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Vögel im Winter

Ein Herz für Nilgänse

Vögel im Winter: Ein Herz für Nilgänse
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Warum gibt es in den Tropen mehr bunte Vögel als hierzulande? Frieren Vögel im Winter? Ist die Nilgans wirklich eine so zerstörerische und aggressive Art, wie viele behaupten? Fragen, mit denen man bei Friederike Woog richtig ist. Denn die Stuttgarterin ist Ornithologin, Vogelkundlerin also.

Friederike Woog antwortet auf Fragen geduldig und ausführlich. Die Denkpfade der Wissenschaftlerin sind sehr komplex. Und die Vogelwelt ist riesig. Über 10.000 Arten gibt es weltweit. Kein Wunder also, dass Woog im Redefluss gerne auf Details eingeht. Den roten Faden verliert sie aber nie.

Ihr Arbeitsplatz ist das Schloss Rosenstein, gelegen mitten im Stuttgarter Schlossgarten, wo auch an diesem frischen Wintermorgen die Nilgänse schnattern und die Enten quaken. Frieren Vögel eigentlich im Winter? "Nein, denn vorher plustern sie sich auf, um Wärme zu speichern, so entsteht eine isolierende Schicht", erklärt die Ornithologin. Draußen an ihrer Bürotür klebt der Sticker "Der frühe Vogel kann mich mal". Drinnen ragt ein Regal voller Vogelbestimmungsbücher in die Höhe – Woogs Handbibliothek für die tägliche Arbeit, darunter die 17-bändige Enzyklopädie "The handbook of the birds of the world".

Seit 2000 ist Woog als Kustodin wissenschaftlich verantwortlich für die Vogelsammlung der Zoologie-Abteilung des Naturkundemuseums Stuttgart. Sie wird später durch die riesige Sammlung mit 123.000 Präparaten führen, die – sortiert nach Vogelfamilien – in großen Stahlschränken unterm Dach des Museums aufbewahrt wird. Ob sie einen Lieblingsvogel habe? "Nein, ich mag sie alle. Gerade diese Vielfalt ist doch so toll" – und demonstriert das gleich am nächsten Schrank, der voller unterschiedlicher Lieste (Eisvögel) steckt, denen auch der Lachende Hans angehört, für den Woog offenbar dann doch eine ganz besondere Sympathie hegt. Ein charismatischer Vogel: groß, kräftiger Schnabel, große, dunkle Augen.

Stuttgarts Vogelsammlung gehört zu den sechs größten Deutschlands. Das älteste Exponat stammt aus dem Jahr 1812: ein Großer Paradiesvogel aus Neuguinea. Solche Sammlungen seien für die Forschung ungeheuer wichtig, erklärt Woog, vor allem als genetisches Vergleichsmaterial. Heutige molekulare Methoden führten zu neuen Antworten auf alte Fragen.

1968 geboren, wuchs Woog mit ihrem jüngeren Bruder in Stuttgart auf. Vater: Fotograf, Mutter: promovierte Sozialwissenschaftlerin. Das Waldsterben – in den 1980er-Jahren in aller Munde – sei der Auslöser gewesen, sich als Jugendliche im Naturschutz zu engagieren. So gründete sie an ihrer Schule eine Jugendgruppe des Deutschen Bundes für Vogelschutz (heute NABU). "Wir haben Nistkästen gebaut, den Wald erkundet, einen Ökogarten angelegt." 1986 dann die Nuklearkatastrophe von Tschernobyl. "Wir hatten gerade ein großes Hügelbeet bepflanzt. Einen Tage später kam der Fallout hier an, und wir konnten alles wieder einstampfen."

Die Schildkröte brachte sie zu den Gänsen

Nach dem Abitur studierte Woog Biologie an der Uni Hohenheim und absolvierte mehrmonatige Forschungspraktika in Nationalparks der USA. Zunächst im Chiricahua National Monument in Arizona, wo sie ein Projekt zu Techniken des Feuermonitorings botanisch begleitete. Anschließend ging sie für ein Meeresschildkröten-Projekt nach Hawaii in den Volcanoes National Park. Das tagelange, erfolglose Warten auf die Echte Karettschildkröte, die dann doch nicht kam, um am Strand ihre Eier abzulegen, wurde ihr aber bald zu langweilig. Sie widmete sich lieber den Hawaiigänsen – der Beginn ihrer Karriere als Ornithologin, wie sie sagt. "Hochinteressant, wie es die Tiere schaffen, in der Wüste zu brüten. Ihre Jungen müssen nach dem Schlüpfen erstmal Kilometer laufen, um Wasser und Fressen zu finden. Die Küken können sich, wie alle Enten und Gänse, in den ersten Tagen zwar über einen Dottersack am Bauch ernähren, sie brauchen aber Wasser, um an die Nährstoffe zu kommen."

Auf Hawaii traf sie auf den amerikanischen Vogelkundler Jeff Black, der dort ein Fünf-Jahre-Forschungsprojekt zur Hawaiigans initiierte. "Die Hawaiigans war damals vom Aussterben bedroht. Es gab dort zeitweise nur noch zwölf Gänse in freier Natur. Der US-Bundesstaat Hawaii hatte zwar Gänse gezüchtet und ausgewildert, aber sie vermehrten sich nicht wirklich in freier Wildbahn. Die kleinen Gössel wurden oft von Mungos oder Katzen gefressen", erklärt Woog.

Black hat sie dann nach England eingeladen in das Reservat "Wildfowl and Wetlands Trust" in Slimbridge bei Bristol, um dort die Ökologie und das Verhalten von Wasservögeln zu erforschen. Sie habe dort sehr viel über die Methoden und Techniken der wissenschaftlichen Vogel-Beringung und -bestimmung gelernt.

Die Hawaiigans und die Frage, warum ihre Population trotz Schutzmaßnahmen nicht wirklich steigen will, hat Woog aber nicht mehr losgelassen. Sie widmete sich dieser Frage in ihrer Diplom- und dann in ihrer Doktorarbeit, hat insgesamt zweieinhalb Jahre in Hawaii im Freiland gearbeitet, um das Paar- und Brutverhalten ausgewilderter Hawaiigänse zu untersuchen und daraus Vorschläge zur Rettung der Art zu entwickeln. Sie erkannte etwa, dass ausgewilderte Gänse, die sich mit einer Wildgans verpaart hatten, einen höheren Bruterfolg hatten als Paare, die sich aus zwei ausgewilderten Tieren zusammensetzten. In Gefangenschaft aufgewachsenen Gänsen fehlte eindeutig die Erfahrung in freier Natur. "Ein ausgewilderter Ganter wusste nicht, was er tun sollte, als ein Mungo die Brut bedrohte. Seine in der Wildnis aufgewachsene Partnerin hat das dann erledigt und den Mungo durch Attacken und heftiges Flügelschlagen vertrieben." Woogs Erkenntnis: Es sei wichtig, die Tiere unter möglichst natürlichen Bedingungen großzuziehen und nicht in kleinen Gehegen wie Hühner, was vorher der Fall gewesen sei. Heute ist die Hawaiigans nicht mehr vom Aussterben bedroht. "Vielleicht liegt es auch ein bisschen daran, dass ich bestimmte Dinge herausgefunden habe", sagt sie bescheiden.

Pendeln zwischen Regenwald und Schlossgarten

Klar, dass sich Woog heute neben der Vogelsammlung und vielem anderen auch weiterhin dem Studium lebender Vögeln widmet. Etwa in zwei Langzeitprojekten. Seit 2003 erforscht sie auf Madagaskar die Vogelwelt des Regenwaldes, fährt dort alle zwei Jahre hin, um ihre Studien voranzutreiben, immer in Zusammenarbeit mit den Einheimischen. Feine Japannetze werden gespannt, die Vögel, die hineinfliegen, vermessen, untersucht, beringt. Mit Bleistift ausgefüllte lange Daten-Listen bringt sie von ihren Reisen mit. Trifft sie Vögel auch mal wieder? "Ja, manchmal", sagt sie, "2018 war es mal ein kleiner Vangawürger, der mir schon 2003 ins Netz gegangen war." Vögel können alt werden.

In ihrem zweiten Langzeitprojekt widmet sich Woog der Vogelwelt direkt vor der Haustür: im Stuttgarter Schlossgarten und seinen Gewässern. Hier beobachtet sie seit 2002 die Graugänse und ihre Reproduktionserfolge. Für Ergebnisse seien große Zeiträume notwendig. Mit Hilfe ehrenamtlich engagierter Mitarbeiter:innen werden die Graugänse mit Ringen versehen, die regelmäßig abgelesen werden. Mittlerweile geben 170.000 Datenätze Aufschluss über die Population, Verteilungsmuster und Lebensraumnutzung der Graugänse. "Als ich hier 2000 begann, gab es gerade mal ein Dutzend wilder Graugänse im Schlossgarten. Heute sind es zwischen 250 und 350." Interessanterweise wachse die Population von Gänsen nicht ins Unendliche, sondern levele sich irgendwann aus. Der Bruterfolg einzelner Tiere verändere sich mit dem Anwachsen der Population: Ist eine bestimmte Zahl erreicht, bekommen sie weniger Junge. Bei den Stuttgarter Graugänsen stagniere die Population seit 2010. Und interessant: Just 2010 haben Nilgänse zum nachweislich ersten Mal in Stuttgart erfolgreich gebrütet. Die ursprünglich aus Ägypten stammenden Wasservögel werden seitdem von Woog und ihrem Team mitgezählt.

Heute leben zwischen 150 bis 200 Nilgänse in Stuttgart. Lange sei es so gewesen, dass es pro Park-Gewässer nur ein Nilganspaar mit Jungen gegeben habe. Seit diesem Jahr werde diese Zahl erstmals überschritten. Für Woog ein Zeichen dafür, dass Nilgänse eine gar nicht so aggressive Art sind, wie immer angenommen wird – weder Artgenossen gegenüber noch den Graugänsen. "Nilgänse sind halt kecker. Sie verteidigen ihre Jungen sehr stark. Aber meistens sitzen sie nur friedlich da und machen nichts. Ich habe auch schon Graugänse gesehen, die kleine Rehpinscher gejagt haben und ihnen in den Schwanz gebissen haben."

Jaja, die Nilgänse. Nicht gerade sehr beliebt diese Art. "Jedes Jahr dasselbe", bestätigt Woog, "Notalarm am Max‐Eyth‐See! Weil die Nilgänse dort die Wege vollkoten und sich alle beschweren. Aber die Leute vergessen jedes Jahr, dass das nur von Mitte Mai bis Mitte Juni so ist." Alle Enten und Gänse seien dann flugunfähig, weil sie in der Mauser seien und alle ihre Flugfedern abwerfen. "Sie müssen dann natürlich in der Nähe des Wassers bleiben", erklärt Woog, "um schnell vor ihren Feinden fliehen zu können. Wenn der Räuber kommt, geht die Gans ins Wasser." Und in der Nähe des Wassers seien nun mal eben auch die Gehwege. Könne die Gans wieder fliegen, ziehe sie sich wieder auf die Wiesen zurück, und dann interessiere sich niemand mehr für ihre Verdauung. "Das haben wir wissenschaftlich genau untersucht: Während der Mauser liegt der Kot auf den Wegen, in der restlichen Zeit verteilt er sich im Park."

Der Waschbär mag Nilganseier sehr

Woog bezweifelt auch, dass die Nilgans eine invasive Art ist, wie gerne behauptet wird. "Als invasiv gelten Arten, die drohen, andere Arten zu ersetzen", erklärt sie, "und zwar nicht nur auf der Ebene eines Sees, sondern einer ganzen Region oder eines ganzen Landes." Aber das sei bei der Nilgans nicht der Fall. Selbst wenn sie im Schlossgarten sämtliche Stockenten vertreiben würde, was sie nicht tue, sei dies noch lange kein Grund, sie als invasiv zu bezeichnen. "Weil es ja noch genug Stockenten in Deutschland gibt."

Auch bei den Nilgänsen beobachtet Woog im Übrigen eine Abnahme des Nachwuchses. Noch vor wenigen Jahren brüteten sie acht Junge aus. Heute sind es nur noch drei oder vier. Ist die Panik vor der Ausbreitung der Nilgans also übertrieben? "Im Grund genommen ja", sagt Woog. "Graugänse bleiben. Aber Nilgänse sind stark vernetzt, fliegen viel herum und auch mal weit weg." Und weil sie sich gerne in Gruppen versammeln, entstehe der Eindruck, sie seien besonders viele. "Anders als etwa der Neckar ist der Park eine befriedete Zone", erklärt sie. "Hier darf nicht abgeschossen werden. Gänse sind nicht blöd, sie gehen dahin, wo weniger Jagddruck ist."

In gewisser Weise dämme aber wohl auch der Waschbär das Nilgansproblem ein, weil er Eier und Jungvögel ganz besonders möge. Und er kann schwimmen. In der Graureiherkolonie am Stuttgarter Max-Eyth-See jedenfalls sei er vermutlich der Grund, weshalb es dort seit zwei Jahren keinen einzigen Bruterfolg mehr gebe. "Es können dort nur noch Vögel erfolgreich sein, die es verstehen, so zu brüten, dass der Waschbär sie nicht erreicht."

Bleibt noch die Frage, warum es in den Tropen mehr knallbunte Vögel gibt als hierzulande. Das habe einerseits statistische Gründe, so Woog. In Südamerika lebten 36 Prozent aller 10.000 Vogelarten weltweit, darunter auch so artenreiche und bunte Familien wie die Kolibris oder Papageien. Andererseits: Wenn ein Vogel genug zu fressen habe, könne er zwecks Steigerung seiner sexuellen Attraktivität auch in Farben investieren. Denn die Farbgebung im Gefieder erfordere Einlagerungen von Karotinoiden oder Melaninen, die mit der Nahrung aufgenommen werden. Dafür müsse der Vogel aber standorttreu sein und in einem futterreichen Gebiet des tropischen Waldes leben, so Friederike Woog. "Wenn man sich die klassischen Zugvögel anschaut, sind die nicht so wahnsinnig bunt."

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