Was ist davon zu halten, wenn ich am Neujahrsmorgen bei meinen ersten Schritten auf der Straße diesen heimlichen Rüffel lese: "Denken sie auch oder schlurfen sie nur sinnlos über die Erde?" Falls ich zu denen zähle, die mit "sie" gemeint sind, kann ich sagen: Lange habe ich geglaubt, sinnlos über die Erde zu schlurfen, würde mir beim Denken helfen. Inzwischen weiß ich, dass mein Leben nicht sinnvoller wird, wenn ich beim Schlurfen denke.
Das erwähnte Zitat wirbt in einer Vitrine für die Ausstellung "Komplett Kafka" mit Arbeiten des österreichischen Comiczeichners Nicolas Mahler; bis zum 23. März 2024 ist sie im Stuttgarter Literaturhaus zu sehen. Man begegnet dort Strichfiguren wie dem Käfer aus Franz Kafkas Erzählung "Die Verwandlung" und dem Dichter höchstselbst. Und damit das Humorverständnis der literarisch gebildeten Kundschaft keinen Schaden nimmt, sind im Text zur Schau Sätze aus einem Brief Kafkas an seine Verlobte eingebettet: "Ich kann auch lachen, Felice, zweifle nicht daran. Ich bin sogar als großer Lacher bekannt."
Um weitere Beweise zu Kafkas lustiger Sicht auf seine dunkle Existenz zu finden, habe ich wieder mal in seinen Tagebüchern geblättert und schon auf den vorderen Seiten diesen frohgemuten Eintrag entdeckt: "Sonntag, den 19. Juni 10 geschlafen aufgewacht, geschlafen, aufgewacht, elendes Leben." Von dieser Lektüre motiviert, habe ich ein Tässchen Kaffee geschlürft und bin dann bei elendem Wetter über den Asphalt der Erde in den Januar geschlurft, immer in der schrecklichen Erwartung, dass mir jemand auf der Straße ein "frohes neues Jahr" um die Ohren haut.
Nicht nur der Mensch, auch ein Ereignis und ein ganzes Jahr können "froh" sein, hat mir der Duden bestätigt, wenngleich ich froh wäre, wenn die guten Wünsche nicht so lange in den Januar hinein verteilt würden. Dieses Jahr hat in Saus und Graus begonnen wie lange keines mehr. Und der Frohsinn in diesen Tagen könnte grenzenlos sein, weil es in miesen Zeiten mehr Anlässe für die großen Lacher gibt als in guten. Ich höre das Schenkelklopfen, wenn der Spritpreis für deinen Lamborghini-Traktor steigt und ein Migrant auf deinem Parkplatz übernachtet.
In unglücklichen Zeiten doch irgendwie zufrieden
In Wahrheit kann auch ein Mensch, der sich pausenlos mit deprimierenden Dingen beschäftigt, ein verdammt komischer Vogel sein. Leider aber gilt diese Erkenntnis nicht für die Mehrheit unserer lieben Mitbürger:innen. Anscheinend ist hierzulande die Laune besonders mies und humorlos. Laut einer aktuellen Umfrage des Instituts für Demoskopie Allensbach sind nur 16 Prozent der Befragten der Meinung, in glücklichen Zeiten zu leben. Der hoffnungsloseste Wert, seit diese Erhebung 1963 erstmals gemacht wurde.
Man sollte darüber nachdenken, ob es nicht richtig wäre, dem Stammtischwitzbold Dieter Nuhr zuliebe die Cancel-Culture-Bullen zu rufen, wenn irgendein Liederkranz mit dem lustigen Namen Frohsinn den Kanon intoniert: "Froh zu sein bedarf es wenig / und wer froh ist, ist ein König". Erstens bin ich gegen monarchistische Karrieren und zweitens schon froh, wenn es meine Motorik noch zulässt, irgendwo schmerzfrei herumzustiefeln. Mit dieser Haltung bin ich vor Jahren übrigens mal auf dem Franz-Kafka-Weg gelandet; man findet ihn seit 1964 im Stuttgarter Stadtteil Freiberg; sechs Jahre später wurde dort ein weiterer Weg nach Max Brod, dem Freund und Nachlassverwalter des Dichters, benannt. Keine Ahnung, auf wessen Einsatz diese Würdigungen in der Abgeschiedenheit zurückgehen. Heute meide ich diese Gegend aus Furcht vor dem Mistkäfer in mir.
Das Plakat mit dem Kafka-Zitat hinter mir, ging ich von der Urbanstraße die Treppen hinab Richtung Eisenbahn. Die hässliche Schillerstraße unten mit ihrem wilden Verkehr an der Bahnhofsruine hat mir in der Vergangenheit immer gut gefallen, vor allem bei Dunkelheit. Da öffnen sich dem Spaziergänger neben den Autorennspuren tote Asphaltwege hinter Absperrgittern. Und ich kam mir dort vor wie ein einsamer Tramp in Erwartung seiner Hinrichtung an der Autobahn, wo dereinst mein Herz begraben wird. Für diese Route der Verlorenen brauchte es nur einige Minuten Aufmerksamkeit, um nicht überfahren zu werden.
Jetzt aber ist diese Strecke (vorübergehend) zum Epizentrum des Überlandverkehrs geworden. Ich sage nur: SEV, Stuttgarts Mobilitätszukunft. Wer nach Waiblingen oder Winnenden will, wofür es anscheinend viele Gründe gibt, landet mitten in einem hektischen Haufen, dessen käfergleiche Lebewesen von Security-Leuten gelenkt werden: "Bitte nicht die gelbe Linie übertreten." So wurde aus dem toten Pfad an der Schillerstraße ein echter Publikumsrenner. Und so ist es ein Wunder, dass ich noch Augen habe für ein literarisches Graffito an einer Bauwand am Eingang zur Klettpassage unterm Bahnhof: "Ich bin ja / auch schon zufrieden / irgendwie".
2024 gibt's Free Hugs von Rechtsextremen
Diese blasse Botschaft auf grauem Beton scheint dem beschissenen Klima in diesem Land irgendwie zu widersprechen. Aber ich rieche Heuchelei. Da will uns jemand was vortäuschen, und ich denke nicht daran, falsche Gefühle statt Fakten walten zu lassen, poetisch verseucht von Kafka, der in seinen Tagebüchern notiert: "Ich gieng (sic) an dem Bordell vorüber, wie an dem Haus einer Geliebten". Ich würde nie wagen, diesen Satz öffentlich zu zitieren – ein Platz in der Hölle der politisch Unkorrekten wäre mir sicher. Zum Glück ist eine Kolumne wie diese hier eine eher intime, unverfängliche Sache.
An der Wand mit der Niederschrift des Irgendwie-Zufriedenen gehe ich inzwischen vorbei wie an einer heruntergekommenen Bedürfnisanstalt. Wie gesagt, ich traue der Sache nicht, so wenig wie am Neujahrstag den Menschen mit der "Free Hugs"-Marotte, die in der Königstraße Schilder mit der Aufschrift "Lass dich umarmen!" hochhalten. Fern jedes Bordell-Gedankens ist diese Drücker-Offerte kostenlos. Doch angesichts des neuen Jahres und allem, was es uns bescheren wird, sage ich mir: Lass dich nicht umarmen, du übel gelaunter alter Schlurfer. Sonst hast du entweder Corona, Filzläuse oder keine Geldbörse mehr.
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