Wenn man die dystopische Steigerungslogik der letzten 15 Jahre zu Grunde legt und davon ausgeht, dass weiter gepfuscht wird, dann könnte es im Jahr 2050 so aussehen: Das Bau-und Immobilienprojekt, welches in "Stuttgart 51" umbenannt wurde, ist, was die Luxuswohnungen mit Mietpreisen ab 50 Euro pro Quadratmeter betrifft, im mittleren und unteren Schlossgarten fertiggestellt worden, der zu 100 Prozent abgeholzt wurde. In Stuttgarts Zentrum steht kein einziger Baum mehr. Der Kopfbahnhof ist in Teilen noch in Betrieb, da der Tiefbahnhof immer noch nicht funktioniert, was auf inzwischen 2.300 Montagsdemos regelmäßig vorausgesagt wurde. Aber auch der Kopfbahnhof ist durch die forcierte Sparpolitik der Bahn zugunsten ihrer Shareholder quasi funktionsunfähig.
Dennoch bauen Bahn und Land, welches inzwischen von einem AfD-Ministerpräsidenten geführt wird, am Tiefbahnhof weiter. Die Eröffnung wurde über einhundert Mal verschoben, die Kosten haben inzwischen die 50 Milliarden-Euro-Marke gesprengt. Die Dauerbaustelle hat den inzwischen höchsten CO2-Ausstoß aller Baustellen weltweit, der Tiefbahnhof existiert bisher mit einem Gleis und einer Haltestelle, die für die U-Bahn genutzt wird. Es brechen immer wieder Tunnelsysteme zusammen und ganze Straßenzüge ein, das inzwischen komplett untertunnelte Stuttgart wurde zum Katastrophengebiet erklärt. Seit Jahren gibt es eine große Fluchtbewegung aus der Stadt heraus, die Einwohnerzahl Stuttgarts beträgt im Jahr 2050 knapp einhunderttausend, Tendenz abnehmend. Im Freien kann man sich nur noch mit Sauerstoffmasken bewegen, und die meisten von uns, die heute hier stehen, können froh sein, dann nicht mehr zu leben. An der Eröffnung des Tiefbahnhofs wird aber unbeirrt weitergearbeitet. Das Motto lautet wie seit 70 Jahren: Unten bleiben!
Man kann sich Teile dieser Dystopie durchaus vorstellen, wenn man die heutige politische und gesellschaftliche Situation betrachtet und voraussetzt, dass alles so weitergeht. Die Zeit, um die ganz großen Katastrophen aufzuhalten, läuft uns gerade in Riesenschritten davon. Und wieder, wie so oft, steht S 21 symptomatisch für all das kapitalistisch Zeitgenössische, was menschenfeindlich und destruktiv ist: für Klimazerstörung und Korruption, Lobbyismus und Bahnzerstörung, Wachstumsfetischismus und Steuerbetrug,für Gewinnmaximierung von wenigen auf Kosten von vielen. Alles, was den Kapitalismus mit seinen tiefliegenden strukturellen Problemen ausmacht, materialisiert sich in dem Bahnrückbauprojekt. Der Kapitalismus vergrößert die globale Ungleichheit, er untergräbt demokratische Strukturen und zerstört unsere Lebensgrundlagen. S 21 bringt ganz wenigen viel Profit, war immer undemokratisch und zerstört die Stadt. Das System Kapitalismus und das Prinzip S 21 sind in ihrer Unmenschlichkeit radikal unzeitgemäß – sie müssen nicht verändert werden, sie gehören abgeschafft!
Das Gegenteil vom profitorientierten Stuttgarter Kapitalismusprojekt ist eine gerechte, lebenswerte Welt, die verantwortungsvoll mit dem Planeten und seinen Menschen umgeht, und in der kein Platz ist für Menschenverachtung, Naturzerstörung und Ungleichheit. Seit 700 Montagen, seit 2009, kämpfen wir dafür, und wir können nach 15 Jahren sagen, dass wir tausendfach bewiesen haben: Stuttgart 21 ist einer der vielen kleinen Scheißhaufen, der die große Scheiße Kapitalismus am Leben erhält. Scheiße 21 eben. Und deshalb werden wir hier so lange auf die Kacke hauen, bis der ganze Mist weggespült ist, wir werden nicht aufhören daran zu glauben, dass aus Scheiße Gold werden kann!
Bürgerliche versagen, Faschisten spalten
Nun ist es leider so, dass vom Zersetzungsprozess des Kapitalismus gerade die rechten Parteien profitieren, und das weltweit. Ihre idiotischen und kriminellen Führerfiguren von Trump und Putin über Orban und Meloni zu Höcke und Weidel sind nur die Spitze des Problems, gefährlicher ist die jeweilige gesellschaftliche Grundstimmung. Und das liegt nicht daran, dass viele Menschen plötzlich Nazis geworden sind, sondern dass die Verzweiflung über persönliche soziale Situationen, der Unmut über Ungerechtigkeiten, die Wut auf realitätsferne Politik im falschen System mit den falschen Konzepten und falschen Parteien nicht gelöst werden können.
Menschen sind nicht blöd. Wir merken es natürlich, wenn die Mieten immer weiter steigen, die Gehälter aber nicht. Wir kapieren, dass es jedes Jahr wärmer wird, aber kein politischer Wille da ist, radikalen Klimaschutz zu betreiben. Wir wissen auch, dass es immer mehr Superreiche gibt, aber kein Geld für Kommunen da sein soll. Wir nehmen zur Kenntnis, dass Verluste immer sozialisiert, Gewinne aber stets privatisiert werden. Wir spüren als Bahnfahrende, dass die Infrastruktur der Bahn verkommt, da die Bundeskassen wichtiger sind als wir. Und wir wissen, dass das Projekt S 21 in den letzten 15 Jahren mehrfach hätte beendet werden müssen, erfahren aber, dass es gegen jede Vernunft weiterbetrieben wird. Zusammengefasst: man lässt uns mit den Zumutungen des Alltags allein. Es ist, über das Herumdoktern an Symptomen hinaus, kein politischer Wille da, die Organisation unseres Lebens grundsätzlich zu befragen, um Veränderungen einzuleiten, die unser aller Leben besser machen würden.
Was dann passiert, ist nur nachvollziehbar: viele, zu viele haben den Glauben an die Demokratie und Wirkmächtigkeit von Politik verloren. Es folgen Rückzug aus der Öffentlichkeit, zynische Weltbetrachtung und Verachtung für alles Politische. Soziales Engagement gibt’s nur noch für sich selber und engste Angehörige, keine Solidarität mehr mit Notleidenden. Und die Faschist*innen der AfD müssen eigentlich gar nichts tun, um Zulauf zu erhalten, denn der Politikverdrossenheit produzierende Kapitalismus funktioniert hervorragend als Brandbeschleuniger für rechte Weltanschauungen. Es werden Lösungen vorgeschlagen, die an Unsolidarität und Niedertracht appellieren: Geflüchtete und Arme, angeblich Faule und Migrant*innen sind die Sündenböcke, systemische Probleme sollen mit Marginalisierung, Ausgrenzung und Nationalismus gelöst werden. Mehr ist es nicht, was die Nazis anzubieten haben. Das verfängt aber gerade, da in Zeiten des entsolidarisierten Neoliberalismus sowieso alle nur noch für sich selber kämpfen. Rechte verändern aber nichts zum Positiven, sie vergiften lediglich die Gesellschaft, machen alles nur noch schlimmer und tragen nichts dazu bei, dass unser Leben besser wird!
Es geht nur von links
Wir können unsere Probleme nur von der anderen Seite angehen, nämlich von links. Mit linkem Denken, einer linken Gegenöffentlichkeit und mit linken Parteien. Was aber meint "links", und wofür steht linkes Denken? Linke Politik will zunächst einmal alles verändern, was ungleich ist, und das unterscheidet sie zentral von rechter Politik, die die Ungleichwertigkeit von Menschen zementiert. Eine egalitäre Vorstellung vom guten Leben für alle heißt aber nicht Gleichmacherei, wie das in den pseudo-sozialistischen Versuchen zum Beispiel in der DDR stattfand. Gleichheit heißt, dass die Grenzen meiner Freiheit die der Freiheit aller anderen sind. Alle dürfen gleich selbstbestimmt leben, haben die gleichen Möglichkeiten, um sich frei entfalten zu können. Niemand wird ausgegrenzt, weder durch Ungleichheit, noch durch Rassismus, Nationalismus, Antisemitismus, Antiislamismus oder Klassismus. Alle leben gleichberechtigt in einer pluralistischen und diversen Gesellschaft. Das ist links!
Und links ist auch die demokratische Lebensform. Das heißt, es muss für alle dieselben Beteiligungsmöglichkeiten geben. Wesentliche Entscheidungen kommen nicht von oben, sondern werden gemeinsam gefällt. Eine gute Mischung aus direktdemokratischen und parlamentarischen Demokratieformen herstellen, allen demokratische Teilhabe ermöglichen – das ist das Gegenteil von rechts!
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Eberhard Boeck
am 27.03.2024