KONTEXT:Wochenzeitung
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700. Montagsdemo gegen Stuttgart 21

Das Desaster-ohne-Ende-Projekt

700. Montagsdemo gegen Stuttgart 21: Das Desaster-ohne-Ende-Projekt
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Nach Kostenexplosionen und ungeklärten Brandschutzfragen macht auch die geplante Kappung der Gäubahn ehemalige Stuttgart-21-Fans zu Projektgegner:innen. Auf der 700sten Montagsdemo hielten Regisseur Volker Lösch und DUH-Geschäftsführer Jürgen Resch bemerkenswerte Reden.

Als vor nunmehr fast 30 Jahren die ersten Pläne für Stuttgart 21 vorgestellt wurden, verknüpften die Verantwortlichen aus Politik und Bahn das Projekt mit einer großen Erzählung: Nach dem Mauerfall und dem Ende der Blockkonfrontation sollten Ost- und Westeuropa auch symbolisch näher zusammenwachsen, verbunden durch die "Magistrale für Europa": eine Hochgeschwindigkeitstrasse für Eisenbahnen von Paris nach Bratislava. Die dafür vermeintlich notwendige Neubaustrecke zwischen Wendlingen und Ulm, hieß es lange Zeit von Seiten der Deutschen Bahn und der Politik, sei aber nur sinnvoll im Verbund mit einem neuen unterirdischen Durchgangsbahnhof in Stuttgart, der den vorhandenen Kopfbahnhof ersetzt.

Dass diese Darstellung nicht ganz der Wirklichkeit entspricht, zeigt sich an dem einfachen Umstand, dass die Neubaustrecke Wendlingen – Ulm seit Ende 2022 befahren wird und Reisenden Zeitersparnisse (wenn auch geringe) einbringt – während beim Stuttgarter Tiefbahnhof weiterhin fraglich ist, wann und ob er in Betrieb geht. Immer klarer als reines Wunschdenken erscheint zudem, dass Stuttgart 21 überhaupt irgendeine Verbesserung für den europäischen Schienenverkehr darstellen soll. Denn während sich das Großprojekt für die eine Magistrale als überflüssig erwiesen hat, behindert es eine andere massiv: Das Schienennetz von Stockholm nach Rom soll nach gegenwärtigem Planungsstand an einer der sensibelsten Stellen gekappt werden. Wenn es so kommt, kommen Bahnreisende aus Italien und der Schweiz für unbestimmte Zeit nicht mehr direkt mit der Gäubahn zum Stuttgarter Hauptbahnhof. Sondern nur noch bis zum Ortsteil Vaihingen, wo sie – so viel zur Hochgeschwindigkeit – in die S-Bahn umsteigen sollen.

Ursprünglich war die Absicht, die Gäubahn während der S-21-Bauarbeiten nur für wenige Wochen oder Monate zu unterbrechen. Inzwischen ist klar, dass die Unterbrechung mindestens 15 Jahre dauern würde und für eine Wiederankopplung erst einmal Deutschlands längster Bahntunnel, der sogenannte Pfaffensteigtunnel, gebaut werden musste – für viele Milliarden Euro. Betroffen ist ein Einzugsgebiet von knapp 1,5 Millionen Menschen, die abgehängt wären.

Die Deutsche Umwelthilfe klagte bereits erfolgreich gegen die zu hohe Feinstaubbelastung in Stuttgart und setzte so Fahrverbote für Dieselmotoren durch. Der DUH kommt zudem ein maßgeblicher Anteil daran zu, das volle Ausmaß des Abgas-Skandals in der Automobilindustrie offengelegt zu haben. Über die Klage gegen die geplante Gäubahn-Kappung sagt Geschäftsführer Jürgen Resch nun: "Ich weiß aus internen Quellen, dass die Bahn einen Erfolg unserer Klage für durchaus möglich hält." Seine Rede auf der 700sten Montagsdemo gegen Stuttgart 21 dokumentieren wir hier. (min)

Jürgen Resch, Geschäftsführer der Deutschen Umwelthilfe (DUH), spricht von einer Amputation und untermauert dies bei der 700. Montagsdemo gegen Stuttgart 21 am vergangenen Montag vor dem Hauptbahnhof. Eigentlich hätten an dem Abend auch Carola Rackete kommen sollen, bekannt durch ihre Flüchtlingsrettung auf dem Mittelmeer und mittlerweile Spitzenkadidatin der Linkspartei für die Europawahl. Doch Corona verhinderte ihre Anreise und so nahm als erstes Resch die Demonstrant:innen mit auf die Reise durch die Stuttgart-21-Absurditäten. Unterstützt vom Aktionsbündnis gegen Stuttgart 21 klagt die DUH seit Juni 2023 gegen die geplante Gäubahn-Kappung. Aus Protest gegen dieses Vorhaben hat sich zudem am 9. März dieses Jahres das Bündnis Pro-Gäubahn in Rottweil gegründet. Unter dem Motto "Wir wollen nicht abgehängt werden!" haben sich hier Initiativen aus den betroffenen Kommunen Konstanz, Böblingen, Herrenberg, Horb, Tuttlingen und Singen zusammengeschlossen. Mit dabei sind auch ein paar Aktive, die Stuttgart 21 früher einmal positiv sahen.

Doch nach wiederholten Kostenexplosionen, Verzögerungen, ungeklärten Brandschutzfragen und einer faktischen Verschlechterung der Verkehrssituation entwickelt sich das Milliardenprojekt zum Desaster. Und besonders überraschend ist das alles nicht. Zumindest nicht für diejenigen, die schon kritisch hinsahen und Probleme benannten. Das Gesamtprojekt stehe "symptomatisch für all das kapitalistisch Zeitgenössische, was menschenfeindlich und destruktiv ist", sagt der Regisseur Volker Lösch auf der 700. Montagsdemo. Auch dies ein Langzeitprojekt: Seit dem 26. Oktober 2009 protestieren engagierte Bürger:innen Woche für Woche gegen das Projekt. Vermutlich hätten sich die meisten gefreut, wenn sie mit ihren Befürchtungen falschgelegen hätten. Doch immer mehr bewahrheiten sich düstere Prognosen. "Ein Dauerfiasko zum Fremdschämen", urteilt Lösch, dessen Rede wir hier dokumentieren wollen.

Oben bleiben: Die Zukunft ist links

Rede von Volker Lösch auf der 700sten Montagsdemonstration gegen Stuttgart 21 am 18. März 2024

Liebe Mitstreiter*innen, was für eine Blamage! Schon wieder, zum gefühlt tausendsten Mal ist das der erste Gedanke, als S 21 vor zwei  Wochen abermals überregionale Schlagzeilen gemacht hat. Selbst die latent unkritische Stuttgarter Zeitung schrieb von einem "Desaster", meint damit allerdings nur eine bevorstehende Teileröffnung, und nicht das gesamte Projekt. Das Bauvorhaben ist inzwischen so verfahren, so verkorkst und so lächerlich, dass man wieder mal glaubt: das war's jetzt in seinem unbeschreiblichen Dilettantismus, in seiner ganzen Erbärmlichkeit. Was wir aber schon öfters dachten – und dann wurde es irgendwie immer noch dümmer, noch absurder und noch beschissener als jemals zuvor. S 21 ist ein Dauerfiasko zum Fremdschämen.

Wenn man die dystopische Steigerungslogik der letzten 15 Jahre zu Grunde legt und davon ausgeht, dass weiter gepfuscht wird, dann könnte es im Jahr 2050 so aussehen: Das Bau-und Immobilienprojekt, welches in "Stuttgart 51" umbenannt wurde, ist, was die Luxuswohnungen mit Mietpreisen ab 50 Euro pro Quadratmeter betrifft, im mittleren und unteren Schlossgarten fertiggestellt worden, der zu 100 Prozent abgeholzt wurde. In Stuttgarts Zentrum steht kein einziger Baum mehr. Der Kopfbahnhof ist in Teilen noch in Betrieb, da der Tiefbahnhof immer noch nicht funktioniert, was auf inzwischen 2.300 Montagsdemos regelmäßig vorausgesagt wurde. Aber auch der Kopfbahnhof ist durch die forcierte Sparpolitik der Bahn zugunsten ihrer Shareholder quasi funktionsunfähig.

Dennoch bauen Bahn und Land, welches inzwischen von einem AfD-Ministerpräsidenten geführt wird, am Tiefbahnhof weiter. Die Eröffnung wurde über einhundert Mal verschoben, die Kosten haben inzwischen die 50 Milliarden-Euro-Marke gesprengt. Die Dauerbaustelle hat den inzwischen höchsten CO2-Ausstoß aller Baustellen weltweit, der Tiefbahnhof existiert bisher mit einem Gleis und einer Haltestelle, die für die U-Bahn genutzt wird. Es brechen immer wieder Tunnelsysteme zusammen und ganze Straßenzüge ein, das inzwischen komplett untertunnelte Stuttgart wurde zum Katastrophengebiet erklärt. Seit Jahren gibt es eine große Fluchtbewegung aus der Stadt heraus, die Einwohnerzahl Stuttgarts beträgt im Jahr 2050 knapp einhunderttausend, Tendenz abnehmend. Im Freien kann man sich nur noch mit Sauerstoffmasken bewegen, und die meisten von uns, die heute hier stehen, können froh sein, dann nicht mehr zu leben. An der Eröffnung des Tiefbahnhofs wird aber unbeirrt weitergearbeitet. Das Motto lautet wie seit 70 Jahren: Unten bleiben!

Man kann sich Teile dieser Dystopie durchaus vorstellen, wenn man die heutige politische und gesellschaftliche Situation betrachtet und voraussetzt, dass alles so weitergeht. Die Zeit, um die ganz großen Katastrophen aufzuhalten, läuft uns gerade in Riesenschritten davon. Und wieder, wie so oft, steht S 21 symptomatisch für all das kapitalistisch Zeitgenössische, was menschenfeindlich und destruktiv ist: für Klimazerstörung und Korruption, Lobbyismus und Bahnzerstörung, Wachstumsfetischismus und Steuerbetrug,für Gewinnmaximierung von wenigen auf Kosten von vielen. Alles, was den Kapitalismus mit seinen tiefliegenden strukturellen Problemen ausmacht, materialisiert sich in dem Bahnrückbauprojekt. Der Kapitalismus vergrößert die globale Ungleichheit, er untergräbt demokratische Strukturen und zerstört unsere Lebensgrundlagen. S 21 bringt ganz wenigen viel Profit, war immer undemokratisch und zerstört die Stadt. Das System Kapitalismus und das Prinzip S 21 sind in ihrer Unmenschlichkeit radikal unzeitgemäß – sie müssen nicht verändert werden, sie gehören abgeschafft!

Das Gegenteil vom profitorientierten Stuttgarter Kapitalismusprojekt ist eine gerechte, lebenswerte Welt, die verantwortungsvoll mit dem Planeten und seinen Menschen umgeht, und in der kein Platz ist für Menschenverachtung, Naturzerstörung und Ungleichheit. Seit 700 Montagen, seit 2009, kämpfen wir dafür, und wir können nach 15 Jahren sagen, dass wir tausendfach bewiesen haben: Stuttgart 21 ist einer der vielen kleinen Scheißhaufen, der die große Scheiße Kapitalismus am Leben erhält. Scheiße 21 eben. Und deshalb werden wir hier so lange auf die Kacke hauen, bis der ganze Mist weggespült ist, wir werden nicht aufhören daran zu glauben, dass aus Scheiße Gold werden kann!

Bürgerliche versagen, Faschisten spalten

Nun ist es leider so, dass vom Zersetzungsprozess des Kapitalismus gerade die rechten Parteien profitieren, und das weltweit. Ihre idiotischen und kriminellen Führerfiguren von Trump und Putin über Orban und Meloni zu Höcke und Weidel sind nur die Spitze des Problems, gefährlicher ist die jeweilige gesellschaftliche Grundstimmung. Und das liegt nicht daran, dass viele Menschen plötzlich Nazis geworden sind, sondern dass die Verzweiflung über persönliche soziale Situationen, der Unmut über Ungerechtigkeiten, die Wut auf realitätsferne Politik im falschen System mit den falschen Konzepten und falschen Parteien nicht gelöst werden können.

Menschen sind nicht blöd. Wir merken es natürlich, wenn die Mieten immer weiter steigen, die Gehälter aber nicht. Wir kapieren, dass es jedes Jahr wärmer wird, aber kein politischer Wille da ist, radikalen Klimaschutz zu betreiben. Wir wissen auch, dass es immer mehr Superreiche gibt, aber kein Geld für Kommunen da sein soll. Wir nehmen zur Kenntnis, dass Verluste immer sozialisiert, Gewinne aber stets privatisiert werden. Wir spüren als Bahnfahrende, dass die Infrastruktur der Bahn verkommt, da die Bundeskassen wichtiger sind als wir. Und wir wissen, dass das Projekt S 21 in den letzten 15 Jahren mehrfach hätte beendet werden müssen, erfahren aber, dass es gegen jede Vernunft weiterbetrieben wird. Zusammengefasst: man lässt uns mit den Zumutungen des Alltags allein. Es ist, über das Herumdoktern an Symptomen hinaus, kein politischer Wille da, die Organisation unseres Lebens grundsätzlich zu befragen, um Veränderungen einzuleiten, die unser aller Leben besser machen würden.

Was dann passiert, ist nur nachvollziehbar: viele, zu viele haben den Glauben an die Demokratie und Wirkmächtigkeit von Politik verloren. Es folgen Rückzug aus der Öffentlichkeit, zynische Weltbetrachtung und Verachtung für alles Politische. Soziales Engagement gibt’s nur noch für sich selber und engste Angehörige, keine Solidarität mehr mit Notleidenden. Und die Faschist*innen der AfD müssen eigentlich gar nichts tun, um Zulauf zu erhalten, denn der Politikverdrossenheit produzierende Kapitalismus funktioniert hervorragend als Brandbeschleuniger für rechte Weltanschauungen. Es werden Lösungen vorgeschlagen, die an Unsolidarität und Niedertracht appellieren: Geflüchtete und Arme, angeblich Faule und Migrant*innen sind die Sündenböcke, systemische Probleme sollen mit Marginalisierung, Ausgrenzung und Nationalismus gelöst werden. Mehr ist es nicht, was die Nazis anzubieten haben. Das verfängt aber gerade, da in Zeiten des entsolidarisierten Neoliberalismus sowieso alle nur noch für sich selber kämpfen. Rechte verändern aber nichts zum Positiven, sie vergiften lediglich die Gesellschaft, machen alles nur noch schlimmer und tragen nichts dazu bei, dass unser Leben besser wird!

Es geht nur von links

Wir können unsere Probleme nur von der anderen Seite angehen, nämlich von links. Mit linkem Denken, einer linken Gegenöffentlichkeit und mit linken Parteien. Was aber meint "links", und wofür steht linkes Denken? Linke Politik will zunächst einmal alles verändern, was ungleich ist, und das unterscheidet sie zentral von rechter Politik, die die Ungleichwertigkeit von Menschen zementiert. Eine egalitäre Vorstellung vom guten Leben für alle heißt aber nicht Gleichmacherei, wie das in den pseudo-sozialistischen Versuchen zum Beispiel in der DDR stattfand. Gleichheit heißt, dass die Grenzen meiner Freiheit die der Freiheit aller anderen sind. Alle dürfen gleich selbstbestimmt leben, haben die gleichen Möglichkeiten, um sich frei entfalten zu können. Niemand wird ausgegrenzt, weder durch Ungleichheit, noch durch Rassismus, Nationalismus, Antisemitismus, Antiislamismus oder Klassismus. Alle leben gleichberechtigt in einer pluralistischen und diversen Gesellschaft. Das ist links!

Und links ist auch die demokratische Lebensform. Das heißt, es muss für alle dieselben Beteiligungsmöglichkeiten geben. Wesentliche Entscheidungen kommen nicht von oben, sondern werden gemeinsam gefällt. Eine gute Mischung aus direktdemokratischen und parlamentarischen Demokratieformen herstellen, allen demokratische Teilhabe ermöglichen – das ist das Gegenteil von rechts!

Und links ist nicht zuletzt, dass das Gleichheitsprinzip auf alle Menschen dieser Welt angewendet wird, und nicht, wie so manche Pseudo-Linke meinen, nur auf Deutsche. Als Linke*r kann man Demokratie nicht nationalstaatlich denken. Wir leben schon lange mit unseren Emissionen auf Kosten von Millionen von Menschen außerhalb Europas. Und deshalb, und aus vielen anderen Gründen, haben Linke eine universelle Verantwortung. Wer diejenigen ausgrenzt, die die Folgen unserer Lebensweise erleiden und aus Klimagründen fliehen müssen, ist nicht links!

Wenn also Gleichheit, Demokratie und internationale Solidarität links bedeuten, dann ist es offensichtlich, dass unsere derzeitige Regierung nicht links ist. Sie ist aber auch nicht rechts, sie ist: gar nichts. Sie irrt in alten Denkmodellen herum, unfähig zu Visionärem, unfähig, das Gesamtdesaster auch nur ansatzweise in den Griff zu bekommen. Wie aber geht das von links?

Nun, ein gutes Beispiel dafür seid ihr. Der Widerstand gegen S 21 kämpft seit über 15 Jahren gegen ein System, welches für die Menschen dieser Stadt und Umgebung nur Schlechtes bereithält. S 21 hat nichts mit Gleichheit zu tun, es ist unsolidarisch und undemokratisch. Dieser Protest ist ein Musterbeispiel linker Gegenöffentlichkeit!

Die Stuttgarter Betonorgien, der Klimakiller S 21 bekommen hier Widerstand. Denn links ist, sich überall da zu engagieren, wo für radikales Umsteuern in der Klimapolitik gekämpft wird. Und links ist ebenfalls, die kapitalistische Wachstumsdynamik in Frage zu stellen. Das Wachstumsprinzip hat das Ökonomische zum Fixpunkt unseres Seins gemacht. Damit müssen wir brechen, sonst werden wir uns selber nicht überleben. Und es geht dabei nicht um "grünes Wachstum" oder einen "Strukturwandel" oder um "neue Technologien", das funktioniert nirgendwo. Die Transformation gilt dem Ganzen, unserer Lebensweise - eine andere Art des Lebens muss her, deutlich reduzierter und global nachhaltiger. Der Verbrauch von Ressourcen und Emissionen muss radikal gesenkt werden, um diesen Planeten als lebenswerten Ort zu erhalten. Uns bleiben vielleicht noch fünf, maximal zehn Jahre, dann ist alles zu spät. Denn es gibt in Klimafragen kein Zurück. Wir müssen diese Veränderungen jetzt angehen, und es sind wir, die Industriestaaten, die damit beginnen müssen!

Diese Welt braucht keine Milliardäre

Wenn wir unsere Gesellschaft nachhaltig verändern wollen, wird es extreme Einschnitte in der Arbeitswelt geben, die extrem viel Geld kosten werden. Wo soll das herkommen? Von oben natürlich, da, wo es seit einem halben Jahrhundert hingeschaufelt wurde! Links ist, dafür einzustehen, dass endlich im großem Umfang umverteilt wird. Dass der öffentliche Fokus auf die großen Vermögen gelenkt wird, dass man mit Sondersteuern, Reichensteuern, Vermögenssteuern, Erbschaftssteuern, Finanztransaktionssteuern, dass man mit stark progressiven Steuermodellen an das ganz große Geld ran geht, und dass wir den Überreichtum abschaffen. Und es geht nicht um das Haus, welches ihr erben werdet, es geht um Superreichtum. Kein Mensch auf dieser Welt braucht eine Milliarde Vermögen, das ist demokratiefeindlich, gesellschaftszersetzend, obszön und asozial. Vermögen über 1 Milliarde gehören zu 100 Prozent versteuert, diese Welt braucht keine Milliardäre!

Und links ist auch, dem Mainstream und allen Parteien, die den Nazis hinterher hecheln, rechte Parolen nachplappern und die die menschenverachtende Abschottungspolitik Europas ausbauen, zu widersprechen. Es ist links, zu fordern, dass die Kommunen und die Zivilgesellschaft viel mehr Geld bekommen, um unserer Verantwortung gerecht werden zu können, denen Asyl zu gewähren, die aufgrund existentieller Notlagen ihre Heimat verlassen müssen. Und das würde natürlich mit Umverteilung funktionieren, dieses Land ist superreich! Menschen im Mittelmeer ertrinken zu lassen, sie gegen deutsche Bedürftige auszuspielen, sie mit Pushbacks aus der EU herauszuprügeln, das ist nicht links, das ist inakzeptabel, antihumanistisch und amoralisch, und definitiv nicht die Lösung unserer Probleme!

Neben all dem, was wir zivilgesellschaftlich durch Druck auf den Straßen für eine bessere Welt tun können, ist es in einer parlamentarischen Demokratie so, dass linke Inhalte letztlich nur Parteien durchsetzen können. Sie setzen die politischen Rahmen und implementieren Gesetze, um neue Strukturen Schritt für Schritt durchzusetzen. Man wird den Kapitalismus nicht von einem auf den anderen Tag abschalten können, das wird ein zäher, zeitaufwendiger und arbeitsreicher Prozess werden, der einen langen Atem benötigt.

Die schwäbische Sturmböe des Widerstands

Nun gibt es in Deutschland nur eine einzige Partei, die daran arbeitet, all das Genannte umzusetzen. Eine einzige! Und sie hat jetzt plötzlich wieder eine Chance, da sich ihre konservativen, national orientierten Kräfte verabschiedet haben. Es wird nun darauf ankommen, dass die Linke konkret wird. Dass sie auf verständliche Art und Weise klar macht, wie sie ihre Ziele erreichen will. Und dabei sollte sie sich auf ihre Inhalte konzentrieren und nicht reaktiv anderen hinterherlaufen. Das hat sie auch gar nicht nötig, denn laut Umfragen sind viele bereits links eingestellt. Es gibt ein großes, ungenutztes Potential für linke Themen. Die Linke muss jetzt mit ihren Kernthemen Umverteilung, Klima, Menschenrechte, Identität, Frieden und Soziales die Menschen da abholen, wo viele schon sind. Die Zeiten sind reif für eine linke Politik, die nicht ausschließt, sondern alle mitnimmt. Und es kämpfen auch immer mehr Zivilgesellschaftliche dafür, dass dieser Bewusstseinswandel Mehrheiten erlangt, dass rechts kleiner, und links wieder groß wird!

Die 700ste Montagsdemo gegen S 21 als Videoaufzeichnung.

Der Kampf gegen S 21 war auch immer ein Kampf für ein besseres Leben für alle. Deswegen gibt es diesen Protest auch schon so lange. Und dass die Betreiber*innen von Stuttgart 21 sich nun in der wohl beschissensten und krisenhaftesten Lage befinden, in der sie jemals waren, zeigt, wie sinnvoll und wichtig und relevant und vorausschauend und wie politisch dieser Widerstand war und ist. Wir bekommen mit jedem Tag mehr Recht, und ganz am Ende, beim Bilanzieren, wenn der Spuk vorbei und das Horrorprojekt gescheitert ist, werden wir entscheidende Impulse zur Veränderung beigetragen haben. Deshalb seid ihr alle, wie ihr da steht, Impulsgeber*innen für eine bessere Welt. Und wer den langen Atem für 700 Montagsdemos hat, der hat auch noch soviel Luft in den Protestlungen, um den strauchelnden Betonriesen ganz wegzublasen. Macht unbedingt weiter, die landesweite Protestkultur braucht euch! Ihr seid die schwäbische Sturmböe des Widerstands, der linke Hurrikan der Veränderung, ein einzigartiger und unwiderstehlicher und unverzichtbarer Protest-Orkan!

Und jetzt mal ehrlich, wer behauptet denn heute noch, dass der Kapitalismus, der kein Naturgesetz, sondern nur von Menschen gemacht ist, nicht verändert werden kann? Wer meint denn heute noch ernsthaft, das Stuttgart 21 wie geplant umgesetzt wird? Wer glaubt denn, dass nach 700 Montagsdemos diese Bewegung irgendwann mal aufgeben wird? Ich persönlich denke das nicht, dafür kenne ich viel zu viele Menschen, Initiativen, Aktionen, die sich mit aller Kraft für eine andere Gesellschaft engagieren. Die Bewegung gegen S 21 ist ein unverzichtbares Kraftfeld für Veränderung. Die jüngsten Erfolge geben uns mehr als recht. Die 800ste Montagsdemo anzupeilen ist die einzige Option, die zählt, damit wir 2050 eben nicht die Zustände vorfinden, die ich anfangs beschrieben habe. Wir stehen vielleicht kürzer vor dem ganz großen Erfolg, als wir es selber für möglich halten – genießen wir diese letzte Phase des Kampfes und die Vorfreude auf unseren bevorstehenden Triumph in vollen Zügen, wir werden diesen Irrsinn beenden, und dann wird gefeiert, dass sich die Kelchstützen biegen und die Lichtaugen zerplatzen!

Oder es wird alles ganz anders

Wenn alles gut läuft, kann es nämlich auch so kommen: 2050 empfängt Stuttgart alle Bahnreisenden mit einem hochmodernen Kopfbahnhof, umverteilte Steuer-Milliarden wurden in seine Sanierung gesteckt. Der zerstörte Schlossgarten wurde an der Stelle der hässlichen Ingenhoven-Bullaugen wieder aufgeforstet. Der Tiefbahnhof existiert als Mahnmal mit nur einer Haltestelle namens "Milliardengrab" und einem einzigen Gleis, welches Teil einer Geisterbahn ist, die Touristen durch die als Horrorvision dargestellte Geschichte von S 21 scheucht. Die Tunnelröhren, welche noch nicht eingestürzt sind oder zugeschüttet wurden, dienen als spektakuläre Riesenrutschen in Europas abgefahrenstem Spaßbad. Das Bauwerk Mahnwache wurde zum UNESCO-Welterbe erklärt. In der Fußgängerzone Schillerstraße steht vor dem Haupteingang des Kopfbahnhofs eine große, bekletterbare Gangolf-Stocker-Statue. Stuttgart ist mehrfach hintereinander zur lebenswertesten, klimaneutralsten und internationalsten Stadt der Republik gewählt worden. Städtisch relevante Themen werden in Bürger*innenräten debattiert und entschieden, der durchschnittliche Mietpreis steht seit Jahren bei sieben Euro/qm. Kontext ist die auflagenstärkste Zeitung der Stadt, die kostenlose Treppenzeitung ist jetzt die Stuttgarter Zeitung.

Eine grüne Partei in BW gibt es nicht mehr, die Bürger*innenentscheidungen waren immer grüner als die der Grünen, so haben sie sich selber aufgelöst. CDU und SPD liegen regelmäßig bei zwei bis drei Prozent, das Durchschnittsalter ihrer Mitglieder*innen beträgt 88,4 Jahre. An die FDP und AfD erinnert sich niemand mehr, die Linke heißt jetzt anders und ist richtig links geworden. Eine Historiker*innenkommission arbeitet an einer Ausstellung über das Scheitern des idiotischsten Bauprojekts der Welt und initiiert eine Bürger*innenbefragung zur posthumen Umbenennung von Stuttgart 21. In die Endrunde haben es geschafft und stehen zur Abstimmung: Apokalypse 21, Armageddon 21, Bankrott 21, Blamage 21, Bürgerverachtung 21, Debakel 21, Desaster 21, Dreck 21, Dummheit21, Fiasko 21, Flop 21, GAU 21, Grauen 21, Horror 21, Katastrophe 21, Klimakiller 21, Korruption 21, Niederlage 21, Scheißdreck 21, Pleite 21, Reinfall 21, Rückbau 21, Stadtzerstörung 21, Topflop 21, Tragödie 21, Trostlosigkeit 21, Unglück 21, Unheil 21, Verachtung 21, Verhängnis 21, Verderben 21, Waterloo 21 – und gewinnen wird der internationale Beitrag:

Worstcaseworlddestroyandneverendingdesasterclimatekillingsocietyfuckingfuckandshitproject Stuttgart 21!

Und Kretsch entschuldigt sich

Und das Schönste ist: Dokumentiert ist auch eine öffentliche Entschuldigung des Ministerpräsidenten von 2024, Kretschmann hieß der damals, bei den Gegner*innen des Projekts. Wörtlich sagte der ehemalige Kritiker des Tiefbahnhofs bei seinem Rückritt über die Politik der gesamtem Landesregierung: "Den Käs' kannschd vergesse". Die Montagsdemos wurden als konsequentestes, visionärstes, dauerhaftestes, politischstes und mutigstes Vorhaben der Protestkultur mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet, welches vom Aktions- und Demobündnis einstimmig abgelehnt wurde. Ihre Sprecher, Werner Sauerborn und Tom Adler hießen die damals, entgegneten: "Immer wenn's ernst wurde, habt ihr gelogen. Wir brauchen keine Preise von Heuchlern und Opportunisten. Dass wir oben geblieben sind, ist Auszeichnung genug!"

Ein Raum der Ausstellung ist 2050 bereits fertiggestellt, er beschreibt die Ereignisse des Jahres 2024, dem letzten Jahr des Widerstands. Auf der 700sten Montagsdemo forderte der lauteste Redner, ein Ex-Stuttgarter Schreihals und Künstler aus Berlin, abermals einen Baustopp. Der Text lautete damals:

"Liebe Befürworter*innen des Betonkopfprojektes S 21! Eure Verzweiflung ist mit Händen zu greifen, euer Ende mehr als nah. Statt wie blöde die nächsten sinnlosen und schwachsinnigen Reparatur- und Ergänzungsvorhaben zu planen, statt weiterhin Milliarden Euro öffentlicher Gelder zu verbrennen und einzusacken, statt weiterhin mit Tonnen von CO2 das Klima zu zerstören, und statt weiterhin diese Stadt zu zerstören, fordern wir euch ultimativ und unverzüglich dazu auf, einen Baustopp zu verhängen. Jetzt und sofort! Um dann gemeinsam die Ausstiegsszenarien zu erörtern." Die Losung hieß damals, am 18. März 2024:

AUFHÖREN ZU LÜGEN, BAUSTOPP JETZT UND OBEN BLEIBEN FÜR IMMER!

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7 Kommentare verfügbar

  • Eberhard Boeck
    am 27.03.2024
    Antworten
    Auweh, da haut einer auf die Kacke (Volker Lösch: dreimal "Scheiße", einmal "Kacke"...) - Kacke-Kapitalismus und S 21 in einer fast einstündigen Überwältigungs -Kakkophonie, wie schon des öfteren, is ja beinah eine Ikone auf der Gegen-S21-Bühne. Wie der Kapitalismus funktioniert , erläuterte etwas…
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