Der Unterschied zwischen Spazierengehen und Schreiben übers Spazierengehen ist, dass einen beim Schreiben niemand sieht. Es könnte also sein, dass eine Kolumne mit wütenden Aufrufen zum Krieg gegen die Umweltpolitik von einem Kerl getippt wurde, der mit nichts anderem als einer in Bangladesch gefertigten Unterhose aus dem 1-Euro-Shop auf seinem Schreibtischhocker sitzt. Kein Problem, weil er seine Bude mitten im Winter Tag und Nacht auf 28 Grad erhitzt, auch wenn das Gas dafür mehr kostet, als das Honorar für das Geschreibsel einbringt. "Man kann ja nie wissen", steht auf dem Grabstein von Kurt Schwitters.
Der 1948 verstorbene Künstler und Dadaist hat 1927 zur Stuttgarter Ausstellung "Die Wohnung" einen Aufsatz mit dem Titel "Komplimente für den Weißenhof" geschrieben. Darin widmet er sich auch den "Behörden in Stuttgart und Württemberg", die am Zustandekommen der Schau des Deutschen Werkbundes über das Neue Bauen mit dem heutigen Architekturdenkmal Weißenhof beteiligt waren. Die Amtsträger kamen ihm vor, "als wären sie Hühnerglucken, die falsche Eier ausgebrütet haben, und nun stehen sie am Ufer des Teichs und sehen mit Stolz und mit Grauen, wie die Entenküklein, die sie aber doch für ihre Kinder ansehen, weit hinaus auf die Wasserfläche schwimmen, wo sie ihnen nicht folgen können".
An diese Geschichte will das geschichtsbewusste Stuttgart 2027 mit der Internationalen Bauausstellung (IBA) anknüpfen. Seit 2017 wird an diesem Unternehmen gearbeitet. Die Gier in den konservativen Teilen der Kommunalpolitik nach städtischen Weltereignissen muss allerdings schon vorher gestillt werden. Regelmäßig sind Brunstschreie aus dem Rathaus nach "Leuchttürmen" zu hören. Man muss diesen Begriff nicht wörtlich nehmen. Ein "Leuchtturm" ist für Provinzpolitiker:innen im Rathaus irgendein Ding, das irgendwo in der Stadt hingepflanzt werden muss – in der lustigen Absicht, über alle vermüllten Ozeane vor unserer Haustür hinweg Glanzlichter zu senden. So soll der Rest der Welt animiert werden, berauscht von der Magie der Leuchttürme unterm Fernsehturm in die Weltstadt zwischen Hängen und Würgen am verbuddelten Nesenbach zu eilen.
Wie geht Big City?
Als Leuchtturm wird etwa ein bis dato imaginäres Kunstobjekt gehandelt, für das vom Gemeinderat blanko 1,5 Millionen Euro bewilligt wurden. Diese genialische Idee kam auf, als Ausflügler aus CDU-Beständen 2021 bei ihrem Dörflerblick auf den von Christo verpackten Pariser Triumphbogen ahnten, dass es sich bei dieser Sache um eine "Touristen-Attraktion" handeln müsse. Und man so etwas dringend auch zu Hause im Schwäbischen brauche, ganz egal, wo und wie, auf jeden Fall toute de suite und voll der Leuchtturm. So geht Big City.
Der Begriff "Leuchtturm" wird bei allen Stuttgarter Bautigerräuschen so hartnäckig hinausposaunt, dass wir demnächst vor lauter in die Welt gesendeten Armleuchtersignalen die Sonne nicht mehr sehen. Ganz gleich, ob bei einem bisher nicht definierten Eye-Catcher im Bannkreis des ewigen Bahnhofneubaus oder einem anvisierten Konzerthaus im Vorstadtrevier. Die Stadt soll dank solcher Großmannssucht-Vehikel überrannt werden von Touristen aus aller Welt, noch bevor Stuttgart 21 leuchtet und Verstrahlte aus fünf Kontinenten die Kelchstützen der neuen Eisenbahnhaltestelle bis zum Orgasmus umschlingen. Zu beachten bitte ich: Wenn hierzulande etwas als "weltweit einmalig" gefeiert wird, liegt der Verdacht nahe, dass es der Rest der Welt nicht braucht.
Neu ist diese Entwicklung nicht. In maßgeblichen Kessel-Köpfen hausen seit je Gigantomanie-Süchte, in Fachkreisen auch als Komplexe bekannt. Nur der Minderwertigkeitskomplex war in dieser Stadt noch nie vom Abriss bedroht. Denn das Bedürfnis, an den Wolken zu kratzen und in den Himmel des Weltruhms einzudringen, ist monströs verbreitet. Dass dies auch mit Macho-Gelüsten nach Viagra-Architektur zu tun hat, liegt nahe. Mann wächst mit jedem Leuchtturm.
Eines der ganz großen Projekte in diesem Genre der Selbsterhöhung war ja schon zu Beginn des neuen Jahrtausends ein sogenannter Trump-Tower aus dem Reich des späteren US-Präsidenten. Der damalige Rathaus-Vorsteher Wolfgang Schuster (CDU) war ganz scharf auf dieses hässliche Erektionsgebilde. Nur mit viel Glück wurde der windige Immobiliendeal, bei dem im Stile Trumps ein politisch rechtslastiger Manager mitmischte, verhindert. Und die letzten Gelassenen in den Grüften der Stadt sangen mit Rio Reiser: "Halleluja, der Turm stürzt ein."
Bis vor Kurzem dominierte im Stuttgarter Lighthouse-Fieber übrigens ein anderer Strategie- und Markenbegriff: Allenthalben war im Gemeinderat, der sich im Bemühen um Großstadt-Sound gern "der Rat" nennt, von "Landmarks" die Rede. Dieses englische Wort für Sehenswürdigkeit machte regelmäßig die Runde, wenn die Aushebung eines neuen Baulochs anstand. Dass Landmark durch Leuchtturm ersetzt wurde, könnte mit Baden-Württembergs Welt erobernder Werbekampagne "The Länd" zu tun haben. Womöglich wäre einiges durcheinandergeraten beim Imitsch-Bränding.
Die Bombe tickt
Ich muss noch klarstellen, dass ich nicht nur mit einer in Bangladesch gefertigten Unterhose aus dem 1-Euro-Shop auf meinem Bürostuhl sitze. Beim Gedanken an all die geplanten Leuchttürme um mich herum hätte ich jedoch kaum noch Bedenken, diese Garderobe nicht erst nach dem Spaziergang, sondern schon vorher anzulegen. Nur noch in der Alles-Wurscht-Haltung der finalen Selbstaufgabe ist es auszuhalten, was in den Köpfen politisch führender Leuchten herumschwirrt. Der oberste Stuttgarter Rathäusler beispielsweise hat sich neulich mit Narrenkappe an der Spitze des Landeimarken-Rankings mit diesem Satz positioniert: "Ein Leben ohne den Stuttgarter Karneval ist möglich, aber sinnlos."
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