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Gesunde Ernährung und soziale Gerechtigkeit

Mahlzeit

Gesunde Ernährung und soziale Gerechtigkeit: Mahlzeit
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Jeder siebte in Baden-Württemberg lebende Mensch ist armutsgefährdet. Deshalb sparen viele an gesundem Essen. "Ernährung ist immer politisch", sagt der grüne Bundeslandwirtschaftsminister Cem Özdemir.

Die beiden haben schon viel erlebt. Özdemir (Grüne) und Sarah Wiener, die deutsch-österreichische Köchin, geben sich freundschaftlich verbunden im Bemühen um sozialen Ausgleich auf dem Speisezettel. Hier in Stuttgart-Möhringen im früheren Daimler-Hauptquartier, umgetauft in "Campus Sternenhöhe", schnippeln sie mit Kita-Kindern Gemüse, wollen Lust darauf machen, die Lasagne mit roten Linsen, das Paprikapesto oder den Griesbrei selber zu kochen. "Ich kann kochen" heißt die Initiative der Sarah-Wiener-Stiftung.

Doch Wiener kann mehr als kochen. Sie sitzt für die Grünen im Europaparlament, hat dort das schlussendlich gescheiterte Pestizidgesetz mitverhandelt – was ihr viele Anfeindungen einbrachte, Morddrohungen inklusive. Vor allem konservative und Parlamentarier:innen von ganz weit rechts kippten den Kompromiss, die Nutzung der verharmlosend "Pflanzenschutzmittel" genannten Gifte bis 2030 um die Hälfte im Vergleich zum Durchschnitt der Jahre 2013 bis 2017 zu senken. Mit haltlosen Unterstellungen und Verdrehungen werde argumentiert, berichtet Wiener, "und einfach schlicht gelogen".

Eine Taktik, die Özdemir nur zu gut kennt. Auf der "Sternenhöhe" entblättert er die Taktik seiner Gegner:innen. Er, der für ein Recht aller auf gesunde Ernährung kämpfe, gerade für Menschen, die unterprivilegiert sind und wenig Geld haben, sehe sich andauernd mit falschen Behauptungen konfrontiert. Etwa heißt es, er wolle Fleisch verbieten oder Zucker. Kürzlich postete er sogar aus seinem Kühlschrank in der Hoffnung, mit Humor und Sarkasmus weiterzukommen als mit sachlicher Information. Und wenn sich der Grüne, Vegetarier seit seinem 17. Lebensjahr, in Schwung redet, wird es sogar klassenkämpferisch: Ernährungsbedingte Krankheiten korrelierten mit den Einkommensverhältnissen, das zeige der Abgleich des Stadtplans jeder durchschnittlichen Kommune.

Zwei Millionen übergewichtige Kinder

Alle Zahlen, Daten und Fakten sprechen ohnehin für Wiener und Özdemir. Fast zwei Millionen Kinder in Deutschland sind übergewichtig, 80 Prozent von ihnen werden es bleiben als Erwachsene. Schon 2016 hatte die damalige Große Koalition im Rahmen ihrer Nachhaltigkeitsstrategie das Ziel ausgegeben, die Zahlen dürften bis 2030 nicht weiter steigen. Christoph Straub, Medizinprofessor, Volkswirtschaftler und Chef der Barmer Ersatzkasse, verweist allerdings auf die derzeit republikweit fast 200.000 Kinder unter neun Jahren, die "nachweislich adipös" – fettleibig – seien. Fettleibigkeit steigere das Risiko für Folgeerkrankungen wie Diabetes, Bluthochdruck und Herz-Kreislauf-Erkrankungen.

In vielen Städten und Gemeinden ist der Nachholbedarf seit Langem beträchtlich. Schon vor zwei Jahrzehnten verpflichtete die Kultusministerkonferenz Ganztagsschulen, ein Mittagessen zur Verfügung zu stellen – bemerkenswerterweise ohne irgendwelche Anforderungen in Sachen Qualität und Regionalität. Dabei könnte davon gerade die heimische Landwirtschaft profitieren. Bis heute bietet nach einer Untersuchung der Hochschule Niederrhein nur eine einzige von fünf Schulen zumindest "Mischküche" an, eine Kombination aus Fertigkomponenten mit frisch vor Ort zubereitetem Essen. Neun von zehn einschlägigen Kantinen wiesen erhebliche Mängel auf, vom stundenlangen Warmhalten der Speisen für Kinder und Jugendliche bis zum Abfallaufkommen.

Vor vielen Jahren hatte schon der frühere baden-württembergische Ministerpräsident Günther Oettinger (CDU) laut über eine Mitfinanzierung gesunder Angebote durch das Land nachgedacht. Ein konkretes Konzept kam jedoch nie zustande und sein damaliger Generalsekretär Thomas Strobl (CDU) stattdessen auf die Idee, Eltern das Kindergeld zu kürzen, wenn es kein Frühstück gibt: "Wir wollen nicht länger akzeptieren, dass halbverhungerte Kinder in unseren Schulen sitzen", sagte dieser 2009 auf dem Landesparteitag in Friedrichshafen. Daraus wurde – natürlich – nichts. Aber immer wieder wird diskutiert über den Zusammenhang zwischen Lernerfolg und gesunder Ernährung, inzwischen "Brainfood".

Sarah Wiener will Mensa-Essen cool machen

Seit einem Jahrzehnt ist die Stadt Stuttgart hier aktiv. "Die Einkaufsdebatte war schon früher aufgeflammt", erinnern die "Stuttgarter Nachrichten" im Juli 2013. "Es bedurfte aber schon eines Winks mit dem Kochlöffel von Fritz Kuhn, damit das Thema nun richtig heiß wurde." Unter dem Grünen Oberbürgermeister wurde damals für Schulkantinen ein Bio-Anteil von 25 Prozent beschlossen. Eine von der Stadt ab 2019 in Auftrag gegebene Untersuchung zeigt durchaus überraschende Ergebnisse. So ist den Kindern besonders wichtig, ihre Plätze in der Mittagspause frei zu wählen und sich an der Salatbar selber zu bedienen. Nur vier Prozent der befragten Eltern sind der Meinung, dass Bio in Mensen "unnötig teuer" ist. Nur jedes zehnte Kind darf auf seiner Kita oder Schule bei den Speiseplänen mitbestimmen. Und als "cool" gilt das gemeinsame Essen nur bei 30 Prozent.

Auch da will Wiener gegensteuern. Sie hat mit der von ihrer Stiftung unterstützten Initiative bisher 1,5 Millionen Kinder erreicht, eine weitere halbe Million sollen hinzukommen in den nächsten zwei Jahren. 28.000 sogenannte Genussbotschafter:innen in 17.000 Einrichtungen, vor allem in Kitas und Schulen, haben eine einschlägige Weiterbildung absolviert. "Wer früh lernt, sich selbst eine gute und geschmackvolle Mahlzeit aus frischen und einfachen Zutaten zuzubereiten, lernt fürs Leben und ist nicht angewiesen auf Fertigprodukte und Fastfood", hofft die 61-jährige EU-Abgeordnete.

Wie bei vielen Themen, die Grüne konkret anpacken, ist der Gegenwind erheblich. Özdemir ruft ein weiteres Mal dazu auf, "raus aus dem Parteienstreit" zu kommen und endlich volkswirtschaftlich statt betriebswirtschaftlich zu denken bei der Frage, wie viel sich die Leute eine gesunde Ernährung kosten lassen sollen. Ralf Nentwich, der Backnanger Grünen-Abgeordnete im Landtag, führt gern die Empfehlungen der Deutschen Gesellschaft für Ernährung ins Feld. Danach käme in Kitas und Schulen beispielsweise höchstens einmal pro Woche Fleisch auf den Tisch. Es sei aber nicht einfach, "mit vielfach belegten Fakten" durchzudringen im Gewirr von Meldungen und Falschmeldungen.

Politischer Gegenwind mit unlauteren Schlagzeilen

Kluge Ideen vom Bürger:innen-Rat Ernährung

56 Seiten stark ist das Gutachten, das der Bürgerrat zu dessen Thema "Ernährung im Wandel: Zwischen Privatangelegenheit und staatlichen Aufgaben" für den Deutschen Bundestag erarbeitet hat. Im Mai 2023 war die Beteiligung von Bürger:innen nach dem Zufallsprinzip gestartet worden, vergangene Woche hat das Berliner Parlament die Ergebnisse diskutiert. An der Spitze der Empfehlungen des Gremiums steht ein kostenfreies Mittagessen für alle Kinder – als "Investition in die Zukunft" und als "Schlüssel für Bildungschancen" angenommen von fast 88 Prozent der 160 Teilnehmenden aus ganz Deutschland. Auf Platz zwei folgt die Einführung eines verpflichtenden staatlichen Labels, um Einkaufen leichter zu machen, vor der ebenfalls verpflichtenden Weitergabe aussortierter, aber noch genießbarer Lebensmittel durch den Einzelhandel.

Deutlich größer ist die Uneinigkeit im Parlament bei der grundsätzlichen Haltung gegenüber dem Bürgerrat: Während SPD-, Grünen-, FDP- und Linken-Abgeordnete dessen Arbeit und Ratschläge ausgesprochen positiv bewerten, treiben die Union "grundsätzliche Zweifel" an der Art der Bürgerbeteiligung um. Schon die Einrichtung des Rats war abgelehnt worden. So sprach CDU-MdB Philipp Amthor von einer "Bürgerlotterie" und davon, dass die Empfehlungen – "einige kluge Ideen sind dabei" – nicht anders behandelt werden könnten "als minderqualifizierte oder genauso qualifizierte Eingaben anderer Bürger". Den öffentlichen Diskurs, die Einbindung der Bürgerschaft, nannte er "herbeiquotierte Deliberation". Es komme "in unserer Demokratie aber auf Argumente an". Seine Parteifreundin Petra Nicolaisen wandte sich sogar gegen das "vermeintlich kostenlose Mittagessen" und gegen "das Konjunkturprogramm zur Steigerung der Politikverdrossenheit". Die Mehrheit im Bundestag will allerdings nicht nur, dass die Umsetzung der Empfehlungen nach und nach angegangen wird, sondern will auch zu weiteren wichtigen gesellschaftspolitischen Fragen nach international und in Baden-Württemberg seit Langem erprobtem Vorbild Bürger:innen-Räte einsetzen.  (jhw)

Die FDP verweigert sich sogar dem in der Berliner Ampel angedachten Werbeverbot für Produkte mit zu viel Zucker, Fett oder Salz zu bestimmten Zeiten im Fernsehen, gerade zur Primetime, und ganz und gar im Netz. Außerdem sollte es nach dem Willen der Bundesregierung eine Werbe-Bannmeile rund um Kitas, Horte und Schulen geben. "Denn Kinder und Jugendliche sehen im Schnitt 16 Mal am Tag eine solche Werbung", sekundierte bereits mehrfach die Vorstandschefin des AOK-Bundesverbands Carola Reimann. Brieflich hat sie sogar den Bundeskanzler gewarnt, ein solches Verbot dürfe nicht scheitern "am Widerstand von Lebensmittel- und Werbewirtschaft". Bauernpräsident Joachim Rukwied darf stattdessen in der "Bild"-Zeitung gegen "diese ewige Ernährungsbevormundung" wettern: "Langsam reicht es."

Wiener reicht es übrigens ebenfalls. Die Köchin und Buchautorin kandidiert im Juni nicht mehr für das Europaparlament. Das Scheitern des Pestizidgesetzes sei bitter für Mensch und Natur, vor allem aber für die Ernährungssicherheit, "auch wenn immer etwas anderes behauptet wird". Hass und Hetze verfolgen Wiener in der digitalen und der realen Welt oder im Echo von Lobbyist:innen wie Verbandsfunktionär:innen. Und im Landtag von Baden-Württemberg. So unterstellte ihr Agrarminister Peter Hauk (CDU), sich als Unternehmerin – "ein Schelm, wer Böses dabei denkt" – für ihren "schnuckeligen kleinen Ökobetrieb von 800 Hektar im Osten der Republik" einen Vorteil herausverhandeln zu wollen. Das sei schon "eine ordentliche Chuzpe".

Umgekehrt wird ein Schuh draus, so wie im Sommer 2013, als Boulevardmedien und Union einträchtig eine massive Kampagne gegen den von den Grünen ins Spiel gebrachten Veggie-Day starteten. Bis heute überwiegen Verdrehungen und Halbwahrheiten die vernünftigen Vorschläge in großen Teilen der Medienwelt. Oder wie der Bad Uracher mit türkischen Wurzeln, Cem Özdemir, in bestem Klartext sagt: "Die, die das Essen von Familien in prekären Verhältnissen nie anrühren würden, die in vornehmsten Lokalitäten die besten Speisen der Welt essen, die haben aber große Zeitungen wie die mit den vier Buchstaben und die schreiben und die kämpfen dafür, dass Arme weiter ungesund leben und früher sterben dürfen."

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