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Forensic-Architecture-Ausstellung "Three Doors"

Nachgebaute Tatorte

Forensic-Architecture-Ausstellung "Three Doors": Nachgebaute Tatorte
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 Fotos: Jens Volle 

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Am Internationalen Tag gegen Polizeigewalt wurde im Württembergischen Kunstverein eine Ausstellung über den rassistischen Anschlag von Hanau und den Mord an Oury Jalloh eröffnet. Sie basiert auf den Recherchen der Gruppe Forensic Architecture.

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Ihr Sohn Sedat Gürbüz war eines der neun Opfer des rassistisch motivierten Attentats vom 19. Februar 2020 in Hanau. "Normalerweise bringen doch die Kinder ihre Eltern unter die Erde, nicht umgekehrt," sagt Emiş Gürbüz. "Wir haben das Schlimmste durchgemacht, was man erleben kann." Vier Jahre später ist sie den Tränen nahe, wenn sie darüber spricht, aber auch voller Wut auf die Staatsorgane.

Der Württembergische Kunstverein (WKV) hatte schon vor einem Jahr, zum dritten Jahrestag der Morde, im Glastrakt "Querungen" mit der Migrantifa Stuttgart eine kleine Ausstellung zu Hanau gemacht. Die jetzige unter dem Titel "Three Doors" präsentiert die Ergebnisse der Untersuchungen der Gruppe Forensic Architecture und ihres Berliner Ablegers Forensis, die im Auftrag der Angehörigen den Fall unter die Lupe genommen haben. Dazu kommen deren Ergebnisse zum Fall Oury Jalloh, der 2005 im Polizeigewahrsam in Dessau mutmaßlich zusammengeschlagen und verbrannt wurde.

Rauchspuren an der Zellwand belegen Falschaussagen

Obwohl kein Täter verurteilt wurde, ist die Beweislage erdrückend. Schon der Richter im ersten Prozess entschied zwar auf Freispruch, sprach aber offen von Falschaussagen der Polizeibeamten im Fall Oury Jalloh. 2017 entzog die Justizministerin des Landes Sachsen-Anhalt der Staatsanwaltschaft Dessau-Roßlau den Fall und übergab ihn an die Generalstaatsanwaltschaft Naumburg – die ihn prompt einstellte. Forensic Architecture fügt bestehenden Gutachten eine Visualisierung des Brandes hinzu, die klar belegt, dass die Polizisten gelogen haben.

Der an Händen und Füßen gefesselte Jalloh habe sich in der Zelle, auf einer feuerfesten Matratze liegend, mit einem heimlich eingeschmuggelten Feuerzeug selbst angezündet, behaupteten die Beamten. Frühere Gutachter waren bereits zu dem Ergebnis gelangt, dass das Ausmaß des Feuers ohne Brandbeschleuniger gar nicht möglich gewesen wäre. Ein dem Gericht später präsentiertes Feuerzeug wies keinerlei Spuren des Opfers auf.

Forensic Architecture hat nun ein originalgroßes Modell der Zelle gebaut und anhand der Aufzeichnungen der Überwachungskamera die Brandspuren an den Wänden der Zelle und des angrenzenden Korridors nachgezeichnet. Es ist klar erkennbar, dass sich der Rauch ungehindert von der Zelle auf den Gang ausbreitete und nicht etwa durch die Ritzen einer geschlossenen Tür. Die Beamten hatten aber ausgesagt, sie hätten das Feuer erst später bemerkt, die Tür sei verschlossen gewesen.

Gegen-Ermittlungen widerlegen Staatsanwaltschaft

Dies entspricht der Arbeitsweise der interdisziplinären Gruppe Forensic Architecture, die der israelische Architekt Eyal Weizman 2010 am Goldsmith College der Universität London ins Leben gerufen hat. Wie schon in ihrem bekanntesten Fall, dem NSU-Mord an Halit Yozgat, 2017 vorgestellt auf der Documenta 14 in Kassel und nun auch im WKV, arbeitet die Gruppe mit physischen und digitalen Architekturmodellen, um räumliche Verhältnisse, Entfernungen, Wege, Sichtachsen am Tatort festzustellen und gleicht diese mit physikalischen Untersuchungen und Aufzeichnungen von Überwachungskameras ab.

"Three Doors" heißt die Ausstellung: Im Fall Oury Jalloh stand eine Tür offen, die angeblich geschlossen war. In der Hanauer Arena Bar war am 19. Februar 2020 eine Tür abgeschlossen: Zwei Menschen kamen ums Leben, weil sie nicht durch den Notausgang fliehen konnten. Dazu hat es ein Strafverfahren gegeben, das die Hanauer Staatsanwaltschaft vor drei Jahren eingestellt hat. Es könne nicht mit hinreichender Sicherheit davon ausgegangen werden, so die Begründung, dass Hamza Kurtović und Said Nesar Hashemi "durch einen unverschlossenen Notausgang die Flucht geglückt wäre".

Hier setzen die Recherchen von Forensic Architecture an. Der Täter hatte, als er die Arena Bar betrat, bereits sieben Menschen erschossen, zuletzt drei in einem der Bar vorgelagerten Kiosk. Die Gäste der Bar waren sich also der Gefahr bewusst, rannten jedoch nicht zum Notausgang, wie die Aufzeichnungen der Überwachungskameras zeigen. Denn sie wussten, der war geschlossen. Auf Anordnung der Polizei, die dort häufig Razzien durchführte und verhindern wollte, dass jemand durch die Hintertür verschwindet.

In der Ausstellung sind zwei riesige Diagramme zu sehen, von denen eines den Tag des Anschlags minutengenau  von 19 Uhr bis 4 Uhr nachts rekonstruiert. In der Stunde, in der innerhalb von sechs Minuten um die 50 Schüsse fielen und neun Menschen ums Leben kamen, gar sekundengenau.

Das Ergebnis der Untersuchung von Forensic Architecture widerspricht diametral der Aussage der Staatsanwaltschaft: Wären die Gäste der Bar zur offenen Tür gerannt, hätten sie sich mit hoher Wahrscheinlichkeit in Sicherheit bringen können. Robert Trafford, der mit Dimitra Andritsou in der Berliner Gruppe die Untersuchungen geleitet hat, nennt dies "Counter-Forensic": Gegen-Ermittlungen, die Forensis im Auftrag oder aus eigener Initiative dann einleiten, wenn der staatliche Ermittlungsapparat versagt.

Schlamperei oder Komplizenschaft?

Die dritte Tür befindet sich im Haus des Hanauer Täters und seiner Eltern. Nach den neun Morden kehrte er dorthin zurück, erschoss seine Mutter und dann sich selbst, während der Vater nach eigenen Angaben seelenruhig im Bett lag und nichts gehört hat. Auch die Polizei, die das Haus umstellte, will nichts gehört haben. Hier wird es kompliziert. Die Angaben zum Zeitpunkt, an dem der Täter seine Mutter und sich selbst tötete, sind widersprüchlich. Die dritte Tür war längere Zeit nicht gesichert, der Täter hätte fliehen können.

Eine Zeugin hat den Vater, der angeblich schlief, in jender Nacht mehrmals an dessen Computer sitzend gesehen. Er vertrat rechtsextreme Ansichten wie der Sohn, den er stark dominiert haben soll. Ein Sondereinsatzkommando (SEK) traf ungefähr um Mitternacht, als die Mutter dem Obduktionsbericht zufolge noch lebte, an dem Wohnhaus ein, stürmte es aber erst drei Stunden später. Forensic Architecture hat Hubschrauberaufnahmen ausgewertet. Die Besatzung war offenbar nicht informiert, was los war. "Das mit dem Funk funktioniert überhaupt nicht", hört man einen auf der Aufnahme sagen. "Das Ding ist eine komplette Katastrophe", antwortet ein zweiter. "Ja, totaler Müll", gibt der erste oder ein dritter zurück.

Ein Notausgang ist auf Anordnung der Polizei verschlossen. Kameras zeigen die falsche Zeit. Die Hubschrauberbesatzung fliegt los, weiß aber von nichts. Das Haus, in dem sich der Täter befindet, ist nicht hinreichend gesichert. Die Rolle des Vaters bleibt ungeklärt. Erst nachdem sich der Täter umgebracht hat, wird das Sondereinsatzkommando aktiv. Ein Jahr später stellt sich heraus, dass 13 der 19 beteiligten Beamten an rechtsextremen Chatgruppen teilnahmen.

Ermittlung eingestellt, Beweismittel nicht zugelassen

"Ich habe keine Ruhe", sagt Niculescu Pӑun, dessen Sohn Vili-Viorel Pӑun den Täter aufzuhalten versuchte, nachdem dieser sechsmal auf sein Auto geschossen hatte. Vili-Viorel Pӑun rief dreimal unter der Notrufnummer 110 die Polizei an: vergeblich. Niemand hob ab. Wozu gibt es Notrufnummern, wenn niemand abhebt, fragen die Angehörigen der Opfer. Wofür ist ein Notausgang da, wenn er verschlossen ist?

Auch in ihrer Familie haben sich viele die Frage gestellt, ob es sie als nächstes treffen könnte, sagt Aida Begović von der Koordinierungsstelle Erinnerungskultur im Kulturamt der Stadt Stuttgart. Sie hat sich dafür eingesetzt, die Ausstellung, die schon in Frankfurt, Berlin und Hanau zu sehen war, nach Stuttgart zu holen. Relativ kurzfristig, doch der Gemeinderat hat das Vorhaben in seinen Haushaltsbeschlüssen mit großer Mehrheit befürwortet.

Das zweite wandgroße Diagramm in der Ausstellung zeigt die vierjährige Chronologie der Aufarbeitung: getrieben von den Angehörigen und der Initiative 19. Februar Hanau. Besonders eingekreist sind die Punkte, an denen Ermittlungen eingestellt oder Beweismittel, auch von Forensic Architecture, nicht zugelassen wurden. Beim Untersuchungsleiter Trafford hat dies den Eindruck hinterlassen, der Untersuchungsausschuss des hessischen Landtags zum rassistischen Anschlag in Hanau sei nicht dazu da, Licht in die Angelegenheit zu bringen. Stattdessen würden sich die Landtagsparteien untereinander abstimmen und jeden Verdacht von den Ermittlungsbehörden ablenken.

Erinnerungskultur

Seit 2021 gibt es die Koordinierungsstelle Erinnerungskultur im Kulturamt der Stadt Stuttgart. Obwohl der NS-Terror und die lange ausgeblendete Kolonialgeschichte im Zentrum der Arbeit stehen, beschäftigt sie sich auch mit Tätern und Opfern aus jüngerer Zeit. Erinnerungskultur heute, bedeutet Menschen, die selbst Ziel rechter Gewalt werden könnten, Handlungsmöglichkeiten aufzuzeigen. Die Angehörigen der Opfer von Hanau haben ihre Anliegen in die eigenen Hände genommen und damit wesentlich zum aktuellen Stand der Auseinandersetzung mit rechter Gewalt beigetragen. Ihre erste Forderung lautet: Erinnerung. Dann folgen drei weitere: Gerechtigkeit, Aufklärung und Konsequenzen.  (dh)

Für Forensic Architecture ist der verschlossene Notausgang der Arena Bar "ein Sinnbild für die exzessive Polizeikontrolle, der rassifizierte Communities in Deutschland systemisch ausgesetzt sind". Die "erdrückenden Beweise einer ganzen Versagenskette der Polizei", die ihre Recherchen zutage gebracht hätten, seien auch Belege dafür, "dass diese bei der Verfolgung rassistischer Täter*innen oft selbst Mittäter ist".

Die Ausstellung will aber auch "die anhaltenden Kämpfe für Aufklärung und Konsequenzen" sichtbar machen. Aus Sicht des Kunstvereins soll sie "ein offener Lernort" sein, "der sich gegen rassistische und rechtsextreme Kräfte in Deutschland richtet und für die Solidarität mit den Betroffenen einsetzt".


Die Ausstellung "Three Doors" läuft bis 1. September 2024 im Württembergischen Kunstverein in Stuttgart, Eintritt auf freiwilliger Basis. Informationen zu Terminen im Rahmen der Ausstellung hier.

Das Theaterhaus Stuttgart zeigt das Stück "And Now Hanau", Termine hier.

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