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Auf der Straße

Auf Hakenkreuzfahrt

Auf der Straße: Auf Hakenkreuzfahrt
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Merkwürdig. An den Seegang meines Lebens habe ich mich altersbedingt schon gewöhnt und wundere mich dennoch, warum ich fast täglich Mail-Offerten für Kreuzfahrten erhalte. Noch nie habe ich an einer Kreuzfahrt teilgenommen, nur hin und wieder eine dieser monströsen Bettenburgen aus der Ferne beäugt. War wie ein Blick in ein Bordkanonenrohr. Man nennt diese Umweltzerstörer auch "schwimmende Städte", aber niemand darf hoffen, dass sie bald schon im Klimawandel absaufen. Regelmäßig wollen mich die Kreuzritter der Reklame zu den unterschiedlichsten Folterfahrten auf Flüssen und Meeren überreden, gerade so, als vermuteten sie in meiner abgründigen Gedankenwelt akute Fluchtfantasien.

Der Begriff "Kreuzfahrt" ist anstößig, er erinnert an die Eroberungskriege profitgeiler Verbrecher, die im Namen Gottes Andersgläubige terrorisierten und ermordeten. Ich pfeife also auf diese Angebote, egal, ob sie meinen Mail-Account als "Mein Schiff Sommer 2024", als "Flussreisen im Frühling" oder als "AIDA Oster Sale" überschwemmen. Ich bin nun mal eine Landratte, eine Kreatur der Gattung aufrecht gehendes Tier. Ein Spaziergänger mit Boden unter den Füßen. Luft und Wasser haben keine Balken, nur reichlich Dreck, und im Moment beschäftigen mich eher die Hakenkreuz-Cruiser, die auf der rechten Welle schwimmen. Ahoi.

Nicht selten bin ich in diesen Tagen damit beschäftigt, herumzugehen wie ein Hausierer, um halbwegs Gleichgesinnte anzuheuern: scharfer Kurs voraus. Steuerbord gegen rechts. Und manchmal hätte ich Lust, Unwillige einfach zu shanghaien.

Abdriften zum Eisbär-Ding

Insgeheim aber würde ich schon gern mal von Land gehen, ins Nirgendwo abtreiben und abtauchen, wenigstens in Gedanken. Die Rechten sitzen ja nicht nur in den Parlamenten und werden immer mehr und immer selbstverständlicher. Sie tun alles, um unsere Hirne zu entern. Und ich fürchte, inzwischen hilft auch kein Fluss- oder Meereskreuzer, um sich geistig von der Welt zu verabschieden. In Dostojewskis Werk "Winterliche Aufzeichnungen über sommerliche Eindrücke" heißt es: "Versuchen Sie, sich diese Aufgabe zu stellen: Denken Sie nicht an einen Eisbären, und Sie werden sehen, dass Ihnen das verfluchte Ding jede Minute in den Sinn kommt." Jeder Gedanke an ein Eisbär-Ding wäre mir allerdings lieber als an einen verfluchten Nazi, schon weil es weltweit wesentlich mehr Nazis als Eisbären gibt. Dem Nazi ist es im Übrigen egal, wenn der Eisbär verreckt, weil der Nazi, wie man nicht nur aus den USA weiß, von der Ölindustrie gemästet wird.

In meinen Aufzeichnungen im postwinterlichen Januarsiff kommen sommerliche Eindrücke so gut wie nicht mehr vor. Das scheint die Kreuzfahrt-Industrie mittels digitaler Ermittlungen herausgefunden zu haben, weshalb sie mich fortwährend aufs Wasser unter der Sonne locken will. In der Absicht, die restlichen Bestände meines Bankkontos abzufischen. Kreuzfahrtschiff-Unternehmen sind die Freibeuter der Gegenwart. Und eins muss doch klar sein: Selbst wenn ich morgen irgendwo an Bord gehe – fast nirgendwo wäre ich bei der Landung sicher vor der rechten Flut.

Unterdessen klagen ganz andere Zeitgenossen über Varianten der Seekrankheit. Baden-Württembergs Regierungschef Kretschmann teilt der Weltpresse mit: Gendern schade seinem "Redefluss". Gestörter Redefluss rührt nicht wie Hochwasser von Klimakatastrophen her und wäre nach menschlichem Ermessen mithilfe der Logopädie heilbar. Zahlreiche Politiker rennen ohnehin in Logopädie-Praxen, um ihr Sprechwerkzeug aufzupeppen. Sie trainieren allerlei Sachen mit dem Ziel, das sogenannte Volk nach dem Vorbild der Helikopter-Eltern besser "abholen" und "mitnehmen" zu können. Das funktioniert nicht, wenn der Redefluss am Arsch ist. Und mit der Rattenfänger-Flöte kommst du im Zeitalter der Bluetooth-Boxen und Ohrenstöpsel auch nicht weit.

Riedlingerinnen stören den Redefluss

Der Mensch mit dem eindeutigen Namen Kretschmann hat ein gewichtiges Beispiel für die Gefahr der Stolpersätze genannt: "Früher hat man halt bei der Fasnet gesagt: liebe Riedlinger. Heute sagt man: liebe Riedlingerinnen und Riedlinger. Das verdirbt mir jeden Redefluss."

Ein Problem, keine Frage. Da stehst du mit Pappnase und Narrenkappe in der Bütt, hast dir von deinem besten Leibkomiker einen geschliffenen Tätätä-Vortrag in umwerfendem Versmaß reimen lassen – und dann fliegt nach "Liebe Riedlingerinnen und Riedlinger" der Blaskapellentrommler aus dem Takt. Vom Büttenredner zu schweigen.

So nicht, Ladies & Gendermen.

Unvorstellbar, der Fasnetsdichter würde den Lieblingen von Riedlingen gar eine Kretschmann'sche Intonation von "Liebe Riedlinger:innen" um die Ohren hauen lassen. Der Soundtrack von "Krieg der Sterne" wäre ein Scheiß dagegen. Und The Länd sofort nur noch ein einziger reißender Fluss.

Wobei Herr K. wirklich alles getan hat, seine Sprechorgane so zu trimmen, dass er im Notfall auch außerhalb Riedlingens super rüberkommt. Früher schon hatte ich den Verdacht, dass er versucht, so viele offene Laute und stimmhafte S-Laute aus seinem Kehlkopf zu pressen, bis der schwäbische Dialekt weicht wie die Luft aus einer Fahrradpumpe. So hat der Kretschmann-Sound weltweit hohen Wiedererkennungswert erlangt. Und dank dieser Technik stehen ihm, wie ich neidvoll beobachte, sogar die Haare zu Berge.

Strobls SOS an die Rechten

Das Dilemma des verdorbenen Redeflusses kann ich gut verstehen. Wenn deine Zunge nur noch gegen die Fallgruben des Genderns kämpft, rückt womöglich der Inhalt deiner mühsam in den Saal der Riedlingerinnen und Riedlinger geschleuderten Worte in den Hintergrund. Zu Recht kommt deshalb jetzt der Innenminister Strobl als oberster Sprachpolizist des Landes mit dem Einsatzplan um die Ecke, den größten Unrat in der heimischen Verwaltungskommunikation zu tilgen: Gendern soll verboten werden. Das kann die Verlautbarungsabteilungen der Bürokratie zwar nicht hindern, eine Regenrinne weiterhin redeflüssig "Grundstücksentwässerungsanlage" zu nennen oder Taxis poetisch angefeuchtet dem "Gelegenheitsverkehr" zuzuordnen. Aber "die Studierenden" würden endlich durchs deutsche Sprachabflussrohr gespült. Strobls SOS-Signal an die Rechten war extrem wichtig, während in ganz Deutschland und vor seiner Haustür Protestaktionen gegen die extreme Bedrohung von rechts vorbereitet wurden.

Als Spaziergänger mit zunehmendem Seemannsgang, der sich vorgenommen hat, nicht mehr an den Eisbären zu denken, hab' ich für diesen feinfühligen Kreuzzug bestes Verständnis: Wenn du morgen das Gendern in den Amtsstuben verbietest und nebenbei noch ein paar Migrant*innen ausweist, können die Nazis einpacken. Dann wählt die kein Mensch mehr. So wahr ich Herrn Strobl im Kanon der Populistenstars schon seiner schönen Stimme wegen geschlechtsneutral als Das Knäbchen von Heilbronn führe.

Tag für Tag frage ich mich, was in der so viel beschworenen parlamentarischen Demokratie bei uns noch im Fluss ist, um ihr verbliebenes Strandgut zu verteidigen. Ich bin kein großer und kein konsequenter Genderman. Aber ich greife mir an den Kopf, wenn ich Strobls Sirenenlärm höre, dieses Ablenkungsmanöver von den herrschenden Verhältnissen.

Wir haben Januar, die Zeit des Pflichtschuldigengedenkens an die Opfer des Faschismus. Wenn es in diesem Land nicht mehr werden soll, wie es war, wenn die Dinge nicht bleiben dürfen, wie sie sind (um es mit Max Czollek zu sagen), dann sollten selbst stockkonservative Politiker nicht übers Gendern labern. Und auf Nebenschauplätzen ihre Klappe und Bullaugen aufreißen. Sondern alles tun, um zu retten, was zu retten ist. Als herumstromernde Teerjacke zwischen Straßenkreuzern sage ich zu meinem Eisbären: lieber gendern als kentern.

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1 Kommentar verfügbar

  • albi hefele
    am 24.01.2024
    Antworten
    mal wieder sehr gut geschrieben....wobei ich dich auch irgendwie wg Kreuzfahrtangeboten beneide, ich bekomme fast ausschließlich Treppenlifte in die Timeline gespült.
    Keep on trucking‼️‼️
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