KONTEXT:Wochenzeitung
KONTEXT:Wochenzeitung

Rassegeflügelzucht

Lasst doch mal das Reichshuhn in Ruhe

Rassegeflügelzucht: Lasst doch mal das Reichshuhn in Ruhe
|

 Fotos: Joachim E. Röttgers 

|

Datum:

Ich wollt', ich wär' kein Huhn: Wo Geflügel nicht auf Schlachtgewicht gemästet wird, muss es den strikt normierten Schönheitsidealen von Rassezüchtern gerecht werden. Das Deutsche Reichshuhn ist eine besonders arme Sau.

Zurück Weiter

Ob Antwerpener Bartzwerg oder Bergischer Schlotterkamm, von der Appenzeller Spitzhaube und dem Österreicher Sulmtaler über den Westfälischen Totleger bis hin zum Isländischen Landnahmehuhn: An schillernden Namen herrscht in der Welt der Geflügelrassen nun wirklich kein Mangel. Doch ist darunter einer, der so seltsam ist, dass er beinahe schon etwas unglaubwürdig klingt: Ja, das Deutsche Reichshuhn gibt es wirklich und ernsthaft, es lebt auch im Jahr 2023 unter dieser Rassebezeichnung fort. Hat die AfD also ihr ideales Maskottchen gefunden?

Einer, der über fünf Jahrzehnte seines Lebens der Reichshuhnzucht gewidmet hat, ist Dieter Helm. Er stellt klar, dass die Nazis mit der Namensvergabe nichts zu tun hatten, im Gegenteil. 2006 vertraute der Thüringer der "Welt" an, dass das Reichshuhn noch aus der Kaiserzeit stamme. In der Kindheit habe er von einem Offizier gelesen, der "ein robustes Huhn in den Reichsfarben Schwarz-Weiß-Rot gezüchtet" hat. Weil der Offizier aber, so schildert es Helm, "von den Nazis als Sozialdemokrat verunglimpft wurde", hätten sie seine Hühner in der NS-Zeit verboten. Auch die DDR wollte seinen Angaben zufolge nichts von Reichshühnern wissen, "aus ideologischen Gründen". Also habe er die Eier zum Ausbrüten über die Grenze schmuggeln lassen.

So schön die Geschichte klingt: Eine vertiefende Recherche fördert keine Erkenntnisse darüber zutage, dass das Deutsche Reichshuhn tatsächlich im antifaschistischen und antikommunistischen Widerstandskampf aktiv war. Beim Offizier, der auf die Idee kam, zur Stärkung der nationalen Identität ein Reichshuhn zu erzüchten, handelt es sich um den Hauptmann Wilhelm Cremat, einen echten Tausendsassa, vielleicht der letzte da Vinci. Sein "Lehrbuch zur Nutzgeflügelzucht" umfasst 731 Seiten, aber er schrieb auch über "Wortschatz und Phraseologie der russischen Sprache" oder militärstrategische Methoden zur Befestigung von Schlössern und Burgen. Seine medizinische Expertise wollte Cremat der Welt nicht vorenthalten. So erschien sein Werk über die weißen Blutkörperchen als "Erreger sämtlicher Krankheiten" im Verlag der Nutzgeflügelzucht, außerdem 1912: "Krebs und Tuberkulose: Die Lösung ihres Problems und die Heilung mit einfachen Mitteln".

Reichshuhn vom Reißbrett

Eine Infobroschüre der Bundesanstalt für Landwirtschaft und Ernährung präzisiert allerdings: "Um 1900 wurde im deutschen Kaiserreich auf Anregung des Hauptmannes Cremat beschlossen, ein deutsches Nationalhuhn zu züchten." Kein Wort davon, dass es Cremat selbst gelungen ist. Insgesamt lässt die Quellenlage zu wünschen übrig. So beschreibt der mehrfach preisgekrönte Autor und Lyriker Wulf Kirsten in einem Buch von 1984, wie die Kleinstadt Kleewunsch schon seit altersher "als eine Hochburg der Rassegeflügel- und Rassekaninchenzucht" gegolten habe. Zudem seien es höchste Erwartungen, die an den jungen Drogeristen Karl Hafermalz gestellt worden sind, wegen dessen "überdurchschnittlicher Züchterbegabung".

Sommer-Softness

"Macht doch mal was Leichtes", hören wir immer wieder in unserer Wochenkonferenz. Was Schönes, Nettes, was zum Schmunzeln! Die Welt, sie sei doch schon übel genug. Also haben wir die Kontext-Sommerserie ins Leben gerufen. Über die großen Ferien schreiben unserer Autor:innen Geschichten, die sie schon immer mal schreiben wollten. Absurdes, Herzerwärmendes oder Nachdenkliches über zarten Blütenstaub, fremde Planeten und seltenes Federvieh. Die einzige Vorgabe der Redaktion: Das Thema muss leicht und fluffig daherkommen, wie Capri-Eis in einer lauen Sommerbrise. Voilà, hier Folge 5.  (red)

Folge 1: Geschlagene Zeilen
Folge 2: Der zarte Duft von Kiefernpollen
Folge 3: Ein Lurch wie ein Land
Folge 4: Flucht auf den Mars

Damit schien der Boden von Kleewunsch wie geschaffen für Cremats Idee: ein Wunderhuhn mit Rieseneiern und rekordverdächtiger Legeleistung, mit kraftvoll-backsteinartigem Rumpf, zugleich elegant und mit zarten Knochen, legepünktlich, nesttreu und zutraulich, mit pünktlicher Brutlust und natürlich: aus urdeutschem Erbgut erzüchtet. Doch waren Cremats Vorstellungen laut Autor Kirsten zu ambitioniert, überforderten sogar das Geflügelzucht-Wunderkind Hafermalz und mussten schließlich als unmöglich erkannt werden: "Mit einem Federstich wurde das ehrgeizigste Projekt deutschgesinnter Geflügelzucht in aller Stille beerdigt, ein für allemal." Spätestens an dieser Stelle muss zu erahnen sein: Kirstens Geschichten aus Kleewunsch sind fiktiv und das Reichshuhn real. Wie es damals wirklich zuging, lässt sich kaum noch rekonstruieren.

Gesichert ist jedenfalls, dass Deutsche Reichshühner 1907 erstmals dokumentiert worden sind – und dass in ihren Adern gar kein deutsches Blut fließt. Die neue Rasse sollte in allen Bereichen des Reiches gleich gut gedeihen und sich dabei als ein "auf Wirtschaftlichkeit selektiertes Zweinutzungshuhn eignen", wie die Bundesanstalt für Landwirtschaft und Ernährung informiert: "Die frühreifen Hennen legen eine hohe Anzahl an großen, rahmgelben Eiern, während die Hähne eine gute Mastfähigkeit besitzen."

Um diese Zuchtziele zu erreichen, war das germanische Genmaterial aber offenbar zu minderwertig. Also ist die Reichshuhn-DNA ein bunter Mix aus asiatischen und Mittelmeerrassen: Laut dem Rassegeflügelzüchterverein Doberlug-Kirchhain entstand das Reichshuhn durch "Einkreuzung rosenkämmiger weißer Orpington, weißer und heller Wyandotten, weißer Dorking, Minorka sowie Sussex in die gesperberten Mechelner und Dominikaner". Und so wie sich die Deutsche Nationalhymne einer Melodie bedient, die für den Kaiser von Österreich komponiert wurde und sich von einem kroatischen Volkslied inspirieren ließ, könnte es sogar sein, dass das Deutsche Reichshuhn gar nicht wirklich in Deutschland entstanden ist.

Wer hat's erfunden?

Zumindest behauptet genau das das Schweizer Bundesamt für Lebensmittelsicherheit und Veterinärwesen in einer Publikation von 2006. Darin heißt es, dass Albert Weiss aus Amriswil  bereits 1905 das Schweizerhuhn aus weißen Orpington und Wyandotten züchtete. "Das Schweizerhuhn legt relativ viele Eier und bringt auch genügend Fleisch. Bis zum Zweiten Weltkrieg, zur Zeit der Selbstversorgung, war es deswegen beliebt. Dies galt auch für Deutschland, wo es zum Deutschen Reichshuhn weiterentwickelt wurde." Der Bund Deutscher Rassegeflügelzüchter (BDRG) ist allerdings kein Fan des Schweizerhuhns und erkennt es nicht als Rasse an.

Wichtiger als die Herkunft ist aber ohnehin das Aussehen. "Das A und O des Deutschen Reichshuhns ist die Form, die im Grunde backsteinförmig sein soll", heißt es beim Sonderverein der Züchter Deutscher Reichshühner und Deutscher Zwerg-Reichshühner (SV). Dieser definiert die goldene Regel, beim wohlproportionierten Rumpf sollen Länge zu Breite zu Tiefe im Verhältnis 5:3:3 stehen. Weil das bei der Zucht zu verfolgende Schönheitsideal glasklar normiert ist, gelten strikte Regeln für die Bewertungskriterien bei Wettbewerben: Die Note V wie Vollendung erhält ein Rumpf für breite Schultern, ein langes Brustbein und die Form eines langgestreckten Rechtecks. "Etwas fehlende Körperlänge" ist hingegen ein Mangel und ein plumper oder zu spindeliger Körper sogar ein "Grober Fehler". In diese Kategorie fallen auch Grobknochigkeit, eine zu steile Schwanzhaltung, ein faltiger oder beuliger Kamm, ein abstehender Kammdorn, ein deutlich zu flacher Kopf oder eine zu lange Schwanzpartie, die zu viel Körperlänge vorgaukelt.

Die Kleintierzucht zu Zwecken der Zierde hat durchaus faschistoide Tendenzen: Wer als Lebewesen zu weit von der Norm abweicht, darf sich nicht fortpflanzen oder wird gleich entsorgt. Ein grob missratenes Reichshuhn darf jedenfalls nicht auf einen Platz bei der Nationalen Rassegeflügelschau in Dortmund hoffen. Mit abstehendem Kammdorn würde es nicht einmal für die Jungtierschau von Steinenbronn reichen.

Grunzen und das Glück des Gegenwärtigseins

Wo das Huhn nicht passend aussieht, da muss es leisten, leisten, leisten, um überleben zu dürfen – bis zum Verlust der Leistungsfähigkeit oder dem Erreichen eines Zielgewichts, auf das die Schlachtung folgt. Um sicherzustellen, dass alles seine Ordnung im Stall hat, initiierte der Wissenschaftliche Geflügelhof des Bunds Deutscher Rassegeflügelzüchter 2019 eine "Legeleistungserfassung der Rasse Deutsches Reichshuhn". Demnach lag das durchschnittliche Bruteigewicht bei 59,54 Gramm, wobei das Bruteimindestgewicht laut Rassestandard bei 55 Gramm liegt. Die jährliche durchschnittliche Legeleistung betrug pro Henne 139 Eier. Das ist schlecht: "Im Rassestandard wird die jährliche Legeleistung mit 180 Eiern angegeben."

Die Vermessung des Huhns formuliert Mindestansprüche, die über Leben und Tod entscheiden.  631 Millionen waren es im Jahr 2022, die in Deutschland geschlachtet wurden, "das sind 1.200 getötete Hühner pro Minute", hat die Albert-Schweizer-Stiftung ermittelt. Darunter 81.200 Legehennen, die pro Tag ausrangiert werden, weil sie nach etwa anderthalb Jahren weniger Eier produzieren und damit nicht mehr profitabel für die Industrie sind.

Dass das Verhältnis zwischen Mensch und Huhn auch anders aussehen kann, zeigt der bretonische Segler Guirec Soudée. Auf einer Weltumsegelung nahm er eine Eierlieferantin mit, die zu einer Freundin wurde. Im 2020 erschienenen Reisebericht "Seefahrt mit Huhn" schreibt er, sehr stolz auf Monique zu sein, "mein kleines Huhn, das goldene Eier legt, meine großartige Mitseglerin". Wie der Ornithologe Philippe Dubois und die Journalistin Élise Rousseau berichten, sind Hühner beim Sandbaden sogar so zufrieden, dass sie ein "sanftes Grunzen, ja beinahe ein Schnurren von sich geben". Damit lehrten sie uns "das Glück des Gegenwärtigseins". Im Grunde eine Tragödie, wenn dieses Gluck verpufft, weil ein Rumpf nicht backsteinförmig genug ist.


Gefällt Ihnen dieser Artikel?
Unterstützen Sie KONTEXT!
KONTEXT unterstützen!

Verbreiten Sie unseren Artikel
Artikel drucken


0 Kommentare verfügbar

Schreiben Sie den ersten Kommentar!

Kommentare anzeigen  

Neuen Kommentar schreiben

KONTEXT per E-Mail

Durch diese Anmeldung erhalten Sie regelmäßig immer Mittwoch morgens unsere neueste Ausgabe unkompliziert per E-Mail.

Letzte Kommentare:






Die KONTEXT:Wochenzeitung lebt vor allem von den kleinen und großen Spenden ihrer Leserinnen und Leser.
Unterstützen Sie KONTEXT jetzt!