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Geflüchtete in Backnang

Wohnen im Festzelt

Geflüchtete in Backnang: Wohnen im Festzelt
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In eisiger Kälte leben in Backnang seit Wochen mehr als hundert Geflüchtete in einem Zeltlager. Es zieht an allen Ecken, die Hilfe ist überschaubar. Über die Situation in der Notunterkunft und die Menschen, die dort niemand haben will.

"Ihr habt hier nichts zu suchen!", zischt der Security-Mann und meint damit sowohl die Mitarbeiter von Kontext als auch die Menschen aus der Notunterkunft, die versuchen zu schildern, was sie in den Zelten neben dem Backnanger Berufsschulzentrum erleben. Es ist der Abend von Nikolaus, in christlichen Familien feiert man im Kerzenschein des Adventskranzes die Barmherzigkeit des Heiligen. Draußen vor dem Zeltlager will die festliche Stimmung aber nicht so richtig aufkommen. Ungefähr zehn Menschen stehen vor der Notunterkunft, versammelt um das Licht einer einsamen Laterne. Es ist windig, die Temperatur liegt etwas über null Grad. Die meisten tragen dünne Jacken oder Pullis, dazu Jogginghose und Sandalen. "Entweder geht ihr jetzt sofort oder ich rufe die Polizei", verleiht der Security seinem Unmut über diesen Austausch nochmals Nachdruck.

Unter den Menschen ist auch Esma, die eigentlich anders heißt. "Die wollen nicht, dass wir erzählen, wie es hier ist", sagt sie in gutem Deutsch. "Ich lasse mir aber nicht den Mund verbieten", betont die junge Frau. Seit zwei Monaten lebt Esma mit ihren Brüdern und ihrer Mutter in dem Notlager. Die Familie kommt aus Nordmazedonien, ist von dort weg, um in Deutschland ein besseres Leben zu finden. Die Zelte von Backnang seien aber alles andere als das. "In diesem Lager sollte niemand sein müssen", sagt Esma. "Es wird immer kälter hier, den Menschen geht es nicht gut, viele sind krank oder haben andere Probleme. Ich hoffe, dass wir hier bald alle rauskommen."

Notnagel Zeltlager: Nierensteine und Kälte

Zuständig für das Lager ist das Landratsamt des Rems-Murr-Kreises. Schon im Sommer 2022 ließ das Amt das Zeltlager errichten: drei je 60 Meter lange Bierzelte, plus Küchen- und Bädercontainer. Damals wurde die Unterkunft für 440 Menschen konzipiert, die riesigen Innenflächen sind mit Stellwänden in Wohneinheiten für vier bis acht Personen unterteilt, ein Tuch als Tür und ohne Dach. Bei Temperaturen von über 30 Grad im Sommer war das zumindest kurzzeitig eine erträgliche Alternative. Laut älteren Pressemitteilungen hatte das Landratsamt damals vorgehabt, die drei großen Wohnzelte spätestens im Juli 2023 wieder abzubauen. Doch im Oktober 2023 zogen trotzdem rund 150 Menschen aus diversen Landeserstaufnahmestellen (LEAs) in die Notunterkunft ein. Laut einer Sprecherin des Landratsamtes hat der Landkreis Rems-Murr insgesamt knapp 3.000 Unterbringungsplätze für geflüchtete Menschen zur Verfügung, inklusive der Notunterkunft in Backnang. Davon ließen sich aber immer nur 75 bis 80 Prozent belegen, sonst könnte man keine guten Konstellationen für die Menschen garantieren. Aktuell seien knapp 2.300 Menschen in Gemeinschaftsunterkünften des Landratsamtes untergebracht, mehr gehe nicht. Bis Januar 2024 will der Rems-Murr-Kreis weitere 400 Plätze schaffen, so die Sprecherin. Bis dahin seien keine weiteren Plätze mehr verfügbar, außer in der Notunterkunft in Backnang.

Aufgebracht und mit Handy am Ohr hat der Security-Mann die Szene auf dem Bürgersteig vor der Notunterkunft mittlerweile verlassen. Unbeirrt berichtet Esma weiter. Die Heizungen seien in den vergangenen Wochen immer wieder ausgefallen, "in den Zelten hatte es oft keine 15 Grad", zum Teil konnte über mehrere Stunden nicht geheizt werden. Vereinzelt haben Bewohner:innen versucht, ihre Kabinen mit Pappe und Karton gegen die Kälte zu isolieren. Auf die Bitten nach einer zweiten Decke seien sie weggeschickt worden, erst als darüber in der Presse zu lesen war, habe sich das geändert, erzählt die junge Frau. Für sie und ihre Familie sei die Kälte besonders dramatisch: "Meine Mutter hat zwei Nierensteine und braucht deswegen viel Wärme. Durch die Kälte hier hat sie aber starke Schmerzen. Für uns ist das sehr schwer." Regelmäßig müsse Esmas Mutter zum Arzt, dort sei ihr gesagt worden, dass die Gemeinschaftstoiletten im Notlager das Risiko für eine Niereninfektion erhöhen. Alle zwei Wochen müsse die Familie darum neue teure Medikamente kaufen. Laut Sprecherin des Landratsamtes erhalte man bei der Zuweisung von neuen geflüchteten Menschen keine Informationen über deren Gesundheitszustand. Dadurch komme es vor, dass auch kranke Menschen in die Notunterkunft kommen.

Gerade für Frauen sei die Situation im Lager unangenehm, sagt Esma. Grundsätzlich fehle es an Privatsphäre, die abgetrennten Wohneinheiten haben keine Dächer, dadurch höre man alles, was in den Zelten passiere. Außerdem sei der Weg sehr weit zu den Toiletten, die sich laut Esma nicht abschließen lassen. "Wir müssen dann immer aufeinander warten", erzählt sie. Das Landratsamt schreibt das Gegenteil: "Alle Damen-WCs befinden sich in einzeln abschließbaren Kabinen." Hinzukommt, dass weder die Bäder- noch die Toiletten-Container kontinuierlich beheizt sind. Nur gegen ein Pfand können die Bewohner:innen bewegliche Heizungen leihen, um sie während der Zeit im Bad in den Container zu stellen, sagt die Sprecherin des Landratsamtes. Ursprünglich hingen die Heizungen fest installiert in den Containern, doch weil es in den Zelten so kalt war, wurden diese zum Teil von den Bewohner:innen entfernt und in ihre Wohnabteile mitgenommen.

Kälte, fehlende Privatsphäre, Krankheiten – für Peter Hauck aus Murrhardt ist das Lager unerträglich. Der 72-Jährige engagiert sich schon länger ehrenamtlich für geflüchtete Menschen, vermittelt Dolmetscher:innen, hilft vor Ort und legt sich dabei auch immer wieder mit dem Landratsamt an. An diesem Nikolausabend möchte er mit einigen Helfer:innen und Bewohner:innen Musik machen, um zumindest etwas Freude in diese Unterkunft zu bringen. "Ich weigere mich einfach zu akzeptieren, dass es dieses Lager überhaupt gibt", sagt Hauck. Immer wieder schreibe er dem Amt, stellt kritische Fragen und konfrontiert den Kreis mit den Missständen, von denen ihm die Bewohner:innen berichten. "Für mich ist es einfach der Oberhammer, dass hier kranke Menschen und alleine reisende Frauen untergebracht sind", schnaubt der studierte Soziologe und erklärt, dass Krankheiten in den Aufnahmepapieren verzeichnet seien.

Alles Abschreckung?

Beim Bund-Länder-Gipfel im Sommer 2023 vertrat auch der Rems-Murr-Kreis mit Landrat Richard Sigel (parteilos) die Position, die Gemeinden und Kreise stünden an ihren Kapazitätsgrenzen und forderte darum die Bundesregierung zu einer restriktiveren Abschiebe- und Aufnahmepolitik auf. "Das Lager wurde zwei Wochen vor dem Gipfel eröffnet", so Hauck. "Ich denke, man wollte damit einfach nur ein weiteres Beispiel schaffen", statt auch mal "Forderungen zu stellen, die das Leben der Menschen verbessern würden". Für den Aktivisten zeugt die ganze Situation von einer "unnötigen Grausamkeit", die mit diesem Lager exerziert wird.

Immerhin hat sich die Situation mit der Heizung im Laufe der Zeit verbessert und gerade Familien werden möglichst zügig weiter transferiert. Doch bei den Männern sei die Situation übel, betont Hauck. Viele seien frustriert, hätten psychische Probleme oder konsumierten Drogen. "Wenn sich nichts ändert oder sich kein Protest auftut vor dem Landratsamt, dann wendet sich all dieser Frust nach innen." Es sei dann nur eine Frage der Zeit, bis es zu Konflikten komme, so Hauck.

Baran, der seinen richtigen Namen nicht nennen will, sieht das auch so. Er ist einer von rund 20 afghanischen Männern, die in Backnang untergebracht sind. Er sei vor den Taliban aus dem Land geflohen, über die Türkei kam er erst nach Heidelberg, dann nach Backnang. Unter den Männern würde man sich gut verstehen, aber es gäbe keine Dolmetscher:innen für ihre Sprache. "Wir können weder mit dem Sozialarbeiter noch mit der Security reden. Wie sollen wir erklären, welche Probleme wir haben?", berichtet der junge Mann. Ihn plagen Schmerzen, unter seiner Haut würde noch Schrapnellmetall aus dem Krieg stecken. Bei Kälte seien die Schmerzen besonders schlimm. Wie es weitergeht? "Ich weiß es nicht, vielleicht habe ich keine Zukunft. Von was soll ich träumen? Wir müssen wohl erstmal hierbleiben", glaubt Baran. Denn andere Unterkünfte gäbe es nicht.

Hausverbot für Presse und Helfer

Peter Hauck glaubt das nicht. Laut ihm gibt es noch freie Unterkünfte und Plätze in der Region, die das Landratsamt aber ignorieren würde. So stehe ein ehemaliges Pflegeheim in Murrhardt-Oberneustetten leer. Das sei zwar schlecht angebunden und "in besseren Zeiten würde ich auch gegen diese Unterkunft protestieren, weil dort keine Integration möglich ist, aber es ist besser als diese Zelte, in denen Kranke frieren müssen", wettert Hauck. 2015 hatte das Landratsamt diese Unterkunft angemietet, bis 2025 läuft der Mietvertrag noch. Auf die Frage, wieso man dieses leerstehende Haus nicht nutzen würde, antwortet das Landratsamt, dass "verschärfte Bau- und Brandschutzauflagen, ein erheblicher Wasserschaden und weiterer Sanierungsstau" für eine "etwaige Wiederinbetriebnahme eine erhebliche Investition notwendig" machen würde, die "angesichts der verbleibenden Restlaufzeit des Vertrags bis Ende 2025 nicht vertretbar ist". Kurz gesagt: Es ist billiger, wenn die Menschen in den Zelten bleiben. Peter Hauck ist nicht überzeugt: "Wenn es eine reine Geldsache ist, dann glaube ich das so lange nicht, bis ich Zahlen sehe um nachzuvollziehen, was investiert werden müsste. Ich möchte das dann mal gegen die Kosten von diesem Zeltlager halten."

Während die Menschen vor dem Eingang zum Lager stehen, leuchtet auf einmal Blaulicht am Straßenende auf. Ein Polizeiauto fährt heran, hält vor dem Eingang. Zwei Streifenbeamt:innen steigen aus dem Wagen, wollen wissen, was hier los ist. Einige der Bewohner:innen verschwinden schnell in die Zelte, Esma und Peter Hauck bleiben. Aufgebracht berichtet der Security-Mann von der Situation, betont immer wieder, dass die Menschen hier nicht sprechen dürften, schließlich würden sie unter der Aufsicht des Landratsamtes stehen. Auch Peter Hauck redet auf die Polizei und den Security-Mann ein. Nach kurzer Zeit ist die Situation geklärt: Die Bewohner:innen hätten jedes Recht mit der Presse zu reden, sagen die Beamt:innen, solange es auf öffentlichem Gelände passiere, wo keine Genehmigung notwendig sei.

Da kann die Security also nichts machen, aber in Absprache mit dem Landratsamt erteilt sie den zwei Mitarbeitern von Kontext sowie Peter Hauck ein Hausverbot für den Aufenthalt im Lager. "Sollen sie doch", witzelt Hauck. Und verdeutlicht nochmals sein Anliegen: "Dieses Lager muss weg." Bis dahin will er sich weiter engagieren, um die Situation der geflüchteten Menschen wenigstens etwas erträglicher zu machen.

Die Lage in dem Lager hat auch andere aufgeschreckt, so haben unter anderem die AWO und das Jugendzentrum Backnang dazu aufgerufen, Schlafsäcke zu spenden.

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2 Kommentare verfügbar

  • Martin
    am 17.12.2023
    Antworten
    Das größte Problem in diesem Land ist die öffentliche Verwaltung.
    Außer, wenn es um Tariferhöhungen für sich selbst geht, herrscht allerorten Tiefschlaf.
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