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Auf der Straße

Totaleinschlag

Auf der Straße: Totaleinschlag
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Vor dem Rewe am Ostendplatz dreht der Leierkastenmann immer samstags seine Kurbel. Er trägt weiße Handschuhe, einen verschlissenen schwarzen Mantel und einen Zylinder. Vor seinem Instrument sitzt auf einem gedrechselten Holzstuhl ein Stoffaffe mit Spendenschale. Und auf dem Leierkasten klebt ein Abziehbild mit Oliver Hardys Gesicht unter dem Spruch "Think positive!".

Ich bin auf dem Weg zur Ostend-Buchhandlung, um mir Oliver Burkemans Werk "Das Glück ist mit den Realisten" zu holen. Das Buch des britischen Kolumnisten trägt den Untertitel "Warum positives Denken überbewertet ist". Ich brauche seine Erkenntnisse dringend, seit mir unterstellt wird, meine Texte seien oft so düster, dass man sich Sorgen um mich machen müsse. Bloß weil ich mein Glück als Realist mit einer Vorliebe für die Finsternis suche, muss man mich nicht gleich für lebensmüde halten. Keine vernünftigen Motive für ein Weiterleben zu finden ist doch kein Grund, sich von einem Zug oder einem Leierkasten überrollen zu lassen. Humor ist nicht tödlich, ihr neoliberal verseuchten Selbstoptimierungsopfer des lächerlichen Think-positive-Markts.

Womöglich ist an meiner etwas skeptischen Nüchternheit beim düsteren Blick auf die verdammte Welt mein Verzicht auf Drogen schuld. Zum Antörnen meines Gemüts bleibt mir heute kaum mehr als der Geist des Berliner Meisterkiffers Wolfgang Neuss, der einmal gesagt hat: "Ich rauche den Strick, an dem ich sonst hängen würde."

Es geht einem einiges durch den hängenden Kopf an einem kalten Wintersamstag am Ostendplatz beim Anblick des Drehorgelspielers. Von weit her, aus den späten Sechzigern, höre ich Donovans Psychedelic-Hit "Hurdy Gurdy Man". Darin kommt, glaube ich, die Liebe vor – und damit etwas allenfalls bedingt und temporär Positives.

Als Hurdy Gurdy bezeichnet man im Englischen übrigens auch die Drehleier, ein Streichinstrument aus der Lautenfamilie, das mit der Drehorgel nichts zu tun hat. Bei uns kennen wir heute die Leierkästen vorwiegend aus der Politik. Dort "übernehmen" ständig irgendwelche Phrasenorgler "Verantwortung", ohne zu ahnen, wie heillos sie sich übernehmen. Und dann wollen dich die Lindners und Söders so lange "abholen" und "mitnehmen", bis du vor lauter Verfolgungswahn beim Hurdy Gurdy Man als Affe auf dem Schleifstein sitzt.

Mein Leierkastenmann vom Ostendplatz kommt aus dem Rheinland. Irgendwann habe er mal Verwaltungsfachmann gelernt und später viele andere Jobs und Reisen gemacht, erzählt er mir. Heute beziehe er Rente und Grundsicherung, und die Leierkasten-Arbeit sei seine bitter nötige "Lebensversicherung". Dass er immer nur samstags spielt, liegt an der gegenüberliegenden Bank. Dort stört die Drehorgel das Personal beim Zocken. Immer wieder, sagt Dirk, hätten ihn auch Polizisten verjagen wollen. Aber der Supermarkt-Eingang liegt auf Privatgrundstück, und die Leitung hat nichts gegen die Soundmaschine ihres ehrenamtlichen Portiers.

Zu Besuch im "Loch Neuss"

Seit meiner Kindheit fühle ich mich von Gauklern angezogen. Artistik roch für den Dorfbuben wie der Duft der großen weiten Welt, und das hat sich nie geändert. Zu meinen größten Erlebnissen gehört, dass ich einmal das Reich eines grandiosen Wortakrobaten betreten durfte. Er spielte nicht den Leierkasten. Er war der Mann mit der Pauke. Wolfgang Neuss, der größte deutsche Kabarettist aller Zeiten. Am 3. Dezember dieses Jahres wäre er hundert geworden. Ein Geburtstag, der gefeiert werden muss, bevor uns das Positivdenken vollends hirntot macht. Heut mach ich mir kein Abendbrot, heut mach ich mir Gedanken, hat Neuss mal gesagt. Essen war ohnehin nicht sein Ding. Er rauchte lieber seinen Stoff. "Ich atme", sagte er, "dann bin ich außer mir."

Im Winter 1987 fuhr mich Günter Thews vom Berliner Kabarett-Trio Die 3 Tornados in seinem Opel Kadett von Kreuzberg nach Charlottenburg. In der Lohmeyerstraße 6 lebte Neuss in einer Sozialwohnung, berüchtigt als "Witz-Akademie" und "Loch Neuss". Zwar war er als Künstler kaum noch öffentlich aktiv, genoss aber längst den Status einer Legende, als dieses Wort noch nicht jedem Fußballer nach zwei Bundesligatoren angehängt wurde. Ohne Günter, den virtuosen Kopf der damals berühmten, von Neuss inspirierten Tornados, hätte ich den großen Anarcho-Clown mit den blitzgescheiten Gedanken nie getroffen. Keine anderthalb Jahre später, am 5. Mai 1989, lag er tot in seiner Wohnung.

Neuss' Domizil war ein subkulturelles Dorado für die Kunst- und Unterwelt. Bei ihm verkehrten nicht nur Kabarettgrößen wie Dieter Hildebrandt und Rockstars wie Udo Lindenberg, um sich Ratschläge zu holen. Hier verkehrten auch Herrschaften, die mit Künstlernamen wie "Ketten-Peter" und "Pistolen-Manne" in Polizeiakten auftauchten. Neuss stand unter dem Schutz des wahren Berlins. Er kannte alle Etagen des Showgeschäfts. Film, Fernsehen, Bühne. Er war der böse Clown, der 1962 per Zeitungsannonce vorzeitig den "Halstuch"-Mörder verriet, als ganz Deutschland fiebernd die Durbridge-Serie glotzte. Er war der Mann, der 1966 wegen seiner Teilnahme an Demos gegen den Vietnamkrieg aus der SPD ausgeschlossen wurde und uns den Spruch hinterließ: "Wenn man nicht haargenau wie die CDU denkt, fliegt man glatt aus der SPD." Und er war der gute Sozen-Junge, der in Anlehnung an den Esso-Slogan "Pack den Tiger in den Tank" den Wahlkampf-Slogan "Pack den Willy in den Tank" für Willy Brandt erfand.

Im Buch "Der totale Neuss", herausgegeben von Volker Kühn, findet sich diese schöne Selbstbespiegelung: "Meine Witze / sind wie Cruise Missiles: / Kurze Vorwarnzeit – / Verheerende Wirkung! / Totaleinschlag!! / Und?? / Keiner hat was gemerkt. / So sind meine Witze."

Fliegende Christbäume auf der Straße

Als ich mit Günter am Vormittag bei Neuss eintreffe, müssen wir mit ihm zuerst ein benachbartes Café aufsuchen. Mein Begleiter hat mich instruiert, das größtmögliche Frühstück zu bestellen. Damit würde ich bei unserem Gastgeber Punkte machen, weil er selbst so gut wie nichts esse, sich aber am gesunden Hunger anderer erfreue. Später in seiner Wohnung brilliert Neuss mit scharfsinnigen Pointen. Er ist hellwach, kommentiert druckreif den Wahlkampfskandal um Uwe Barschel, den ehemaligen CDU-Ministerpräsidenten von Schleswig-Holstein, der im Oktober 1987 tot in der Badewanne eines Genfer Hotelzimmers aufgefunden wurde.

Seinerzeit wird Neuss von rassistischen Trotteln in den Medien als zahnlose, langhaarige "Indianer-Squaw" verhöhnt. In Wahrheit hat er nichts an Biss verloren, sein analytischer Verstand funktioniert unfassbar gut, sein Gedächtnis phänomenal: Aus dem Stegreif zählt er mir auf, mit wem er einst bei einer Promi-Partie in Stuttgart Fußball gespielt hat.

Ich sitze mit Günter in einem bunten Haufen von Gästen, während die Diva der Desperados im Schneidersitz auf seiner Matratze vor seiner berühmten Wand voller Zeitungsschnipsel doziert. Dann beginnt das Ritual des spirituellen Rauchens. Da ich als Nicht-Kiffer das starke Zeug, das gereicht wird, nicht gewohnt bin, muss ich irgendwann leicht husten. Spöttisch fordert Neuss mich auf, stärker und lauter zu husten. Das täte mir gut. Ihm inzwischen schon hörig, tue ich, bereits völlig benebelt, wie mir befohlen. Und diese amateurhafte Art zu atmen führt zu einem Totaleinschlag wie bei einer Cruise Missile. Neuss wirft mich samt Günter raus.

Im Opel Kadett fuhren wir zurück nach Kreuzberg, und bis heute kann ich beschwören, dass uns auf der Straße nicht Autos, sondern fliegende, grell beleuchtete Christbäume entgegenkamen. Und in meinem Kopf drehte irgendwer die Orgel des Rausches.

Günter Thews starb im Januar 1993 mit 47 Jahren an Aids. Für mich, den Diener der Düsternis, gibt es keinen Zweifel, dass beide irgendwo da draußen atmen, beim Blick auf uns Witzfiguren außer sich.

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3 Kommentare verfügbar

  • nesenbacher
    am 13.12.2023
    Antworten
    Danke für die schöne Erinnerung an die Tornados und Wolfgang Neuss.
    Alleine der Absatz vom „Hurdy Gurdy Man“ … bis zum „Affen auf dem Schleifstein“ ist therapeutisch wertvollster Stoff. Da braucht es keine Droge mehr für den Lachflash.
    Weiterhin gutes Schuhwerk!
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