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Auf der Straße

Hang 'em high

Auf der Straße: Hang 'em high
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Bald bin ich siebzig. Eine Sache, die angesichts der Olympischen Spiele in Paris in diesem Sommer an internationaler Beachtung einbüßen könnte. Die Einschätzung bevorstehender Großereignisse ist im Moment insgesamt schwierig, da noch unklar ist, wann Macron die Welt mit Bodentruppen befrieden wird. Gott lebt in Frankreich.

Als ich beim Blick in den Spiegel bemerkte, dass ich siebzig werde, war es an der Zeit, über den Sinn meines kurzen Lebens nachzudenken. Ab einem gewissen Alter – habe ich gehört – steht der Tod "zeitnah" bevor, weil das Leben an sich ein enges "Zeitfenster" hat. Die Begriffe "zeitnah" und "Zeitfenster" sind so ziemlich das Dümmste, seit die "Nachhaltigkeit" inflationiert wurde.

Dass Hinweise auf die eigene Endlichkeit nicht alle lustig finden, ist mir bekannt, liebe Leserinnen und Leser. Sie müssen sich nicht von mir einsargen lassen. Einem Roman über das Sterben habe ich entnommen, dass Altern im Grunde nichts anderes ist als eine tödliche Krankheit. In einem anderen Roman über das Leben einfacher Leute fand ich die Erkenntnis, Dummheit sei die Schwester der Hoffnung. Das hat mir beinahe Hoffnung gemacht, nicht hoffnungslos dumm zu sein.

Früher schon, als ich heruntergelassene Rollläden und gedimmtes Licht jedem Zeitfenster vorzog, hatte ich oft Lust, fern des geregelten Tages in einem kneipenartigen Raum auf einem Laptop herumzuhacken. Aufzuschreiben, was einem in den Sinn kommt, wenn man sinnlos herumsitzt, die Welt im Auge. So gut wie alle diese Versuche aber gingen daneben, weil es überall zu laut ist. Entweder lärmen Techno oder SWR oder ein Dutzend Handys oder alle zusammen.

Neulich saß ich in einem an sich ruhigen Türken-Imbiss und wollte ein paar Zeilen über die Verwandtschaft von Dummheit und Hoffnung notieren. Dann legte einer sein Mobiltelefon auf den Tisch, schaltete den Lautsprecher ein und führte, während er mampfte, einen sehr engagierten Dialog, den ich allein mangels Sprachkenntnis nicht verstehen konnte. Keine Sorge, ich finde genügend Ausreden, warum ich nicht das Zeug zum Kaffeehausdichter habe.

Ungestörtes Tippen im babylonischen Eintopf

Inzwischen aber habe ich einen Ort gefunden, der mich von der Welt da draußen und da drinnen abschirmt. Es ist ein Ketten-Snack-Lokal namens Back-Factory gegenüber unserer Bahnhofsruine. Wer dieses Unternehmen überprüft, wird mich beschuldigen, politisch unkorrekt im Wartesaal eines üblen Kapitalismus herumzulungern. Was mir angesichts meines Zeitfensters wurscht sein kann. Das Etablissement verdient den Namen Factory. Es ist so geräumig, dass man hier eine Lokomotive bauen könnte, wenn man eine bräuchte. Es gibt Holztische und -stühle, und man bedient sich selbst mit Blick auf eine Backsteinwand, die mit Kunststoffmoos und Videoschirm dekoriert ist.

Die Musik im Saal ist leise, und als ich mich umblicke, bin ich mir sicher, die einzige Kartoffel in diesem gut besuchten Haus zu sein. Die Menschen machen den Eindruck, aus der ganzen Welt in die Snack-Fabrik gekommen zu sein. Als wüssten alle, dass alle da sind. Dennoch herrscht eine heimelige Stille, womöglich eine Besinnung auf das Wesentliche: sich selbst.

Ich gehe öfter in diesen Laden und komme mir dort vor wie in einem Emigranten-Café, weit weg von meiner Stadt. Je klarer dir wird, dass du zeitnah weg bist vom Fenster, desto öfter hältst du Einbildung für Realität. Und Wahrnehmung für Wahrheit. An einem guten Tag packe ich in diesem Bienenkorb meinen Laptop aus und tippe. Geht einwandfrei, nichts stört. Auf der Videotafel werden zwischen Werbung ("Snack dich glücklich") "Emmas Tipps" mit dem Motto "Gut zu wissen" eingeblendet, beispielsweise so: "Angela Merkel isst als Dessert gern Käse". Ja, wie der Macron. Und nach dem Brie laufen die Bodentruppen.

Als Kartoffel im babylonischen Eintopf plagen mich schwarze Gedanken. Sie flackern wie Schlagzeilen auf meinem Laptopschirm. Und der Videoschirm meldet: "Ein Reiskorn hat mehr Gene als der Mensch". Ja, und mehr Intelligenz. Dieses heillose Gesinnungsspektakel in allen Medien, nicht erst seit der Preisverleihung bei der Berlinale. Ich liefere dazu keinen Meinungs-Snack aus meiner Back-Bude, empfehle stattdessen ein kleines Buch, das der Schweizer Schriftsteller Thomas Meyer 2021 veröffentlicht hat: "Was soll an meiner Nase bitte jüdisch sein? … über den Antisemitismus im Alltag" (Verlag Elster & Salis, Zürich). Man kann es in der Jackentasche mit sich herumtragen, ich blättere gern darin, weil ich den Autor mal kennengelernt und ihn in guter Erinnerung habe.

Für Geflüchtete hängt der Korb höher

Das Klima zurzeit ist deprimierend aufgeheizt. So gut ich mir erklären kann, warum aus Wut über propalästinensische Auftritte bei der Berlinale das Publikum als "Klatschvieh" beschimpft wird, so wenig kann ich bei dieser Wortwahl meine Kopfbilder ausblenden: In Viehwaggons wurden bei uns, kaum ein Menschenleben her, Jüdinnen und Juden in die Vernichtungslager gekarrt. Die Orte des Abtransports und der Verbrechen können wir vor unserer Haustür besichtigen. Das ist unsere Gegenwart. Und Empathie, die fehlt immer den anderen.

Ich sitze in dieser Back-Factory, eine Quarktasche vor meiner Kartoffelnase, betrachte die Fressalien des Glücks in den Vitrinen, schaue hoch zur Decke, ob dort Gott wohnt – und ermittle mithilfe meines Laptops, woher die Redewendung "Den Brotkorb höher hängen" kommt. Es gibt mehrere Deutungen: von zu lebhaften Pferden, deren Haferrationen reduziert werden mussten, oder von Kindern im Mittelalter, die man mit dem höher gehängten Brotkorb maßregelte, bis hin zu einem Regierungserlass von 1875, der im preußischen Kulturkampf Geistlichen die staatlichen Zuschüsse sperrte: das sogenannte Brotkorbgesetz.

Verdammt, ein paar Tage erst ist es her, dass im Bezirksbeirat Stuttgart-Mühlhausen CDU, FDP und AfD einen Antrag mit sieben zu sechs Stimmen ablehnten, Geflüchteten einen Korb zu schenken: einen mobilen Basketballkorb. Kostet 400 Euro, gedacht zum Spielen mit Softbällen vor der Unterkunft. Ein abstoßenderes Symbolbild als diesen Provinz-Akt gibt es kaum für die derzeitigen Methoden der deutschen Politik, den Brotkorb für geflüchtete Menschen so hoch zu hängen, dass sie wie Strafmaßnahmen erscheinen. Hang 'em high oder Hängt ihn höher.

Das Bezirksbeirat-Signal mit seiner 400-Euro-Schäbigkeit ist so abgrundtief liederlich und lächerlich, dass jede Empörung darüber Energieverschwendung wäre. Diese glorreichen sieben Quarktaschen von der CDUFDPAfD-Front führen in ihrem rassistischen Kulturkampf vor, dass jeder Korb mit etwas Grips darin für sie zu hoch hängt. Ein Superwurf über die Brandmauer der Kuhdorfpolitik hinweg. Und am Ende ein Dunk: die Kugel zielsicher von oben herab versenkt.

Ach, wäre doch jemand aufgestanden, hätte den nächstbesten Papierkorb geschnappt und die Leute in der Sitzung aufgefordert, kurz vor Ostern so lange Geld hineinzuwerfen, bis 400 Eier bereitliegen. Das hätte hinhauen müssen in einem Land, dessen Nationalteam vor Kurzem Basketball-Weltmeister wurde. Schön wäre, es gäbe bald ein großes Solidaritätsspiel in Mühlhausen. Korbballer aller Ränder, die noch menschlich sind, vereinigt euch.

Dem Vernehmen nach hat der Bürgerverein Interessengemeinschaft Neugereut (BIN), der das Geld beantragt hatte, das Problem aus eigener Kraft gelöst. Die Mehrheit in Mühlhausens Bezirksbeirat wiederum hat wenig später gegen Modulbauten für Geflüchtete gestimmt. Die Bodentruppen rechter Parteipolitik stehen fest geschlossen, bis die letzte Brandmauer bricht. Das ist der Korpsgeist unterm gut gefüllten Brotkorb. Zu hoffen, dass es mit siebzig besser wird, wäre dumm.

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1 Kommentar verfügbar

  • Rebstock
    am 07.03.2024
    Antworten
    Wäre Bauer Redaktionsleiter einer Lokalzeitung, würde diese sicher auch gelesen werden. Eine Kolumne, die so wütend wie richtig ist. Und so bitter wie wahr: "Und nach dem Brie laufen die Bodentruppen."
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