Der deutsch-jüdische Journalist und Politikwissenschaftler Konrad Heiden, 1901 in München geboren, hat es geschrieben, nachdem er 1933 ins Exil ging; seine Flucht führte ihn über die Schweiz, Frankreich, Portugal in die USA. 1966 starb er in New York. Diese einzigartige, einst wegweisende Biografie Hitlers wurde jetzt im Europa Verlag neu herausgegeben.
Es ist der 30. Januar, als ich das Werk in der Ostend-Buchhandlung abhole. Tausend Seiten. Und so gehe ich am 91. Jahrestag der Machtübernahme mit dem noch lebenden Hitler im Beutel in das untergehende Tageslicht hinein. Die Landhausstraße ist eine Panoramaroute in einer früheren Villengegend; zwischen Hecken und Bäumen kann man auf die Lichter unserer Kleinstadt sehen. Da unten hat sich zwei Wochen nach seinem Machtantritt auch mal Hitler aufgeblasen, bis ihm bei seiner Rede junge Kommunisten das Rundfunkkabel durchhackten.
Trotz der unwirtlichen Temperatur im Osten habe ich mich vor dem Rückmarsch in der zivilen Dämmerung auf eine elektrisch gut ausgeleuchtete Bank gesetzt und in Heidens Vorwort geblättert. "Wenn man einen Abgrund zuschütten will", schreibt er, "muss man seine Tiefe kennen." Erst als ich das Buch wieder einpacke, sehe ich, dass mein Beutel mit der Aufschrift "Nürnberg" bedruckt ist. Ich habe ihn vor ein paar Jahren nach der Besichtigung des Reichsparteitagsgeländes gekauft, später in meinen Turnbeutelsammelsack gesteckt und vergessen.
Mit Pessimismus gegen den Faschismus
Das Reizvolle an einem Spaziergang vor Sonnenuntergang ist, dass du bei Licht losgehst und in der Dunkelheit zurückkehrst. Du erlebst zwei völlig unterschiedliche Strecken. Manchmal gehst du im Sommer hinaus und im Winter heim.
Die Sache mit dem Hitler in meinem Nürnberger Gedächtnistrichter am Abend des 30. Januar kam mir etwas unheimlich vor. Dämmert es gerade auch den lange unsichtbaren Bürgerlichen? Haben sie in die Tiefe geschaut und den Abgrund gesehen? Die Massenproteste gegen die Faschisten dieser Tage machen Hoffnung, es könnte ein Morgen geben. Vermutlich aber leide ich nur an einer esoterischen Umnachtung.
Es war Zufall, dass ich am Abend vor dem Jahrestag der Machtübernahme den obskuren Endzeitfilm "Leave the World Behind" mit Julia Roberts, Ethan Hawke und Mahershala Ali in den Hauptrollen gesehen habe. In dieser unspektakulär-spannenden Geschichte fällt zuerst das Internet aus. Nach und nach werden die Symptome des Untergangs deutlich. Cyberangriff. Die US-Gesellschaft ist in sich kaputt, und ein paar Menschen aus New York, die es aufs Land verschlagen hat, müssen lernen, trotz ihres Misstrauens miteinander klarzukommen. Am Ende sagte ich mir: Angesichts der politischen Verdunklung um uns herum wäre ein Weltuntergang die Lösung. Bevor es noch schlimmer kommt.
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