Für ihre bunte Straßenpoesie ist die Technikstadt Stuttgart ja nicht unbedingt berühmt. Graffiti zeigen sich hier meist als zeichenhafte Tags an Häuserwänden, Mauern oder mausgrauen Kabelverteilerkästen. Die beiden Stuttgarter Timo Brunke, Wortkünstler und Konzertpoet, und Matthias Gronemeyer, Autor und Doktor der Philosophie, sind gerade dabei, das in einem Experiment zu hinterfragen. Wie poetisch ist Stuttgart wirklich? Dafür haben sie alle Stuttgarter:innen aufgerufen, in ihrer Stadt nach Sprüchen, Versen und Poemen im öffentlichen Raum zu fahnden und ihre Sichtungen – ob professionell designt oder jugendlich-spontan gesprüht – bis zum 1. April bei der zentralen Gedichtsammelstelle gedichtesichten.de zu melden.
Ihr Projekt sei inklusiv und partizipativ, erklärt Gronemeyer, Lyrik als literarischer Gattung hafte etwas sehr Elitäres an. "Wir möchten Kunst und Poesie in die Breite tragen, sie durchlässiger machen. Auch den Begriff davon erweitern, was überhaupt Lyrik ist." Die Professionalisierung sei schließlich eine Krücke der bürgerlichen Gesellschaft, sagt er, die mit diesen komischen Vögeln irgendwie umgehen müsse. "Die wenigsten, die wir heute als Poeten feiern, haben das ja berufsmäßig ausgeübt, die haben zum Geldverdienen etwas anderes gemacht." "Poesie ist Spiel", ergänzt Brunke, "sie setzt Freiheit, Denken, neues Fühlen frei. Das können Profis genauso wie ein Graffiti." Und so ist Bemerkenswertes zu entdecken in Stuttgarts stillen Ecken. So viel jedenfalls, dass sich ein "Kartenwerk der poetischen Stadt" füllen lässt, das zum lyrischen Flanieren einlädt.
0 Kommentare verfügbar
Schreiben Sie den ersten Kommentar!