedermann zu realisieren", steht auf der Homepage.
Aber ist eine gemietete Wohnung nicht auch das wertvollste Gut des Menschen, der darin wohnt? Ein persönlicher und intimer Schutzraum?
Die Maßnahmen sollen geduldet werden
Anfang September 2019 schickt die Protectum ein Schreiben mit der neuen Bankverbindung. Im Juni 2020 kommt die "Aufforderung zur Duldung baulicher Maßnahmen mit Mieterhöhungsankündigung." Neue Fassade, neue Heizung, neue Fenster, neuer Putz im Treppenhaus, neue Wohnungseingangstüren. Am 10. September sollten die Bauarbeiten anfangen. Aber schon im Mai war ein Schild an der Eingangstür angebracht: Vorsicht Bauarbeiten, mit Bitte um Verständnis.
Damals hat Angela Gerace bei der Immobilienfirma angerufen und nachgefragt, was da auf sie zukomme. Man reiße lediglich die Tapeten in den leerstehenden Wohnungen herunter, hieß es, so erinnert sie sich. "Wenn ich mit dem Schlagbohrer so einen Lärm mache, dass es bei der Mutter im Bad alle Gegenstände runtervibriert, dann ist das nicht Tapeten runterreißen", sagt Tochter Sandra Gerace. Sie hat die Arbeiten mit Fotos dokumentiert. Die Protectum sagt auf Nachfrage: "Bei den im Mai begonnenen Arbeiten handelt es sich nicht um Modernisierungsmaßnahmen, sondern um die Ertüchtigung des Brandschutzes im Gebäude."
Insgesamt soll Angela Gerace nach der Modernisierung rund 150 Euro mehr für ihre Wohnung zahlen als zuvor – inklusive anteiliger Nebenkosten für die neue Heizung, die sie nicht möchte, weil ihr selbst angeschaffter Ofen tadellos funktioniert, kostet die Wohnung dann 590 Euro und 15 Cent warm, heißt es in einer Kostenrechnung. Das ist verträglich im Gegensatz zu den 1065,51 Euro Kaltmiete, die die Schwäbische Bauwerk für die Wohnung im ersten Stock verlangen wollte.
Die Protectum sagt, die monatliche Kaltmiete betrage nach Modernisierung 8,80 Euro pro Quadratmeter. "Gerne können Sie einen Blick in den aktuellen Mietspiegel der Stadt Stuttgart werfen und für sich selbst entscheiden, ob dies als unangemessen zu bewerten ist." Aber Angela Gerace befüchtet, dass diese Mieterhöhung nicht das Ende der Fahnenstange sein wird.
Wohin mit wenig Geld?
In der Zwischenzeit kam es zum Streit mit den Arbeitern im Haus. Weil die, so sagt es Gerace, weder Maske tragen noch die Fenster öffnen, wenn gebohrt und gewerkelt wird. Weil die nicht sauber machen, wenn sie fertig sind. Weil sie samstags, sonntags und einmal auch bis halb zwölf nachts arbeiten. Einer der Arbeiter habe Tochter Gerace am Arm gepackt. Einer spuckte vor ihre Eingangstür, ein anderer soll ihr mit erhobenem Finger gedroht haben, "morgen kommen wir in deine Wohnung", und als sie nicht aufmachte, hätten die Arbeiter mit der Faust gegen die Tür gehämmert. Am nächsten Tag hätten sie gedroht, ihr den Strom abzustellen – der Arbeiter habe mit den Fingern eine Schnipp-Schnapp-Geste gemacht, sagt Gerace. Als sie die Fenster einmal selbst öffnete, weil im Treppenhaus alles so staubig vom Betonbohren war, kam sofort ein Brief der Protectum: Die Fenster seien geschlossen zu halten.
6 Kommentare verfügbar
Andrea K.
am 26.10.2020Ja, früher haben Privatleute Mehrfamilienäuser gebaut bzw. sich am Bau beteiligt und Wohnungen vermietet. Als Altersvorsorge oder auch, um später Wohnraum für die Kinder zu haben. So haben…