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Gedichte sichten in der Stadt

Wie poetisch ist Stuttgart?

Gedichte sichten in der Stadt: Wie poetisch ist Stuttgart?
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 Fotos: Joachim E. Röttgers 

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Der Wortkünstler Timo Brunke und der Philosoph Matthias Gronemeyer haben alle Stuttgarter:innen aufgerufen, Poesie zu melden: Gedichte, Verse oder Worte, die Gebäude oder öffentliche Räume zieren. Sie wollen daraus einen "poetischen Stadtplan" machen. Eine Spurensuche.

Für ihre bunte Straßenpoesie ist die Technikstadt Stuttgart ja nicht unbedingt berühmt. Graffiti zeigen sich hier meist als zeichenhafte Tags an Häuserwänden, Mauern oder mausgrauen Kabelverteilerkästen. Die beiden Stuttgarter Timo Brunke, Wortkünstler und Konzertpoet, und Matthias Gronemeyer, Autor und Doktor der Philosophie, sind gerade dabei, das in einem Experiment zu hinterfragen. Wie poetisch ist Stuttgart wirklich? Dafür haben sie alle Stuttgarter:innen aufgerufen, in ihrer Stadt nach Sprüchen, Versen und Poemen im öffentlichen Raum zu fahnden und ihre Sichtungen – ob professionell designt oder jugendlich-spontan gesprüht – bis zum 1. April bei der zentralen Gedichtsammelstelle gedichtesichten.de zu melden.

Ihr Projekt sei inklusiv und partizipativ, erklärt Gronemeyer, Lyrik als literarischer Gattung hafte etwas sehr Elitäres an. "Wir möchten Kunst und Poesie in die Breite tragen, sie durchlässiger machen. Auch den Begriff davon erweitern, was überhaupt Lyrik ist." Die Professionalisierung sei schließlich eine Krücke der bürgerlichen Gesellschaft, sagt er, die mit diesen komischen Vögeln irgendwie umgehen müsse. "Die wenigsten, die wir heute als Poeten feiern, haben das ja berufsmäßig ausgeübt, die haben zum Geldverdienen etwas anderes gemacht." "Poesie ist Spiel", ergänzt Brunke, "sie setzt Freiheit, Denken, neues Fühlen frei. Das können Profis genauso wie ein Graffiti." Und so ist Bemerkenswertes zu entdecken in Stuttgarts stillen Ecken. So viel jedenfalls, dass sich ein "Kartenwerk der poetischen Stadt" füllen lässt, das zum lyrischen Flanieren einlädt.

In der Kunst geht es um die Endlichkeit

Wir haben uns verabredet, um eine erste stadtlyrische Bestandsaufnahme zu begutachten und über die Ästhetik von Stadtpoesie zu plaudern. Wir beginnen am Boschareal in der Seidenstraße. An der Fassade sind zwei Angebersprüche des Pariser Playboys Rubirosa zu lesen: "Die Kunst, das Leben wie eine Auster zu schlürfen." Ein Lokal, das sich nach dem Lebemann benannt hatte, brachte es Anfang der 2000er-Jahre dort an. Das Lokal ging insolvent, die Sprüche blieben. Rubirosas "To work? I do not have time to work" auch. Das sei doch spannend, sagt Brunke, die Schriftzüge verblassten, würden blättrig. Knallrot hätten sie sich mal abgehoben von der weißen Wand. Sie seien halt vergänglich wie der Playboy, der mit 56 im Suff sich und sein Ferrari-Cabrio gegen einen Baum gefahren habe. "Das sagt doch ähnlich viel über die Endlichkeit aus wie ein Grabstein", ergänzt Gronemeyer. Aber ob das deswegen dann auch gleich Kunst sei? Letztlich gehe es in der Kunst doch immer um die Endlichkeit, kontert er. "Ohne Sterblichkeitsbewusstsein keine Kunst! Warum dichten wir denn? Weil uns etwas fehlt. Weil uns die Zeit davonläuft. Weil wir denken, dass sowieso bald alles zu Ende ist."

"Wenn man den Blick dafür kriegt und durch die Stadt flaniert", sagt Brunke, "dann haben Standorte plötzlich etwas miteinander zu tun." Auf dem Hoppenlaufriedhof nehmen wir Grabsteinsprüche in Augenschein. Eichhörnchen queren flink unseren Weg, ein Wendehals lacht. "Du unvergesslich theurer  / Schlaf in des Himmels Ruh' / Dort bist geborgen / Du der uns so treu am Herzen hing", lautet die Inschrift auf der Rückseite des Grabsteins für den "königlichen Hofmusikus" Christian Heinrich Hehl (1776 bis 1837). Ähnlich wie die Rubirosa-Sprüche sind auch die Grabsteine aus Sandstein sichtlich der Endlichkeit ausgeliefert: Feuchtigkeit, Wind, Kälte lassen sie langsam zerbröseln. Ob denn Grabinschriften wirklich Stadtpoesie seien? Seien sie nicht doch irgendwie zweckmotiviert? "Warum ist denn ein Grabspruch nicht im künstlerischen Kosmos anzusiedeln?", fragt Gronemeyer zurück – was sich später von selbst beantworten wird, wenn wir den sogenannten Schicksalsbrunnen vor den Staatstheatern besuchen, den der Bildhauer Karl Donndorf (1870 bis 1941) in Erinnerung an die 1910 ermordete Opernsängerin Anna Sutter geschaffen hat: "Aus des Schicksals dunkler Quelle / Rinnt das wechselvolle Los / Heute stehst du fest und gross / Morgen wankst du auf der Welle", steht dort eingemeißelt. Erinnerungskunst der Superlative. Der Brunnen gilt heute als einer der bedeutendsten Jugendstilbrunnen der Welt.

Das Dreckige und Hässliche gehören dazu

Brunke und Gronemeyer haben sich in der Stuttgarter Poetry-Slam-Community kennengelernt und engagieren sich beide in der kulturellen Kinder- und Jugendbildungsarbeit mit dem Schwerpunkt kreatives Schreiben und Spoken Word. Poesie sei so medial wie nur irgendwas, so Brunke, da sei es ein logischer Schritt, mal wieder ihre schriftliche Seite im Fokus zu haben: "Dass da was steht, was dich anruft oder auch nicht, an dem du jahrelang vorbeigehst und es dann plötzlich entdeckst." Das sei der Charme von "Gedichte sichten", dass es still oder auch zeitversetzt zugehe.

Wir flanieren weiter zum Studierendenwohnheim um die Ecke. Da liest man an einer halb heruntergelassenen Jalousie "keine Worte". Das ist lustig. Sei sie ganz unten, stände dort nämlich ein gesprühtes "Solange ich tanze, brauche ich keine Worte", erklärt Gronemeyer. An einer Betonsäule steht in Rockersprache und roten Buchstaben: "Fuck Coppers / ride Choppers". Dazwischen ein gelbes Herzchen plus kringeligem Tag in Weiß. Ein Beispiel für die stadttypische Kollektivpoesie: Eine schreibt was an die Wand, einer kommt vorbei und fügt etwas hinzu. "Was ein Gedicht ist, habe ich mich im Rahmen dieses Projekts schon noch mal ganz neu gefragt", sinniert Brunke. "Wie viel Zufall gehört dazu? Wer dichtet da mit? Wie viel Anteil hat der Betrachter?"

Dass Tübingens Oberbürgermeister Boris Palmer sich in Sachen Sprayer:innen immer radikaler äußert und Graffiti aus der Stadt verbannen und strafrechtlich verfolgen will, missfällt den beiden genauso wie den Tübinger Betroffenen, die treffend konterten: Das Dreckige und Hässliche gehöre zu einer Stadt dazu. Palmer habe halt keinen Sinn für Kunst, so Brunke. Um sich mit der Betonwelt abzufinden, in der man lebe, sei das Sprühen total legitim. "Leben heißt: Signale senden", sagt er, "da sind doch Schriftzüge in der Stadt ein schönes Medium." In der Tat: Menschen verewigen sich, damit man sieht, dass es sie gibt. Solche, die sich eine Wohnung in der Tübinger Altstadt nicht leisten können oder die an solchen Orten unerwünscht sind. Die einen übertünchen, die anderen fühlen sich cool und sexy, wenn sie die Tags stehen lassen, wie so mancher Club in der Stadt.

Kollektivpoesie macht Eindeutiges mehrdeutig

Im Lichthof des Tagblattturms in der Eberhardstraße gibt es eine Wortschlange zu sehen, die sich die Wände entlang windet: "du bist der ANFING und der ABFING / das EINDING und das ICHSING / ich bin das UNDING und das DUSING / der ZUGING und der WEGGING". "Ein Hauptwerk", sagt Brunke beeindruckt. Es sei offenbar egal, welche die erste Strophe sei. Das Poem stammt vom Künstler Bruno Nagel, der mit der verbalen Ausgestaltung dieses Ortes beauftragt wurde, an dem 2004 die "Kultur unterm Turm" mit mehreren Theatern eröffnet wurde.

Auch an der nahe gelegenen Weinstube "Kachelofen" wird man fündig in Sachen professionell Getextetem: "Die Freundschafft, die der Wein gemacht, / Würckt wie der Wein, nur eine Nacht" – ein barocker Zweizeiler von Friedrich von Logau (1604 bis 1655). Jemand hat einen Aufkleber dazugebäbbt: "Lebe jeden Tag als wärst du das Letzte!" Ein weiterer: "Keine Revolte" (ein Werbekleber einer Stuttgarter Band). Da ist sie wieder: Die Stadt als dichterisches Kollektiv, als Co-Autorin, die Kontexte liefern kann, die Eindeutiges mehrdeutig machen. Dazu braucht man nicht einmal neue Worte. Im Stuttgarter Westen etwa gab's mal einen Metzgerladen, in dem heute ein Lokal beherbergt ist. Es hat sich die alte Fassadenbeschriftung "Metzgerei" einfach als Namen einverleibt. Brunke sieht in solchem eine "poetische Tat". Poesie bestehe ja nicht allein in der formalen textlichen Gruppierung von Worten, sondern es sei auch der Akt, die Handlung, das Drumherum, das poetisch werden könne. In diesem Fall passiere eine Zeitverschränkung aus zwei Epochen eines Hauses. "Man nennt das Lokal Metzgerei, meint es aber nicht so. Wenn du verkaufen willst, solltest du aber eigentlich eindeutig sein." Das sei doch typisch Poesie: dass man in die Uneigentlichkeit gerate.

Warme Worte mitten im technokratischen Irrsinn

Im Schlosspark entdecken wir an einer Betonwand wirklich Rätselhaftes. Da hat jemand in lila gesprüht: "Emily fühlt sich an wie das Leben?", und darunter "stimmt" und "stimmt nicht" mit Ankreuzkästchen. Eine andere Person hat "stimmt" mit einem Sprühkreuz versehen, wieder eine andere ein rotes Kästchen hinzugefügt und angekreuzt: "Arsch". Aber wer ist Emily? "Vielleicht irgendeine KI", sagt Gronemeyer, "jedenfalls will die Frage provozieren: Ist Emily echt?"

Wir beenden unsere Tour im Europaviertel hinterm Hauptbahnhof, im Innenhof des gigantischen, 2004 fertiggestellten LBBW-Gebäudes, auf einem Kunstwerk, das so gar nicht wie eines aussieht: auf der vergitterten Rampe des Künstlers Siah Armajani. Das stählerne Gitter-Fundament entlang hat der Künstler ein paar Verse aus Rilkes Gedicht "An Hölderlin" aneinandergereiht: "Was, da ein solcher, Ewiger, war, mißtraun wir / immer dem Irdischen noch? Statt am Vorläufigen ernst / die Gefühle zu lernen für welche / Neigung, künftig im Raum?" Brunke sagt: "Ich verstehe die Kontextualisierung hier nicht." Da ist er nicht der einzige.

Worum es ihnen denn bei der Stadtpoesie ganz genau gehe? In der Welt voller geraubter öffentlicher Räume irgendetwas zu finden, das den Blick verändere, sagt Brunke. Kein Zweifel, das ist passiert am Ende der Tour. Die Augen wollen sich festsaugen an Worten, die sichtbar werden zwischen Autos, Baustellen und grauen Wänden, suchen in ihnen den poetischen Sinn.

Timo Brunke (geboren 1972 in Stuttgart) ist Wortkünstler, Konzertpoet und Autor. Er startete als literarischer Kabarettist, avancierte später zum bedeutenden Protagonisten der deutschen Poetry-Slam-Szene. So gründete er etwa 1999 den Stuttgarter "Poetry Slam" im Club Rosenau. Er entwickelte eigene Formen der Spielpoesie, des Spoken Word sowie der experimentellen Dichtung und hatte Auftritte als fahrender Poet auf der ganzen Welt. Brunke engagiert sich in der Bildung, leitet Workshops, publiziert und macht Bühnenproduktionen. Er ist der Texter der Stuttgart-21-Widerstandshymne "Freunde schöner Kopfbahnhöfe".

Matthias Gronemeyer (geboren 1976 in Bielefeld) ist Doktor der Philosophie und lehrte etliche Jahre an der Pädagogischen Hochschule Ludwigsburg und der Freien Kunstakademie Nürtingen. Er ist Autor mehrerer Bücher und Essays sowie politischer Radiofeuilletons für "Deutschlandfunk Kultur". In philosophischen Performances zeigt er neue, ästhetische Zugänge zur Arbeit am Begriff. In seinem Verein Ausdrucksreich e.V. engagiert er sich in der kulturellen Bildung. Er lebt in Stuttgart und auf einem Bauernhof in Ostwestfalen.  (vg)

"Feuergasse freihalten" – Poesie oder ernst gemeint? "seele", "seele", "seele" springt uns schwarzlettrig an von den vielen weißen Baucontainern auf der Stuttgart-21-Baustelle. Warme Worte mitten im technokratischen Irrsinn. Eigentlich das Logo einer Fassadenfirma, und nun unfreiwillig poetisch. "Aber gibt es einen Zufall?", fragt Gronemeyer. Wir assoziieren also frei: Seele hinter Gittern. Käufliche Seelen. Seelen, die nur fürs Äußere zuständig sind. Hat Stuttgart überhaupt eine Seele? Wer ist Stuttgart, und wenn ja, wie viele?


Hier geht es zur Gedichtesammelstelle (noch bis 1. April 2024). Aus den Einsendungen entsteht ein poetischer Stadtplan für Stuttgart, der im Rahmen von "Wetterleuchten", der Buchmesse der unabhängigen Verlage, am 8. Juni 2024 im Stuttgarter Literaturhaus vorgestellt wird. Herausgeber des Stadtplans ist der Verlag Prima Publikationen, Kosten: voraussichtlich 12 Euro.

 

 

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