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Ausstellung "Stuttgart–Afghanistan"

Eine verstrickte Beziehung

Ausstellung "Stuttgart–Afghanistan": Eine verstrickte Beziehung
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 Fotos: Jens Volle 

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Datum:

Der westliche Blick auf Afghanistan ist geprägt von Krieg, Flucht und Abschiebe-Diskursen. Aber wie verbunden sind Deutschland und Stuttgart mit der Geschichte und Gegenwart des Landes? Das Lindenmuseum zeigt eine neue Perspektive.

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Dunkelblau leuchtet der fingernagelgroße Skarabäus aus Lapislazuli in der Vitrine. Seit Jahrhunderten ist er als Schmuck begehrt, schon die Totenmaske von Tutanchamun wurde mit dem Stein verziert, in den Siebzigern trugen Hippies Halsketten und Armreife mit eingelassenem Lapislazuli, nicht selten gekauft auf spirituellen Busreisen durch Südwestasien. Annette Krämer, Leiterin der "Orient"-Abteilung im Lindenmuseum, steht vor dem kleinen Käfer und begutachtet ihn. "Bis vor wenigen Jahrhunderten kam fast der gesamte weltweite Lapislazuli aus Badakhshan", der nordöstlichen Region in Afghanistan, erzählt die promovierte Islamwissenschaftlerin. Wissen würden das aber nur wenige. Darum sei der Schmuck-Krabbler auch ein so gutes Beispiel, wie verbunden viele unbewusst mit Afghanistan sind.

Diese Verbindungen gehen weit zurück. 1914 wurde eine deutsche Delegation nach Kabul gesendet, um dort zum "Dschihad" gegen das britische Protektorat aufzurufen. 1916 kam es zum Freundschafts- und Handelsvertrag zwischen Deutschland und Afghanistan, auch mit dem Ziel, England während des ersten Weltkriegs in der Region zu schwächen. In den zwanziger Jahren zogen dann viele Menschen aus Deutschland wegen hoher Arbeitslosigkeit nach Afghanistan, um dort zu arbeiten. Auch aus Stuttgart. 1923 gründete sich die Deutsch-Orientalische Handelsgesellschaft, im gleichen Zeitraum halfen viele deutsche Ingenieure beim Bau von Wasserstraßen und Staudämmen.

Solche Verbindungen sichtbar machen und Komplexitäten aufzeigen, darum geht es in der neuen Ausstellung mit dem Untertitel "Stuttgart–Afghanistan: verbinden – erzählen – begegnen". Seit dem 27. Januar können Besucher:innen zahlreiche Exponate anschauen, die auf rund 1.000 Quadratmetern zu sehen sind. Alltagsgegenstände, Schmuck, Kleidung, Teppiche, Fotos, all das erzählt eine Geschichte über die Verknüpfung des Landes mit der Welt.

Annette Krämer führt durch die vielen Räume und Bereiche, knapp drei Stunden lang. Was das Lindemuseum da zeigt, ist keine Ausstellung für nur einen Blick, für nur einen Besuch. Vielmehr sollen die Besucher:innen ermutigt werden, sich Afghanistan und seiner Geschichte, die manchmal wie ein gordischer Knoten erscheint, Stück für Stück zu nähern. Darum hat das Museum auch ein solidarisches Preismodell festgelegt, schon ab einem Euro können Besucher:innen die Ausstellung anschauen.

"Diese Kulturgüter sind zu Unrecht hier"

Vor allem die direkte Verbindung des Lindenmuseums zu Afghanistan steht im Vordergrund. Der ehemalige Direktor Friedrich Kussmaul wollte das Museum in die Top-Riege der Völkerkunde heben und seine eigene Feldforschung ausstellen. Darum reiste 1962/63 eine Gruppe von Forschern aus Stuttgart in die Region Badakhshan, die Heimat des Lapislazuli. Von dort sollte die Gruppe unzählige Kulturgegenstände mit nach Stuttgart bringen. Sie bilden den Großteil der "Orient"-Sammlung des Lindenmuseums. "Aus heutiger Sicht muss man schon kritisch sagen, dass das auch eine Art 'Expedition' von ein paar abenteuerlustigen Männern war", merkt Krämer an. Bei vielen Exponaten ist bis heute unklar, wie die Forschungsgruppe in deren Besitz kam. Auch wenn die Forschungsreise damals von den Afghanen genehmigt war, damit die Forscher auch für das Kabuler Museum Exponate sammeln konnten.

Noch problematischer sei der Umgang mit Stücken, die während der Direktion von Kussmaul in den 1980ern gekauft wurden. 1970 verabschiedete die Unesco-Generalkonferenz ein Verbot zum illegalen Verkauf von Kulturgütern. Doch während der sowjetischen Invasion und dem darauffolgenden Krieg wurde viel Kunst in Afghanistan veräußert, häufig zur Finanzierung von Waffen "oder auch um schlichtweg zu überleben", erklärt Krämer. Damals kaufte das Lindenmuseum unter Kussmaul Kulturgüter im Wert von drei Millionen Mark – trotz Unesco-Verbot. Denn Deutschland ratifizierte das Abkommen erst 2007. "Wir haben viel Kunst, die eigentlich nicht hierhergehört."

Auch 15.000 Fotos machte die Badakhshan-Gruppe auf ihrer Reise. "Uns war es ein Anliegen zu versuchen, Kontakt mit denjenigen aufzunehmen, die damals fotografiert wurden. Wir wollten ihnen ein Gesicht und einen Namen geben. Gerade bei den wenigen Frauen, die zu sehen sind, stelle ich mir die Frage, ob sie wirklich fotografiert werden wollten?" Über eine afghanische Fotografin haben die Ausstellungsmacher:innen vereinzelt Kontakt zu den damals Fotografierten aufnehmen können. Sie steuerte auch eigene, neue Bilder bei, um so den Fokus umzudrehen: Statt als Objekt vor der Linse gibt die Ausstellung nun auch Fotografinnen Raum. 

Entangled: Alles ist verbunden

Für Krämer sind diese Fragen wichtig, denn bis heute fallen individuelle Perspektiven gerade in kultur-ethnologischen Museen unter den Tisch. Stattdessen werden Menschen in Länder und Kulturen kategorisiert und letztlich unsichtbar gemacht. Im Lindenmuseum haben sie sich für einen anderen Weg entschieden, um die Geschichten zu Afghanistan und Stuttgart zu erzählen. Annette Krämer bleibt vor einer Marmortafel stehen.

"Diese Tafel stammt aus Ghazni", sagt sie, "dort war sie Teil einer Wandverkleidung einer Weihstätte für einen Heiligen. Viele Menschen in Afghanistan, aber auch Touristen, suchten diese Stätte auf, um für Gesundheit zu beten." Nahezu für jede Krankheit gebe es einen eigenen Schrein. Im Fall dieser Tafel beteten die Menschen, um ihr Stottern heilen zu lassen. Neben dem Beschreibungstext gibt es einen Audio-Kommentar zum Anhören. "Den hat Jamil verfasst, ein junger Mann", erklärt Krämer. Auch er sei schon mal bei der Stätte in Ghazni gewesen, mit seinen Eltern. "Geholfen hat am Ende aber nur der Logopäde", erzählt Jamil in seinem Text. Kommentare und persönliche Anekdoten wie diesen finden sich bei vielen der über 350 Ausstellungsstücke.

Jamil gehört zur Gruppe "Entangled: Stuttgart Afghanistan", Menschen aus der Stuttgarter Zivilgesellschaft, die Verbindungen zu Afghanistan haben und für die Ausstellung ihre Geschichte erzählen wollten. Seit 2019 erarbeitete das Museum gemeinsam mit der Gruppe die Konzeption und Gestaltung. Urlaubsfotos, Filme, Bücher, Hab und Gut aus der Heimat: Viele der Exponate wurden von Gruppen-Mitgliedern zur Verfügung gestellt. Letztendlich wurde der Name der Gruppe zum Motto: "Entangled" – "verstrickt" oder "verwoben".

Verwoben mit Afghanistan und Stuttgart ist auch Hosa Mangal. Sie begleitet Annette Krämer bei der Führung. Die 31-Jährige ist Deutsch-Afghanin und Teil von "Etangled". 2019 kam sie durch ihre Eltern in Kontakt mit der Gruppe. Damals arbeitete Mangal noch in einem Industriebetrieb für Gabelstapler. Schon länger wollte sie kreativ arbeiten, aus ihrem Industrie-Job ausbrechen, "da war Entangled so ein richtiger Augenöffner". Durch das Projekt habe sie endlich mehr von sich und ihrer Geschichte preisgeben können, denn sie komme aus einer kreativen Familie, berichtet die junge Frau. In den Neunziger Jahren flohen ihre Eltern aus Afghanistan nach Stuttgart. Ihr Vater befasste sich an der Kunstschule mit dem bekannten afghanischen Malers Abdul Ghafur Breshna, dessen Bilder auch in der Ausstellung hängen.

Neben dem Ghazni-Marmor hängt ein kleines Bild. Zu sehen ist eine historische Schlacht in Afghanistan. Soldaten reiten auf Pferden, jemand zieht eine Kanone, im Hintergrund sieht man eine Frau, die eine grüne Flagge schwenkt. In Afghanistan kenne jede:r diese Szene. "Die Frau hat damals Lieder für die Krieger gesungen und sie irgendwann selbst in den Sieg geführt", erklärt Mangal. Gemalt hat die Szene ihr Vater Nasser Mangal, Hosa hat sein Bild der Ausstellung geliehen. "Bei der Eröffnung habe ich das Bild präsentiert, aber mein Vater hat nicht alles verstanden. Neulich war ich mit ihm noch mal hier im Museum, das war ein bewegender Moment", erzählt die junge Frau. "Mir bedeutet es extrem viel, dass ich hier etwas von meinem Papa zeigen kann, denn sonst hätte das Bild wahrscheinlich nie jemand gesehen."

Kriegsteppiche und Fluchthandys

Hosa führt in einen anderen Bereich der Ausstellung. Über eine Projektion sind Fotos von afghanischen Frauen zu sehen, viele von ihnen in traditionellen afghanischen Kleidern. Unter den Bildern steht #donottouchmyclothes, Titel der Installation und Protestparole zugleich. Nach der Machtübernahme der Taliban 2021 und dem fluchtartigen Abzug der westlichen Kräfte protestierten weltweit afghanische Frauen gegen die neue Kleiderordnung für Studentinnen in Afghanistan. Hosa Mangal hat diese Bilder kuratiert und einen Begleittext geschrieben. In einem Schaufenster daneben hängen einzelne, traditionell bunte Gewänder.

Eines der Gewänder gehört Hosas Familie. "Das ist bereits über 100 Jahre alt und hat sogar mal einen Schönheitswettbewerb gewonnen", berichtet Mangal. Es ist einer der Punkte, wo die Ausstellung auf einmal sehr gegenwartsbezogen wird. Auf der einen Seite das historische Kleid, das Frohsinn und Vielfalt darstellt, auf der anderen Seite die neue Realität der Unterdrückung für Frauen in Afghanistan. Für Hosa liege genau darin die Stärke der Ausstellung, denn sie werfe neue Perspektiven auf und "gleichzeitig lerne ich mehr über meine eigenen Wurzeln". Und selbst wenn die nicht in Afghanistan liegen, so zeigt die Ausstellung, wie eng das eigene Leben – gerade hier in Stuttgart – mit dem Land des Lapislazuli verbunden ist.

Auch wenn die zahlreichen Kriege in Afghanistan nicht direkt im Fokus stehen, so sind sie doch immer spürbar. Sei es die Erkenntnis, dass das Museum in Kabul selbst keine Exponate zum eigenen Land mehr zeigen kann, weil es schlichtweg zerstört wurde. Oder die Tatsache, dass Krämer gar nicht weiß, ob viele der Menschen, die fotografiert wurden oder deren Sachen heute im Museum sind, "noch im Land sind". Oder der Verdacht, dass viele Kunstgüter, die im Lindenmuseum stehen, möglicherweise illegal verkauft wurden, um damit vielleicht Waffen zu finanzieren.

Besonders deutlich wird die enge Verknüpfung bei einer Reihe von ausgestellten "Kriegsteppichen". Zu Sowjet-Zeiten hatten Widerstandskämpfer:innen solche Teppiche ausgelegt. Weil viele von ihnen nach Pakistan fliehen mussten, wurden sie dort in Geflüchtetenlagern produziert und so zum Verkaufsschlager. Als Motive hatten sie statt Blumen und Mustern Panzer und Kalashnikovs. Der Künstler Til Asgar Baumhauer hat solche Teppiche nach traditioneller Buchara-Art nachgeknüpft. Die Botschaft: "Der Krieg hat sich im wahrsten Sinne in das Kulturgut Teppich eingebrannt", deutet Krämer.

Immer wieder gibt es solche Blitzlichter, die durch die Geschichte leuchten und aktuelle Realitäten in den Fokus rücken. Annette Krämer zeigt auf eine kleine verzierte Tasche, ein beliebtes Accessoire in Afghanistan. Vor dem Beutel liegen zwei Handys. Sie gehören einem Mitglied der "Entangled"-Gruppe, das erst vor Kurzem vor den Taliban nach Deutschland geflohen ist. Warum zwei? "Das eine gehörte seiner Mutter. Weil der Akku seines eigenen Smartphones immer wieder schlapp machte, gab ihm seine Mutter ihres mit, damit er sich bei ihr melden kann." Es sind diese Momente, wo die Themen Krieg, Verfolgung, Flucht mit der Geschichte verknüpft werden. "Es ist komisch zu wissen, dass die Leute, die hier ausgestellt sind oder denen manche Sachen gehören, vielleicht noch im Land sind", sagt Krämer. Doch genau darum ist die Ausstellung so gelungen: Sie zeigt Afghanistan in allen Farben und Facetten und versucht dabei vor allem die Menschen in den Vordergrund zu stellen. Denn Deutschland, Stuttgart und Afghanistan, das ist eine verwobene Geschichte.


Die Sonderausstellung "Stuttgart–Afghanistan" im Lindenmuseum Stuttgart läuft noch bis 28. Juli 2024, geöffnet dienstags bis sonntags von 10 bis 17 Uhr, mittwochs bis 20 Uhr. Mit Mediaguide auf Deutsch, Englisch, Dari und Paschto und einem kostenfreien Begleitheft "Ein Himmel voller Drachen" für Kinder.

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1 Kommentar verfügbar

  • Philipp Horn
    am 12.03.2024
    Antworten
    Sehr lohnend .Mann sollte aber Zeit mitbringen.
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