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Hanau-Gedenken

Und täglich grüßt der Einzelfall

Hanau-Gedenken: Und täglich grüßt der Einzelfall
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 Fotos: Jens Volle 

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Drei Jahre nach dem Terror in Hanau läuft die Aufklärung schleppend, während Teile des Sicherheitsapparats selbst in rechte Netzwerke verstrickt sind. In Stuttgart gab es vier getrennte Gedenkveranstaltungen, weil Linke nicht mit Linken können.

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Ausweise raus! Wer auf den Karlsplatz will, wird kontrolliert: Mit einem Großaufgebot ist die Polizei im Einsatz und durchsucht Menschen, die eine Gedenkveranstaltung zum rassistischen Terror von Hanau besuchen wollen. Ein junger Stuttgarter mit Bart, braunen Augen und dunkler Haut, der das Prozedere gerade durchmachen musste, wirkt entnervt und müde. Für ihn sei das eine Art Routine, erklärt er: Das passiere ihm mehrmals pro Woche, wenn er in Stuttgart unterwegs ist. Den Bahnhof in Bad-Cannstatt meidet er inzwischen ganz, weil er da bei jedem zweiten Besuch herausgezogen werde. Etwas Verbotenes hätten sie bei den vielen Kontrollen noch nie gefunden, sagt der Mann Anfang 20. Aber mit seinem Erscheinungsbild stelle er offenbar das dar, was in Polizeikreisen als verdächtig gilt. Die Schikane mache mürbe – und sei nebenbei auch extrem zeitraubend: Einmal, berichtet er, wollte er einen Tagesurlaub mit Freunden machen. Da haben sie sein Auto angehalten und auseinandergebaut – im Rahmen einer "routinemäßigen" Verkehrskontrolle. Nach gut zwei Stunden Wartezeit konnten sie den Ausflug abblasen.

Kontrollen ohne Kontrolle

Anfang 2020 hat Baden-Württemberg binnen weniger Jahre zum zweiten Mal sein Polizeigesetz überarbeitet, vor allem um es zu verschärfen. Der zwischenzeitlich verstorbene Grünen-Politiker Hans-Ulrich Sckerl, damals innenpolitischer Sprecher der Landtagsfraktion, hatte im Interview mit Kontext ausgeführt, dass seine Partei anlasslosen Personenkontrollen einen Riegel vorschieben wolle. Der Plan: "Die Polizei muss gerichtsfest Gründe vorlegen können, warum sie jemanden verdächtigt hat." Damit solle "jeder Ansatz für Racial Profiling" ausgeschlossen werden. Doch das Vorhaben wurde bei der Kompromissfindung mit dem konservativen Koalitionspartner begraben. Zwar hatte Daniel Lede Abal, migrationspolitischer Sprecher der Grünen, nach Verabschiedung des Gesetzes noch behauptet: "Nur wenn sich im Einzelfall konkrete Tatsachen ergeben, dass eine Großveranstaltung gefährdet sein könnte, dürfen die Kontrollen durchgeführt werden. Die Regelung betrifft somit nicht alle Veranstaltungen – Demonstrationen und Versammlungen sind explizit ausgenommen." In der Praxis aber werden Personen durchsucht, die am Jahrestag eines rechtsextremen Terroranschlags auf strukturellen Rassismus hinweisen wollen.  (min)

Bei der Demonstration in der Stuttgarter Innenstadt befürchtete die Polizei, dass das migrantisch geprägte Klientel gefährliche Gegenstände anschleppen könnte. Daher prüften die Beamt:innen mit Maßband, ob zum Beispiel Fahnenstangen einen gewissen Durchmesser nicht überschreiten, da sie sich ja möglicherweise als Schlagstock instrumentalisieren ließen. Das Verhältnis zwischen der Staatsmacht im Einsatz und den Versammlungsteilnehmer:innen kann getrost als belastetet umschrieben werden. Kaum ist der Demozug mit etwa 400 Menschen losgezogen, muss er auch schon wieder anhalten. Zwei Leute hatten Sonnenbrillen aufgezogen und die Polizei geht gegen Vermummung vor. Als sich zum Höhepunkt der Pandemie Tausende "Querdenker:innen" zum Gruppenkuscheln in Stuttgart trafen, zeigte sich die hiesige Ordnungsmacht trotz konsequenter Missachtung der Versammlungsauflagen deutlich kulanter.

Letztendlich verlief die offenbar als hochgefährlich eingestufte Versammlung so friedlich, dass die Polizei ihren Großeinsatz noch nicht einmal mit einer Pressemeldung in eigener Sache würdigte. Vom Bühnenwagen aus wird per Lautsprecher ein Grußwort von Serpil Temiz Unvar eingespielt. Ihr Sohn Ferhat ist eines der neun Opfer, die ein junger Deutscher am 19. Februar 2020 aus rassistischen Motiven ermordete. Serpil Temiz Unvar erzählt von dem gewaltigen Schmerz. Von der zertrümmerten Hoffnung, in Deutschland sicher leben zu können. Der Ernüchterung, wie schleppend die Aufarbeitung lief und läuft. Andere migrantische Aktivist:innen heben hervor, dass sie unsicher sind, an wen sie sich im Fall eines Problems wenden sollen, wenn die Polizei selbst Teil des Problems ist. Als etwa 2021 eine rechtsextreme SEK-Einheit in Hessen aufgelöst wurde, kam heraus, dass 13 der 19 betroffenen Beamten bei der Hanauer Tatnacht im Einsatz waren. Fast alle Redebeiträge plädieren für ein solidarischeres Miteinander.

Linke: nur echt mit Spaltung

Doch mit der Solidarität ist das so eine Sache. "Ohne Grabenkämpfe wären wir ja keine Linken", scherzt eine, um nicht zu weinen. Zwei Stunden vor der Demonstration auf dem Karlsplatz gab es eine andere Gedenk-Kundgebung auf dem etwa 100 Meter weit entfernten Schlossplatz. Gemeinsame Sache machen war nicht möglich, weil es einigen revolutionär orientierten Linken zu bürgerlich war, dass dort ein Juso auf die Bühne durfte (die Redebeiträge selbst hatten große Schnittmengen). Trotz der Trennung kommt es zum Streit auf dem Schlossplatz: Eine Frau vom Stuttgarter Palästina-Komitee (Pako) verteilt Flyer für einen Vortrag mit dem jüdischen Antizionisten Tony Greenstein. Der ist wegen Antisemitismus- und Belästigungsvorwürfen aus der britischen Labour-Partei geflogen und einige Demonstrant:innen sind verärgert, dass eine Gedenkveranstaltung für Werbezwecke instrumentalisiert werde – "noch dazu mit so einem!" Die Frau vom Pako nennt das eine "Hexenjagd" und erklärt wild gestikulierend, warum es eigentlich gar kein wichtigeres Thema gäbe als "die Faschisten in Israels Regierung". Seltsamerweise sind die Fahnen der MLPD nirgends zu sehen, was für Demonstrationen in Stuttgart eher unüblich ist.

Ein erfahrener Kollege, bestens vernetzt in den vielen Stuttgarter Protestbewegungen, findet es fürchterlich, wie versprengt regionale Rassismusgegner:innen aneinander vorbei arbeiten. Und er empfiehlt ein Buch des britischen Journalisten Paul Mason zur Lektüre, das im vergangenen April erschienen ist: "Faschismus: Und wie man ihn stoppt" (hier ein Auszug in der "Frankfurter Rundschau"). Als ein zentrales Merkmal, das das Erstarken autoritärer Bewegungen begünstigt, hat Mason darin die Zerstrittenheit linker und progressiver Kräfte herausgearbeitet, die gemeinsamen Bündnissen im Weg stand. Kein ganz unwichtiger Hinweis in Zeiten, in denen Faschist:innen in der europäischen Nachbarschaft mitregieren, Nazis in deutschen Parlamenten sitzen und rechtsextreme Netzwerke mit direkten Drähten in den Sicherheitsapparat an einem Staatsstreich arbeiten.

Erschreckende Erkenntnisse, wie weit verbreitet der Hass gegen alles vermeintlich Fremde in der bundesdeutschen Gesellschaft ist, liefert eine zum Monatsanfang erschienene Studie von Rafaela Dancygier, Politikprofessorin an der US-amerikanischen Princeton-Universität. Dafür wurden zwischen 2016 und 2017 insgesamt 12.000 Personen aus Deutschland befragt. Fast ein Fünftel befürwortete dabei fremdenfeindliche Gewalt, etwa durch Zustimmung zu Aussagen wie: "Übergriffe auf Flüchtlingsunterkünfte sind manchmal notwendig, um Politikern das Flüchtlingsproblem klarzumachen" (das fanden 16,7 Prozent zutreffend). Sympathie für fremdenfeindliche Gewalt zeigt sich in allen Schichten der Bevölkerung, beinahe die Hälfte der Befürworter:innen sind Frauen.

Die Kirsche auf dem Scheißhaufen

Zeitgleich zur zweiten Kundgebung auf dem Karlsplatz gab es 250 Meter weiter eine dritte Gedenk-Veranstaltung im Württembergischen Kunstverein, die abermals ein anderes Spektrum der Linken ansprach: das studentisch-kunstbegeisterte. Hier wurde unter dem Titel "Wir sind Hanau" eine Ausstellung eröffnet, der Saal ist mit gut 150 Leuten voll.

Faisal Osman, unter anderem aktiv bei der Black Community Foundation, beklagt, dass er nicht jedes Jahr die gleiche Rede halten will – aber muss: Er findet es entsetzlich, dass die Angehörigen nicht nur mit der grausamen Tat fertig werden müssen, sondern obendrein von Polizei, Justiz und Politik weitgehend alleingelassen würden. Viel zu wenig werde gegen den strukturellen Rassismus in deutschen Institutionen getan, obwohl fast täglich Skandale bei Polizei und Co. auffliegen. Und die "Kirsche auf dem Scheißhaufen" ist für ihn, dass das versprochene Denkmal für die Opfer des Terrors in Hanau bis heute nicht steht, weil der sozialdemokratische Oberbürgermeister befürchtet, auf dem städtischen Marktplatz könnte die Mehrheitsbevölkerung den Anblick als störend empfinden.

Den Betroffenen bleibt also nicht viel mehr, als die Auseinandersetzung mit Rassismus selbst voranzutreiben. Im Kunstverein ist auf einem großen Plakat die Definition des Wortes "Einzelfall" abgedruckt, weil es viele nicht mehr hören können, wenn beim Verschwinden von Munition in der Bundeswehr oder rechtsextremen Chatgruppen bei der Polizei so getan wird, als handle es sich um singuläre Ereignisse. Doch die Ausstellung zeigt nicht nur im Inneren Werke, sondern richtet sich im Wortsinn nach außen: An den Fensterscheiben zum Eckensee hin sind große Plakate aufgehängt mit Ratschlägen zum richtigen Verhalten im Fall einer rassistischen Polizeikontrolle. "Gerade die Gegend rund um Charlottenplatz, Eckensee und Karlsplatz ist ein Hotspot für Racial Profiling", sagt eine Aktivistin, "die Polizei chillt da öfter als ich in meinem Bett." Dass die Beamt:innen sogar an einem Gedenktag, der strukturellen Rassismus anprangert, an dieser Stelle insbesondere arabisch aussehende Menschen zwecks Durchsuchung aufhalten, deutet darauf hin, dass an der Diagnose etwas dran sein könnte.

Kein Racial Profiling war bei der vierten Gedenkveranstaltung zu beobachten. Am Abend erinnerte auch Baden-Württembergs Wissenschaftsministerin Petra Olschowski (Grüne) vor dem Alten Schloss an die Opfer von Hanau, indem Profilbilder von Gökhan Gültekin, Sedat Gürbüz, Said Nesar Hashemi, Mercedes Kierpacz, Hamza Kurtović, Vili Viorel Păun, Fatih Saraçoğlu, Ferhat Unvar und Kaloyan Velkov an die Wand projiziert wurden. Das Land Baden-Württemberg ist eingesprungen, wo Stuttgart nicht wollte: Das Rathaus hat es abgelehnt, seine Fassade für die Aktion "Hanau ist überall" zur Verfügung stellen, weil die Verwaltung einen konkreten Bezug zur Stadt vermisst.


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