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Auf der Straße

Neue deutsche Welle

Auf der Straße: Neue deutsche Welle
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Während ich diese Zeilen tippe, höre ich Hupen, Tröten und Trompeten. Eine Protestarmee hat mit schwerem Gerät ihre Offensive auf das Stuttgarter Landwirtschaftsministerium in meiner Nachbarschaft am Kernerplatz gestartet. Hubschrauber dröhnen über meinem Viertel. Vor Jahresende rechne ich allerdings nicht mehr mit Luftangriffen im deutschen Bauernkrieg.

Vor dem CDU-geführten Ministerium steht seit langem ein Automat, der als Spezialität Fleischprodukte vom heimischem Wild anbietet. Etwa Wurst vom Reh, das im fairen Überlebenskampf zwischen Mensch und Tier erlegt wurde. Die Landespolitik setzt damit ein nachhaltiges Zeichen für jene Spezies der legal bewaffneten Bevölkerung, die verhindert, dass wir uns allein von Schweinen und Kühen notleidender Landwirte ernähren müssen. Von toten Hühnern zu schweigen. Dass ich mich mit den aufständischen Bauern solidarisiere, dürfte keine Frage sein: beim Blick auf meinen Namen. Schon als Kind wollte ich Dreschflegel werden. Teilweise habe ich das geschafft.

Wer am Bauernministerium die Treppen Richtung Schlossgarten hinuntergeht, landet mit etwas Glück an der Straßenbahnhaltestelle Staatsgalerie. Das ist die Station, an der ich regelmäßig von Passanten gefragt werde, wo eigentlich die Stuttgarter Staatsgalerie sei. Dieses Museum ist weit weg von der Zivilisation, wird aber dank auskunftsfreudiger Menschen und Google Maps immer wieder neu entdeckt. Zurzeit ist die Suche übrigens noch beschwerlicher als üblich: Die Haltestelle – bei der Eröffnung vor drei Jahren wie alle Stuttgarter Neubauten als architektonisches Weltereignis gefeiert – muss saniert werden.

Für mich nicht so tragisch. Als Rentner bin ich ein Privilegierter per pedes. Für andere läuft es so, wie es Matthew Beaumont in seinem Buch "The Walker" schildert: "Der ökonomische und gesellschaftliche Druck des Kapitalismus, vor allem in Zeiten der Prekarität wie unserer, verurteilt die Mehrheit der Menschen dazu, entweder von einem Ort zum anderen hetzen zu müssen, weil es ihnen die Zeitdisziplin des Marktes vorschreibt, oder herumzubummeln und herumzustreifen, weil sie keine oder keine erfüllende Arbeit finden."

Unsereiner bummelt herum, um die untergehende Welt besser zu verstehen, was er sich zurzeit noch leisten kann.

Einladung in die Luftschlangen-Demokratie

An der Haltestelle Staatsgalerie sehe ich zwei Plakate in Werbevitrinen, eins grün, eins rot. Ein Reklamefuzzi muss eine Luftschlange konstruiert haben, die – bläst man in sie hinein – in Schnörkelschrift das Wort "Demokratie" erzeugt. Glaubt man den Postern, kann man die Demokratie im Stuttgarter Theodor-Heuss-Haus in Feuerbach erleben. Heuss, dies am Rande, ist nicht nur der Mann, dessen Name eine Partymeile der Stadt als "Theo" populär gemacht hat. Als erster deutscher Bundespräsident gilt er in einschlägigen Kreisen bis heute auch als Vorzeigedemokrat. 1933 hat er Hitlers Ermächtigungsgesetz zugestimmt. Vor diesem Hintergrund wird die Luftschlangen-Demokratie im einstigen Wohnhaus des früheren FDPlers intensiv erlebbar, voll authentisch.

Ganz nebenbei erzählt uns das Plakat etwas über die herrschenden Verhältnisse hierzulande. Seine wild herumpurzelnden Buchstaben symbolisieren die Wellen von Zorn und Wut, Angst und Hass, die nicht nur uns Bauern klarmachen, dass wir das Ende der Demokratie schneller erleben werden, als viele denken.

Das Böse im Auge, wehrte sich der Stuttgarter Oberbürgermeister Frank Nopper (CDU) in seiner Weihnachtsansprache mit Mut machender Courage und fundierter Kenntnis der Weltlage gegen die faschistische Bedrohung, die inzwischen auch bei Abstimmungen im Gemeinderat zu spüren ist: Er forderte ein "Fest des Friedens". Dieser Mann ist ein demokratischer Wellenbrecher. Da schnappt sogar die Luftschlange nach Luft.

Unterdessen soll niemand denken, mir ginge der Atem aus, weil ich mich angesichts der rechten Welle und der feigen Abtaucher in der Politik der ultimativen Hoffnungslosigkeit hingebe. Glück, sage ich mir, ist so schwer definierbar wie Demokratie – und womöglich taugt die Hoffnungslosigkeit am Ende als unterste Stufe auf dem Weg zur Zuversicht.

Dank an den Tröster der Desperados

Drei Wochen vor Weihnachten, am 3. Dezember, als mein mentaler Exitus nahte, verlor ich ausgerechnet auf dem Weg vom Gewerkschaftshaus zum Bauernministerium meinen Geldbeutel. Eine kleine, umfunktionierte Schlüsseltasche mit allem drin, was der Mensch zum Überleben in einer Demokratie braucht. Personalausweis, Bankkarte, Stehplatz-Dauerkarte für den B-Block der Stuttgarter Kickers.

Verdammte Scheiße, sagte ich mir, jetzt bist du erledigt. Elender dran als der Hauptmann von Köpenick. Du wirst in der ganzen Stadt kein einziges Passamt finden, das du stürmen kannst. Die Schlangen davor sind zu lang. Mein erster Versuch, in ein abgelegenes Bürgerbüro in Sillenbuch vorzudringen, scheitert kläglich. Überfüllt. Wenige Tage später nehme ich morgens Möhringen in Angriff. Das Amt öffnet um halb neun, um acht bin ich zur Stelle. Die Schlange ist zwar nicht Luft für mich, trotz meiner Kurzsichtigkeit aber scheint sie überschaubar. Und die Wartenden werden überaus zuvorkommend von einem Security-Mann informiert, was sie erwartet. Respekt.

Irgendwann lande ich im Gebäude auf einem Stuhl mit Sicht auf die Nummer, die ich bin. Später stehe ich am Tresen einer jungen Frau, die so freundlich zu mir ist, dass ich Hemmungen habe, sie wegen meines blöden Passes zu belästigen. Als ich dennoch beginne, ein Formular auszufüllen, schaut sie von ihrem Bildschirm auf und sagt lächelnd: Ihr Pass wurde gefunden, sie können ihn im Bürgerbüro Mitte abholen, ich rufe dort an.

Mir wird schwindlig. Es scheint, als verlöre ich meinen gefestigten Satansglauben an die ganze gottverdammte Menschheit, die nichts taugt. Nach einer feierlichen Dankesrede eile ich zurück ins Tal, stürme ungehindert das Bürgerbüro Mitte – und erhalte meinen Pass. Allerdings fehlt der Beutel. Der restliche Kram, sagt man mir, befinde sich im Fundbüro. Ich bin schneller dort als der Wind, den du machst, um in eine Luftschlange zu blasen. Und es ist unfassbar: alles da. Sämtliche Karten. Bargeld. Das ganze Leben. Leider hat der Finder keine Daten für mich hinterlassen, auf einem Formular lediglich angekreuzt, dass er auf Finderlohn verzichte. Ein heimlicher Held. Tröster der Desperados.

Die Tage danach vergehen, meine ungewohnten Zweifel an der Hoffnungslosigkeit stürzen mich in tiefe Depressionen. Dann kommt der Montag, 18. Dezember, die Woche vor Weihnachten. In meinem Postkasten liegen zwei Briefe. Einer vom Fundamt, einer vom Bürgerbüro Mitte. Der erste datiert vom 4. Dezember, der zweite datiert vom 7. Dezember. Ein solches Timing bei der Zustellung unter dem Druck des Kapitalismus ist in meinem Fall seit langem die Regel. Eines Tages wird deshalb vor der Postbehörde ein Bauer-Aufstand ausbrechen – und der Hauptmann vom Kernerplatz den letzten Briefträger-Blues auf dem Posthorn blasen.

PS: Ich habe keinerlei Hoffnung, dass sich etwas zum Guten ändern wird. Die neue deutsche Welle wird uns überrollen. In diesem Sinne: Glückliches neues Jahr!

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1 Kommentar verfügbar

  • Manfred Korn
    am 27.12.2023
    Antworten
    Beim Begriff "Neue Deutsche Welle" habe ich an den Auslandssender Deutschlands gedacht, der unter dem Namen "Deutsche Welle" bekannt ist. Hier finden Sie durchaus auch Themen, denn dieser Sender wird mit 410 Mio Euro pro Jahr Steuergeld aus dem Staatsministerium von Claudia Roth finanziert, obwohl…
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