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Zündeln mit Zahlen

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"Wir können nicht zehntausend Flüchtlinge am Tag so unterbringen, wie wir wollen", sagt Tübingens grüner OB Boris Palmer. Wird auch gar nicht verlangt von Deutschland, klingt aber schön dramatisch. Anstelle der alten "Das Boot ist voll"-Rhetorik haben in der aktuellen Zuwanderungsdebatte Zahlen Hochkonjunktur. Vor allem viele falsche.

An der offiziellen Prognose hat sich nichts geändert: Das Bundesinnenministerium geht davon aus, dass im laufenden Jahr insgesamt 800 000 Menschen nach Deutschland kommen, gut 100 000 davon nach Baden-Württemberg. Für die ersten neun Monate liegt eine Ist-Bilanz schon auf dem Tisch: Registriert wurden bundesweit 577 305 Zuwanderer, nur 274 923 haben ihren Asylantrag gestellt. 52 789 waren es in Baden-Württemberg und 14 683 allein im September. Nach einer Übersicht des Integrationsministeriums sind im selben Monat weitere 15 000 Flüchtlinge eingereist, die noch darauf warten, um Asyl anzusuchen.

Von "zehntausend Tag für Tag", wie sie in Union und AfD ebenfalls gerne beschworen werden, kann keine Rede sein. So wenig wie von 920 000 Migranten, die die Zeitung mit den ganz großen Buchstaben für das vierte Quartal 2015 kommen sah, unter Berufung auf eine interne Berechnung des Bundesinnenministeriums. Da müssten an den 92 Tagen von 1. Oktober bis 31. Dezember tatsächlich zehntausend pro Tag anklopfen. In Wahrheit schwankt die Zahl der Grenzübertritte auf einem deutlich anderen, nämlich niedrigeren Niveau. Die Verantwortlichen der Stadt München schreiben in einer offiziellen Mitteilung am 20. Oktober, noch immer träfen Flüchtlinge am Hauptbahnhof ein, im "dreistelligen Bereich pro Tag". So wenige, dass Unterstützer aktiv geworden sind. Er glaube, "dass Bilder von Menschen, die helfen, und solchen, denen geholfen wird, aber politisch nicht gewollt sind", meint Colin Turner von der Flüchtlingshilfe in der bayerischen Landeshauptstadt. Vielmehr würden "Probleme im Grenzgebiet mindestens fahrlässig, wenn nicht absichtlich herbeigeführt".

Da passt ins Bild, wie CSU-Politiker immer lauter über die "grüne Grenze" im Raum Passau schwadronieren, obwohl eine unkontrollierte Einreise nach Bayern mit einer Durchquerung von Inn oder Donau verbunden wäre. "Die weißen Verpflegungszelte auf der deutschen Seite sind leer, der lange Stau ist in Österreich", schreibt die "Stuttgarter Zeitung" verdienstvollerweise in einem Lokalaugenschein. Und dass die Situation auch deshalb so angespannt ist, weil viele Flüchtlinge gar nicht in bereitgestellte Unterkünfte wollten, in der Angst, Deutschland könnte die Grenzen völlig schließen.

Scharfmacher operieren mit falschen Zahlen

Natürlich weist die Staatsregierung alle Vorwürfe, die Situation absichtlich und im Sinne ihrer Abschreckungsideologie zu eskalieren, von sich, um ihrerseits über falsche Zahlen zu spekulieren. Von 270 000 bis 280 000 Ankommenden allein im September ist die Rede. Der frühere CSU-Verkehrsminister Peter Ramsauer beschuldigt Österreich - in der in bestimmten Kreisen so beliebten drastischen Wortwahl -, den Behörden in Freilassing "jeden Tag 2000 Menschen vor die Füße zu kippen". Die Grenzstadt selbst weiß es anders: Am 1. Oktober, dem Tag mit dem Maximum, reisten 2600 Flüchtlinge ein, seither kommen zwischen 700 und 1500 täglich. "Selten weniger", sagt ein Sprecher und erzählt von einer Versammlung im Rathaus mit fast 400 Leuten. Viele seien ratlos, aber gegen Transitzonen und nicht gegen Zuwanderer. Davon erzählt Ramsauer nichts, dafür aber von den "riesigen Besorgnissen" der Bevölkerung und dass "jeden Tag in dieser Frontlinie bombardiert" werde. Die Stimmung, behauptet der einstige Bundesverkehrsminister, sei "längst gekippt".

Und das Geschäft solcher Scharfmacher besorgt der Grüne mit, wenn er in einschlägigen Nachrichtensendungen mit bedenkenträgerischer Miene die deutsche Überforderung beklagt. Beim Antrittsbesuch von Bundespräsident Joachim Gauck im April 2012 erläuterte Tübingens OB Boris Palmer im zweiten Stock des Rathauses stolz die Darstellungen der Gerechtigkeit (Justitia) und der Klugheit (Prudentia). Jetzt nimmt er für sich in Anspruch auszusprechen, was andere sich zu sagen nicht trauen. Genauso argumentieren allerdings Unions-Hardliner oder Rechtsaußen-Stadträte der AfD. Außerdem sind noch nicht einmal die vorhandenen rund tausend Plätze in Tübingen belegt. Ganz zu schweigen von dem Vorbild, das andere baden-württembergische Kommunen geben. In Stuttgart werden bald in der fünften Tranche dezentrale Unterkünfte in Systembauweise errichtet. In manchen Bezirken liegt der Anteil der Zugezogenen bereits bei knapp drei Prozent der Bevölkerung. Danach müsste die Universitätsstadt am Neckar rund 2500 Hilfesuchende unterbringen. Der OB gibt sich schon jetzt "überrollt". Er wisse "nicht mehr ein und aus". Immerhin will er ein Wohnungsbauprogramm auflegen. Weil es schnell gehen muss, gegebenenfalls auch "unter Ausblendung aller gesetzlichen Hindernisse".

Gebraucht werden die Unterkünfte allemal, gerade bei realistischer Bewertung der Lage im Herbst 2015. Nach den Zahlen der zwischenstaatlichen Internationalen Organisation für Migration (IOM) sind im laufenden Jahr bisher fast 700 000 Menschen über das Mittelmeer nach Europa gekommen; im Oktober waren es bisher pro Tag durchschnittlich 6000, die aus der Türkei nach Griechenland übersetzten, um über Mazedonien, Serbien, Kroatien und jetzt Slowenien weiter nach Österreich und Deutschland zu ziehen. Selbst diese Größenordnung stütze aber noch immer die gültige deutsche Prognose, heißt es. Am vergangenen "Spitzenwochenende", wie die umstrittene österreichische Innenministerin Johanna Mikl-Leitner (ÖVP) erklärt, sind 13 000 Flüchtlinge an zwei Tagen ein- und 9000 an zwei Tagen nach Deutschland ausgereist. Während des Gipfeltreffen am vergangenen Sonntag wurde Brüssel offiziell der neue "Rekord von Neuankömmlingen" gemeldet: 9000 Flüchtlinge seien seit Samstag in Slowenien angekommen. Von zehntausend ist noch immer keine Rede.

Deutschland ist keineswegs die Endstation aller Flüchtlinge

Überdies ist völlig aus dem Blick geraten, dass die Bundesrepublik keineswegs für alle Endstation ist. Während die Bayern Transitzonen zur Abschreckung durchsetzen wollen, gibt es in Schleswig-Holstein längst Transitzonen zur Weiterreise, im Kieler Fährterminal, oder, wenn Kreuzfahrtschiffe ankommen, in einem Gebäude am Bootshafen. EU-Statistiker können belegen, dass die weit verbreitete Vorstellung, alle Flüchtlinge auf der Balkanroute wollten nach Deutschland, nicht der Realität entspricht. So haben im September knapp 10 000 Migranten Asyl in Österreich beantragt. Schweden mit seinen zehn Millionen Einwohnern zählt in den ersten neun Monaten 86 000 Menschen – nahezu sämtlich aus Deutschland. Das bedeutet nach Adam Riese: Nicht weniger als 15(!) Prozent der seit Jahresbeginn Angekommenen haben Deutschland schnell (und freiwillig) schon wieder verlassen. Einige übrigens über Schweden ins noch dünner besiedelte Finnland, in der Hoffnung, dort noch bessere Lebens- und Arbeitsmöglichkeiten anzutreffen.

Untersucht ist auch, wie die bedrohlich klingenden Prognosen zustande kommen. In allen Ländern rechnen die üblichen Verdächtigen – die rechte FPÖ in Österreich, CSU-Politiker, Vertreter der AfD oder die Schwedendemokraten im hohen Norden – gezielt die Spitzentage hoch. Mit Vokabeln wie Strom oder Flut wird zusätzlich eine gewisse Stimmung erzeugt. Angstmache, um sich als wackerer Kämpfer gegen die Ängste besorgter Bürger und Bürgerinnen in die Brust zu werfen. "Leider entstehen Flaschenhälse", steht in einer aktuellen Bewertung der Lage an der slowenisch-österreichischen Grenze zu lesen, weil die Nachbarn ihrerseits beschlossen hätten, an der kroatischen Grenze wieder nach den Schengen-Regeln vorzugehen. Die so entstehenden Bilder würden dann genutzt, um "die angeblich erreichte Belastungsgrenze zu belegen".

Und weil das alles noch nicht genug ist, rechnen Ökonomen Milliardenkosten vor, falls Deutschland bei seiner bisherigen Migrationspolitik bleibt, weissagen, wie tief demnächst den Steuerzahlern in den Geldbeutel gegriffen wird. Der künftige Präsident des Ifo-Instituts für Wirtschaftsforschung, Clemens Fuest, spricht – bei 800 000 Zuwanderern – von 20 bis 30 Milliarden pro Jahr, die zusätzlich notwendig würden. Der Freiburger Finanzwissenschaftler Bernd Raffelhüschen erwartet eine Erhöhung der Steuern und Abgaben von drei Prozent pro eine Million Zuwanderer. Solche Größenordnungen hat auch Boris Palmer thematisiert. Der Grüne mit den Zügen eines Egoshooters berichtet von 400 Mails als Reaktion auf seine Äußerungen, davon 98 Prozent "Dank und Zustimmung". Er will weiter aufrütteln, "reinen Wein einschenken" und die Bürgerschaft an der Ausrichtung der Asylpolitik beteiligen. Denn wenn "Jahr für Jahr eine Million Menschen nach Deutschland kommt", sagt er, "müssen wir wirklich fragen: 'Wollt ihr das?'".


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6 Kommentare verfügbar

  • Petzi
    am 02.11.2015
    Antworten
    „Mehr Menschen im Lande erzeugen mehr Umsatz,“
    achso, aber zuerst einmal kosten sie extrem viel (für Ärzte, Sprachkurse, Lebenshaltung, Wohnung, Hartz4, Schulbildung etc.) – es gibt ja genug Statistiken, die zeigen, dass Migranten ohne Sprachkenntnisse in den ersten fünf Jahren nur selten einen Job…
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