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Stuttgart-21-Lenkungskreis

Noch teurer und womöglich später

Stuttgart-21-Lenkungskreis: Noch teurer und womöglich später
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Stuttgart 21 wird mal wieder mehr kosten, wie viel, verrät die DB aber erst übernächste Woche. Auch der Eröffnungstermin Ende 2025 wackelt, weil es mit der Digitalisierung hakt.

Vor großformatigen historischen Analogien hat Frank Nopper (CDU) keine Scheu: "Der digitale Knoten Stuttgart entwickelt sich zum Gordischen Knoten, der unbedingt, wie einstens von Alexander dem Großen, durchschlagen werden muss", sagt der Stuttgarter Oberbürgermeister, um gleich zu erwähnen, von wem: "Wir setzen alles darauf, dass die Deutsche Bahn mit ihrem Gesamtprojektleiter Olaf Drescher, also mit Olaf dem Großem, die notwendige Durchschlagskraft entwickelt."

Der so Benannte grinst noch breiter, als er das ohnehin meistens tut, und auch im Rest der Runde, die sich am vergangenen Freitag zur Pressekonferenz nach der Sitzung des Stuttgart-21-Lenkungskreises im baden-württembergischen Verkehrsministerium versammelt hat, ist eine gewisse Heiterkeit zu spüren. Unter den Vertretern der S-21-Projektpartner hat Nopper seine Rolle schon länger gefunden, es ist eine, die er auch bei anderen Anlässen gerne zelebriert: eine Mischung aus Pausenclown, dampfplauderndem Varieté-Conférencier und Jahrmarktansager, die mal für Lachen, mal für Stirnrunzeln sorgt. Sein immer eine Spur zu pathetisch vorgetragener Zweckoptimismus hebt sich jedenfalls maximal ab vom nüchtern-pragmatischen, manchmal etwas genervt wirkenden Stil von Landesverkehrsminister Winfried Hermann (Grüne), der auch Unangenehmes deutlich benennt. Auch die automatenhafte Sachlichkeit von DB-Infrastrukturvorstand Berthold Huber ist ein Kontrastprogramm: Er versteht, Antworten so zu verschwurbeln, dass am Ende zuweilen unklar ist, was er eigentlich gemeint hat.

Die Geschichte, um die Nopper seine wenig erkenntnisfördernde Analogie bastelt, ist allerdings alles andere als trivial: Es gibt offenbar riesige Schwierigkeiten dabei, den erst vor einigen Jahren so getauften "Bahnknoten Stuttgart", also die neue Stuttgart-21-Infrastruktur plus das bestehende S-Bahn-Netz, zu digitalisieren. Womit vor allem die Ausrüstung mit dem digitalen Zugbeeinflussungssystem ETCS gemeint ist, das bisherige Signal- und Zugleitsysteme überflüssig machen soll. Das sei bei allen noch ausstehenden Arbeiten für das Projekt "die größte Herausforderung", so Huber, oder der "eigentliche Engpass", wie es Hermann nennt. Und anfügt: "Wenn es hier nicht gelingt, rechtzeitig fertig zu werden, wird man auch nicht in zwei Jahren eröffnen können."

Problem: Der Lieferant ist in einer "Zwischenphase"

Schon mehrmals wurde der Termin für die Inbetriebnahme von Stuttgart 21 verschoben. Plante die DB bei Baustart 2010 noch mit dem Jahr 2019, so soll die Eröffnung nach aktueller Planung im Dezember 2025 erfolgen. Wobei schon jetzt klar ist, dass manche Projektabschnitte später fertig werden: der Flughafenbahnhof für die Neubaustrecke von Ulm etwa nach neuestem Stand erst 2026 – zwischenzeitlich hieß es sogar 2027 –, und mit dem Gäubahnanschluss über den erst noch zu bauenden Pfaffensteigtunnel wird wohl erst in den 2030ern zu rechnen sein. Doch selbst diese eingeschränkte Inbetriebnahme wackelt nun gewaltig, auch wenn Hermann sagt, dass es "zwar eng, aber möglich" sei, und Huber weiterhin mit Ende 2025 planen will.

In einem halben Jahr werden wir schlauer sein: Wenn es zu einer Verschiebung des Eröffnungstermins kommen sollte, müsse die Entscheidung dafür "mindestens 18 Monate vorher getroffen sein", sagt Hermann. Also spätestens im Juni 2024.

Für die Schwierigkeiten bei der Digitalisierung gibt es gleich eine Reihe von Gründen. Der wichtigste: Für die ETCS-Ausrüstung ist der Geschäftsbereich Ground Transportation Systems (GTS) des französischen Großkonzerns Thales zuständig – und Thales GTS soll von der Eisenbahnsparte des japanischen Großkonzerns Hitachi übernommen werden. Der Lieferant befinde sich in einer "Zwischenphase", sagt Huber, das sei momentan das größte Problem. Der Übernahmeprozess ist noch im Gange, auch wenn Hitachi Rail seit Ende Oktober mit der Zustimmung der EU-Kommission alle erforderlichen behördlichen Genehmigungen für eine Fusion beisammenhat.

Dazu kommen Sorgen über die Unterstützung durch den Bund – der habe noch nicht genügend Geld zur Verfügung gestellt, klagt Hermann. Die von der Bundesregierung zugesagten 340 Millionen Euro für die digitale Aus- und Nachrüstung der Fahrzeuge, so der Minister, seien momentan "noch nicht geklärt, der Betrag ist auch in den aktuellen Haushaltsberatungen nicht abgebildet". Das müsse nun dringend nachgeholt werden, denn schließlich solle das Projekt ja "Start der digitalen Schiene Deutschland sein" – und dieser Plan sei nun extrem gefährdet. Hier geht es auch um Gelder aus dem Klimatransformationsfonds der Bundesregierung, dem durch das kürzliche Urteil des Bundesverfassungsgerichts nun 60 Milliarden eingeplante Euro fehlen.

Rückfallebene? Ach nö

Selbst wenn es mit der digitalen Ausrüstung fristgerecht klappt, könnte Ungemach drohen. Denn in Deutschland wurden zwar bislang einige Hochgeschwindigkeitsstrecken wie die Neubaustrecke Wendlingen-Ulm oder die Strecke Nürnberg-Erfurt mit ETCS ausgestattet (mit jeweils beträchtlichen Anfangspannen), noch nie aber eine so komplexe Bahn-Infrastruktur wie der geplante Stuttgarter Knoten. Und es ist keine Rückfallebene geplant, keine zumindest übergangsweise doppelte Ausstattung mit ETCS und konventioneller Leittechnik, also keine Absicherung, falls das neue System mal Schwierigkeiten macht.

Auf die Frage, ob es auch Überlegungen zu einer solchen Doppellösung gegeben habe, antwortet Bahn-Vorstand Huber, dies sei gar nicht möglich: "Dann funktioniert es nicht." Das ist allerdings nur zur Hälfte richtig. So, wie die digitale Ausrüstung jetzt geplant und im S-Bahn-Netz teilweise schon montiert wird, ginge ein einfaches Umschalten tatsächlich nicht, wenn einmal mit ETCS gestartet sein sollte. Doch hätte es durchaus die Möglichkeit einer Ausrüstung mit sowohl "alter" als auch neuer digitaler Zugleittechnik gegeben – was aber teurer gewesen wäre und länger gedauert hätte. In der Schweiz etwa, die als erstes Land Europas auf eine flächendeckende ETCS-Ausrüstung setzte, war dies anfangs der Fall. Und bei Stuttgart 21 war bis 2018 ohnehin nur geplant gewesen, die Hochgeschwindigkeitsstrecken mit ETCS auszustatten – ehe der Plan des "Digitalen Knotens Stuttgart" als deutsches Pilotprojekt aus dem Hut gezaubert wurde.

Probephase muss sein – aber wie lange?

Die Risiken dieser Lösung scheinen Hermann durchaus bewusst. "Einen Holperstart können wir uns nicht leisten", sagt er, und deswegen müsse es dringend eine Probe- beziehungsweise Einführungszeit bei Stuttgart 21 geben, ehe die Eröffnung erfolge. Eine solche Phase "brauchen wir auf jeden Fall", betont Hermann mehrmals mit besonderem Nachdruck. Bei der Frage, wie lange diese Phase dauern müsse und wie sie ausgestaltet sein solle, wird es schon schwieriger.

Um 2010, kurz vor dem Baustart des Projekts, war immer wieder von einer einjährigen Probezeit die Rede. Im Februar 2020 wiederum war in einer Antwort der Stadt auf eine Anfrage der Gemeinderatsfraktion "Die FrAktion" zu lesen: "Nach der Fertigstellung der neuen (S-21-) Infrastruktur wird der kommerziellen Inbetriebnahme (…) ein monatelanger Probebetrieb vorausgehen, während parallel der alte Hauptbahnhof in Betrieb bleibt." Bei der Lenkungskreis-Pressekonferenz nun danach gefragt, bleibt Hermann ähnlich vage: Das könne man nicht generell sagen, es werde sich "in der Summe schon um Monate" handeln. Jedenfalls könne man nicht erst im November 2025 anfangen zu testen.

Huber wiederum schwurbelt etwas von zwei unterschiedlichen Testszenarien, die nicht gleichzeitig laufen müssten, und auf die erneute Nachfrage, ob es also keinen kompletten Testbetrieb im gesamten Netz gebe, antwortet er: Nein, das müsse nicht sein. Und das sei auch keine Besonderheit in Stuttgart, das sei "vollkommen übliche Praxis im Fahrplanbetrieb". Wobei Huber wiederum nicht sagt, dass eine Umstellung in einem so komplexen Bahnknoten eben nichts Übliches, sondern ein, genau, Pilotprojekt ist. Es könnte also überraschend werden.

Von Frank Nopper ist bekannt, dass er sich bei Stuttgart 21 vor allem über die frei werdenden Flächen freut, wenn der Bahnhof mitsamt Gleisvorfeld tiefergelegt wird. Entsprechend ist es keine Überraschung, wie er auf die Frage antwortet, wann denn mit dem Abriss der alten Eisenbahnstruktur begonnen werden soll: "Unmittelbar nach Inbetriebnahme Ende 2025." Also schon im Dezember 2025? Naja, vielleicht auch erst im Januar 2026, sagt Nopper.

Noch teurer: fröhliche Bescherung am 18. Dezember

Bietet in all diesen Fällen die Zukunft noch viel Überraschungspotenzial, ist eine Ankündigung nicht zwangsläufig unerwartet: dass Stuttgart 21 mal wieder mehr kosten wird. Auch wenn alle Beteiligten bemüht sind, nicht von Anfang an schlechte Kostenprognosen dafür verantwortlich zu machen, sondern neuere Krisen. Bei einzelnen Ausschreibungen habe es "100 bis 200 Prozent Kostensteigerungen gegeben", sagt Hermann etwa, und: "Wir reißen den Gesamtkostenrahmen auf jeden Fall."

Um wie viel, das kann – oder will – keiner der Anwesenden sagen. Aber sehr lange warten müssen Ungeduldige nicht: Sechs Tage vor Weihnachten ist Bescherung, am 18. Dezember bei der Aufsichtsratssitzung der Bahn sollen die neuen Zahlen bekannt gegeben werden.

Momentan liegt der "Gesamtwertumfang" (GWU) des Projekts noch bei 9,15 Milliarden Euro, plus einem zusätzlichen Risikopuffer von 640 Millionen Euro, dessen Inanspruchnahme vor Kurzem bestätigt wurde. Insgesamt liegt der Finanzierungsrahmen also schon nach heutigem Stand bei rund 9,8 Milliarden Euro – was bereits das im Finanzierungsvertrag von 2009 geregelte Maximum von 4,5 Milliarden mehr als verdoppelt. Es gehört also nicht viel Phantasie dazu, sich Gesamtkosten von auf jeden Fall mehr als 10 Milliarden auszumalen. Und zugleich ist anzunehmen, dass die DB die Kosten nicht gleich auf die 11,76 Milliarden Euro hochschrauben wird, die in der seit Mai 2023 verhandelten Mehrkostenklage der Bahn von dieser als "abstraktes Kostensteigerungsrisiko" festgelegt wurden. (Was damit gemeint ist, steht hier.)

Die Mitte läge also ziemlich genau bei 10,8 Milliarden Euro. Schaunmermal.

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6 Kommentare verfügbar

  • Bernd Letta
    am 07.12.2023
    Antworten
    Die Ampeln bei ETCS-Einbau und den Kosten werden dem Lenkungskreis mit Politikern von Land, Region und Stadt als rot präsentiert.
    Die Drohung steht im Raum, dass die DB AG mit einem schlecht getesteten und nur halbwegs funktionstüchtigen Tiefhalt in Betrieb gehen wird.
    Die Absicht ist nicht so…
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