"Das war einer der besten Momente in unserer Geschichte", erinnert sich Christian Kern, "eine Eruption der Mitmenschlichkeit." Der 54jährige Ex-Bahnmanager aus Wien blickt fünf Jahre zurück, auf die Tage der überfüllten Bahnhöfe und von Tausenden orientierungslosen Ankömmlingen, gezeichnet von monatelanger Flucht und Ungewissheit. Und zurück auf die ungeahnte Welle der Hilfsbereitschaft, nachdem Angela Merkel und ihr österreichischer Amtskollege Werner Faymann sich entschieden hatten, die Grenze zu Ungarn nicht zu schließen. "Tränengas und Wasserwerfer gegen verzweifelte Menschen einzusetzen", sagt Kern, "ist keine Antwort für Europa."
Der Eruption voraus gingen Monate quälender Diskussionen, auch in Baden-Württemberg. Neben der Landeserstaufnahmestelle (LEA) in Karlsruhe waren Zentren in Mannheim, Freiburg, Tübingen und Ellwangen eröffnet worden. SPD-Integrationsministerin Bilkay Kadem, geborene Öney, kämpfte gegen Windmühlen mit ihrer Botschaft, dass Humanität nicht von der Höhe der Zugangszahlen abhängig gemacht werden dürfe. Der verräterische Begriff Flüchtlingskrise hatte bereits Eingang gefunden ins Alltagdeutsch. Trotzdem lag die AfD in allen Umfragen anhaltend unter der Fünf-Prozent-Hürde.
Und der Eruption ging eine unfassbare menschliche Tragödie voraus. In einem Kühllaster auf einer der meistfrequentierten Schlepperrouten nach Deutschland wurden in der Nähe des burgenländischen Parndorf 59 Männer, acht Frauen und vier Kinder erstickt aufgefunden. Sie waren auf weniger als 15 Quadratmeter eingesperrt, stehend zusammengepfercht. Die Innenwände trugen Spuren verzweifelter Ausbruchsversuche. 2019 wurden die vier Haupttäter in Ungarn zu lebenslanger Haft verurteilt, wegen Mordes unter besonders grausamen Umständen.
"Gutmenschen" – ein widerliches Wort
Ein Bild von verwesenden Leichen kursierte in verschiedenen Redaktionen. Einige druckten es ab, als "Foto der Schande" (BILD) und mit der Begründung, nur solche erschütternden Aufnahmen seien es, "die Politik und Öffentlichkeit endlich aufzurütteln vermögen". Das triefte vor Zynismus, denn als Politik und Öffentlichkeit aufgerüttelt waren und immer mehr Stimmen nach einer großzügigeren Flüchtlingspolitik riefen, wurden immer neue falsche, auch schamlos übertriebene Prognosen in die Welt gesetzt und eine neue Völkerwanderung an die Wand gemalt. "Gutmenschen", diese ebenso widerliche wie gedankenlose Vokabel, benutzt von Normalbürgern wie von konservativen und bürgerlichen Leitartiklern, wurde zu Recht später zum Unwort des Jahres 2015 gekürt.
2 Kommentare verfügbar
Marla
am 26.08.2020Und ab dann komplett ihre Daseinsberechtigung verloren!
Denn seitdem können sie TINA, alternativlos mobben und schimpfen, aber kein Zuhören und keine Lösungen!
Vergessen seit rotgrünlinker Kriegspolitik, dass…