Die erste trügerische Märzsonne steht am unbefleckten Himmel über der schmutzigen Stadt. Für einen Spaziergänger-Sonnenstich könnte es reichen, falls der vom letzten Jahr nicht mehr wirkt. Das Tageslicht, das den Frühling grüßt, ist allerdings weniger aufregend als das Farbspiel am frühen Abend, wenn nicht klar ist, ob die Natur dieses fiebrige Leuchten dem Kino abgeschaut hat. Oder umgekehrt. Was soll's. Eines Tages gehen sowieso die Lichter aus.
Zum Kolumnentippen sitze ich wieder gegenüber der Stuttgarter Bahnhofsruine unter den Hängelampen dieser Sammelstation namens "Back-Factory"; meine Übersetzung lautet inzwischen frei und falsch "Zurück in die Fabrik!". Der Kettenladen mit seinen hohen Wänden, der sich auch "Der Snack-Profi" nennt, ist mir inzwischen ein vertrauter Umschlagplatz für Menschen, die von überallher zu kommen scheinen. Enttäuscht bin ich, wenn ich hier mal ein deutsches Wort höre. Und wie immer in dieser Halle der Welt versteige ich mich zu der kinobeseelten Heldenillusion, ich sei ein Fremder im eigenen Land. Blödsinn. Nie habe ich auch nur einen Quadratmeter Land besessen, nicht mal als Untermieter in einem Schrebergarten.
Auf der Videotafel meiner Schreibfabrik studiere ich wie immer "Emmas Tipps", die zwischen der Imbisswerbung eingeblendeten Aufklärungszeilen unter dem Motto "Gut zu wissen". Visuell aufgepeppt ist dieses Bildungsprogramm mit dem Konterfei einer Frau mit Brille, weil alle schlauen Frauen dieser Welt Brille tragen. Emma enthüllt, dass Ketchup ursprünglich keine Tomaten, aber Fischsoße enthielt – und Kalbsleberwurst ohne Kalbsleber auskommt. Früher kannte ich Männer, deren Leber keine Leber enthielt.
Tante Emmas explosive Erdnüsse
Und wer außer Emma weiß schon, dass in Japan "viereckige Melonen" gezüchtet werden, um Platz in den Supermarktregalen zu schaffen. Fast noch wichtiger erscheint mir der Tipp, mit Erdnüssen könne man Dynamit herstellen. Davon hatte ich keine Ahnung, und es ist Zeit, Peanuts-Brigaden zu gründen, bevor ich mein Backpulver verschossen habe. Und verschont mich mit der Floskel, diese Terrorgedanken eines Rentners, der mit entsichertem Laptop in einer Snack-Scheuer herumhängt, hätten einen "bitteren" Nachgeschmack. Tante Emma lehrt uns, ein Nachgeschmack sei "nie süß".
Bevor ich mein Refugium betrete, komme ich am Baucontainer-Wirrwarr an unserem Restbahnhof vorbei. Auf den Blechkisten steht weithin sichtbar in kleinen Buchstaben "seele". Ah, noch eine Fabrik, sage ich mir, eine, in der keine Quarktaschen, sondern Seelen feilgeboten werden. Nicht diese langen Baguette-ähnlichen Dinger aus Weizen mit Salz und Kümmel, die bei uns im Schwäbischen "Seelen" heißen – und in unseren dunkleren Regionen auch Briegel. Wie Prügel, gut dafür geeignet, seine liebsten Mitmenschen gleich nach dem Köpfen des Frühstückseis zu erschlagen. In unserer bäuerlichen Gegend, wo Traktoren für Recht und Ordnung sorgen, fällt so etwas kaum auf. "Ein Blick in die Welt beweist, dass Horror nichts anderes ist als Realität", hat Hitchcock gesagt.
Eine Fabrik, die Seelen am Fließband produziert, wäre mir recht. Endlich könnte ich meine schwarze dem Teufel verhökern und kurz vor Torschluss eine reine erwerben. Wir kennen Traumfabriken wie Hollywood. Warum also soll es keine Seelenfabrik bei uns in Holy Shit City geben?
In Wahrheit stammt das Logo "seele" von einem Fassadenbau-Unternehmen, das der Glasermeister Gerhard Seele 1984 mitgegründet hat. Die Container dieser Firma stehen auf dem S-21-Gelände, wo seit Jahrzehnten unterschiedlichste Alptraumfabrikanten Fassaden aufstellen, um den Leuten da draußen den Bau eines unterirdischen Bahnhofs vorzugaukeln. Jede Wette: Bevor dort die erste Lokomotive rollt, fährt Peterchen mit dem E-Bike zum Mond.
Keine Ahnung, ob es die Seele heilt, sich in einer Snack-Filiale der kapitalistischen Weltwirtschaft einzuigeln, um die Welt zu betrachten. Wo aber soll ich noch hin in einem Land, das Reklamefritzen in "The Länd" umgetauft haben? Dass es mich regelmäßig in die Gegend zieht, wo Züge fahren, hat eine Geschichte. 30 Jahre vor 1984 wurde ich in einem Dorfbahnhof geboren und als ich vor unserer Haustür zwei Gleise sah, war ich mir sicher, bald nach Amerika zu fahren. Ich musste nur das Ohr auf die Schiene legen und auf den richtigen Zug warten. In unserem heutigen Bahnhof fällt dir das Ohr ab, ehe einer kommt. Ich habe das Backpulver nicht erfunden, die Reise nach Amerika hat seinerzeit nicht geklappt, und so sitze ich heute in der Snack-Stube, überzeugt davon, in der Welt zu sein. "Erdbeerkuchen schmeckt süßer", sagt Emma, "wenn man ihn von einem weißen Teller isst."
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