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Stuttgart 21 und Gäubahn

Varianten-Chaos

Stuttgart 21 und Gäubahn: Varianten-Chaos
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In der Frage, was wegen Stuttgart 21 mit der Gäubahn geschehen soll, bricht sich der Irrsinn Bahn. Immer neue Varianten für Alternativstrecken werden aus dem Hut gezaubert, ein offener Brief jagt den nächsten, und nun folgen noch zwei Gäubahngipfel und ein Sonderlenkungskreis. Dabei wäre die beste Lösung auch die einfachste.

Aus Schaden wird man klug, sagt der Volksmund, und anhand der Fernbahnstrecke Gäubahn lässt sich der im Spruch beschriebene Prozess ganz gut illustrieren. Wenn auch nur für einen Teil der Akteure. So hatten die Kommunen, die Anrainer der Gäubahn sind, bei der Volksabstimmung zu Stuttgart 21 im Jahr 2011 fast alle mit überdurchschnittlich hohen Werten gegen einen Ausstieg des Landes aus der S-21-Finanzierung und damit für das Projekt gestimmt: Weil die Menschen von den Pro-S-21-Argumenten überzeugt worden waren, ohne S 21 werde nicht nur Stuttgart, sondern ganz Baden-Württemberg vom Fernverkehr abgehängt, doch mit werde alles viel besser.

Doch nun haben die Kommunen den Schaden, beziehungsweise, er steht ihnen bevor: Die Gäubahn soll wegen Stuttgart 21, hielte die Bahn ihren Zeitplan, ab 2025 für mehrere Jahre vom Stuttgarter Hauptbahnhof abgekoppelt werden. Und Tuttlingens OB Michael Beck (CDU) ist überzeugt: "Würde man heute abstimmen, würde sich bei uns und in vielen anderen Landkreisen der Stimmenanteil geradezu umkehren – S 21 würde wohl nicht mehr gebaut werden." Denn statt einer "baldigen Verbesserung" hätten die Kreise "auf unbestimmte Zeit eine extreme Verschlechterung der Bahn-Anbindungen zu erwarten", schrieb Beck vergangene Woche in einem Brandbrief.

Gäubahntrasse ist Stuttgart 21 im Weg

Die Gäubahn, die momentan noch über die am Rand des Stuttgarter Talkessels geführte Panoramabahn den Hauptbahnhof anfährt, hat im Rahmen der S-21-Planungen eine Sonderstellung: Während die übrige, "alte" Bahninfrastruktur rund um den Stuttgarter Kopfbahnhof auch nach Inbetriebnahme von S 21 bestehen bleiben soll, bis der Tiefbahnhof seine Testphase bestanden hat, ist dies bei der Panoramabahn nicht der Fall. Denn ihre Gleise sind der im Zuge von S 21 leicht geänderten S-Bahn-Führung über die neue Haltestelle Mittnachtstraße im Weg. Eine Rampe, über die die Gäubahnzüge jetzt in den Hauptbahnhof kommen, soll deshalb einige Monate vor der S-21-Eröffnung abgerissen werden. Ursprünglich waren für diese Unterbrechung nur vier bis sechs Monate vorgesehen, aber Anfang 2019 wurde eingeräumt, dass wegen Planungsverzögerungen bei der neuen S-21-Gäubahnführung über den Flughafen die Unterbrechung eine mehrjährige sein wird. Mittlerweile ist die alte Planung dieses Abschnitts de facto aufgegeben, stattdessen soll sie durch den 11,5 Kilometer langen Pfaffensteigtunnel ersetzt werden. Der Tunnel würde das größte Problem der alten Planung, den extrem verspätungsanfälligen Mischverkehr von Fern- und S-Bahnen, zwar vermeiden, wohl hat er aber viele neue: Er wird sehr teuer werden, sein Bau verursacht enorme Treibhausgasemissionen – und der Zeitpunkt seiner Fertigstellung steht in den Sternen, die Schätzungen liegen zwischen in sechs und in 15 Jahren.  (os)

Adressat der wütenden Zeilen war Stuttgarts OB Frank Nopper (CDU). Denn der und die Mehrheit des Stuttgarter Gemeinderats wollen nicht, dass die Gäubahn auch nur interimsweise weiter über die alten Gleise in den Hauptbahnhof geführt wird – auch wenn dies technisch problemlos machbar sei und nicht viel Geld kosten würde, wie die Bahn selbst in einer Studie dargestellt hat. Aber diese Interimslösung auf unbestimmte Zeit – bis die S-21-Alternativstrecke fertig ist – würde die städtebaulichen Pläne der Stadt torpedieren, die eine Bebauung der alten Gleisflächen vorsehen.

Verhärtete Fronten

Die Fronten scheinen verhärtet. Schon seit 2020 machen sich Bürgermeister und Landräte entlang der Gäubahn in offenen Briefen und Schreiben an Landesverkehrsminister Winfried Hermann (Grüne) für die Interimslösung stark. Aktuell wieder verstärkt: Während die Gemeinderäte mehrerer Anrainer-Kommunen sowie der Regionalverband Schwarzwald-Baar-Heuberg in den letzten Wochen Resolutionen gegen die Abkopplung verabschiedeten – "1,4 Millionen Bürger dürfen nicht abgehängt werden" –, wird in Stuttgart seit Langem mit ganz anderen Zahlen argumentiert: Es gebe 4.500 Menschen in Stuttgart, die auf eine Wohnung warteten, sagte etwa Baubürgermeister Peter Pätzold (Grüne) im Juli 2020, "und denen soll ich jetzt erklären: dafür kriegt ihr eine bessere Schienenverbindung ins Gäu?" Verändert hat sich diese Haltung der Stadtspitze seitdem nicht, und zwischen Pätzold und Nopper passt in dieser Frage kein Blatt Papier. Zwischen Pätzold und seine Parteifreund:innen im Stuttgarter Gemeinderat, in der Regionalversammlung und der Landesregierung dürften es hingegen ein paar Stapel sein.

Die Übersicht erschwerend kommt bei der Gäubahn hinzu, dass es bei ihr in Zusammenhang mit S 21 um zwei strittige Fragen geht. Die eine: Wird eine durchgehende Führung der Gäubahn bis zum Stuttgarter Hauptbahnhof aufrechterhalten bis eine Alternativstrecke fertig ist? Die andere: Wird der Gäubahn-Abschnitt zwischen Stuttgart-Vaihingen und Hauptbahnhof, die Panoramabahn, unabhängig von einer Alternativstrecke dauerhaft erhalten?

Relevant für beide Fragen sind drei kürzlich veröffentlichte, unabhängig voneinander in Auftrag gegebene Gutachten, die alle zum Schluss kamen, dass die Bahn die Panoramatrasse nicht einfach stilllegen kann, sondern dies erst beim Eisenbahnbundesamt (EBA) beantragen muss, und dann müsse die Strecke auch anderen Bahnbetreibern angeboten werden (Kontext berichtete). Eine Sicht, die vergangene Woche auch im Verkehrsausschuss des Bundestages bestätigt wurde, wo die Linksfraktion die Frage aufs Tapet gebracht hatte.

Gipfel-Inflation: Chefsachen für Nopper und Theurer

Eines dieser Gutachten in Auftrag gegeben haben die Anrainer-Kommunen, die vor allem die Frage der interimsweisen Weiteranbindung beschäftigt. Um die verhärteten Fronten aufzuweichen, wird es demnächst gleich zwei Gipfel mit Vertretern der Anrainer-Kommunen geben: einen in Stuttgart am 14. Juli und einen in Böblingen am 19. Juli. Den Böblinger Gipfel gab in der vorletzten Juniwoche Michael Theurer (FDP und Ex-OB von Horb) bekannt, der neue Bundesverkehrsstaatssekretär. Eine Woche später verkündete dann Stuttgarts OB Frank Nopper (CDU), es werde auch im Rathaus der Landeshauptstadt einen Gäubahn-Gipfel geben.

Zu besprechen gäbe es für die Kommunen durchaus unterschiedliches. Denn Nopper, Pätzold und die Mehrheit des Stuttgarter Gemeinderats lehnen zwar bislang eine auch nur interimsweise Weiterführung der Gäubahn bis zum Hauptbahnhof kategorisch ab, doch noch größer ist im Gemeinderat die Mehrheit dafür, den Abschnitt der Panoramabahn bis zu einem noch zu bauenden "Nordhalt" nahe des Nordbahnhofs in Stuttgart weiterzuführen. Das brächte ein paar mehr Anschlussmöglichkeiten, aber eben keinen Direktanschluss an den Hauptbahnhof, weswegen die Gäubahn-Anrainer diese Variante ebenso kategorisch ablehnen.

In Böblingen wiederum treffen sie mit Theurer auf einen Vertreter der Bundesregierung, die sich bei Stuttgart 21 bislang nie gegen die DB gestellt hat. Und die DB hat an einer interimsweisen Weiterführung der Panoramabahn – auch nur bis zu einem Nordhalt – keinerlei Interesse, solange sie hier keine Finanzierungszusagen hat.

Alternativstrecken-Inflation: via Tübingen? Renningen?

Theurer aber hat als Vertreter der Bundesregierung und einer S 21 bejubelnden Partei sowie als Ex-OB einer Anrainer-Kommune eine besondere Haltung: Eine Kappung der Gäubahn halte er "für eine Katastrophe", ließ der Liberale im April verlauten. Doch seine Lösung für dieses Problem ist nicht etwa die interimsweise Weiterführung auf der alten Strecke, sondern eine ganz neue Streckenvariante: Der Fernverkehr aus Richtung Zürich nach Stuttgart könne von Horb über die Neckartalbahn nach Tübingen und von dort nach Stuttgart geführt werden. Die Fahrzeit verlängere sich damit um elf Minuten, so Theurer. Kritiker gehen eher von 20 Minuten aus.

In Theurers eigener Partei sind nicht alle begeistert. Denn Böblingen und Herrenberg würden abgehängt, weswegen die FDP-Landtagsabgeordneten Hans Dieter Scheerer aus Leonberg und Daniel Karrais aus Rottweil stattdessen eine Führung von Böblingen über die Rankbachbahn bis Renningen und von dort auf den Gleisen der S-Bahnlinie S6/60 bis zum Stuttgarter Hauptbahnhof favorisieren. Renningen liegt wie Herrenberg in Scheerers Wahlkreis.

Karrais und Scheerer versuchten am vergangenen Freitag, ihrem "konstruktiven Vorstoß" eine breitere Öffentlichkeit zu verschaffen, und adressierten ihn in einem Schreiben an die Mitglieder des Bundestages und des baden-württembergischen Landtags. Als Unterzeichner:innen konnten sie aus beiden Kammern dabei nicht nur Parlamentarier:innen der FDP gewinnen, sondern auch der SPD, darunter deren Bundesvorsitzende Saskia Esken.

VCD: beide Vorschläge ungeeignet

Kritik an beiden Vorschlägen ließ nicht lange auf sich warten. Der Grünen-Landtagsabgeordnete Hermino Katzenstein nannte bei einer Veranstaltung die Tübingen-Variante "die schwachsinnigste Idee seit Erfindung der Eisenbahn". Auch der Verkehrsclub Deutschland (VCD) lässt kein gutes Haar an den Vorschlägen. Dessen baden-württembergischer Landesvorsitzender Matthias Lieb nennt beide ungeeignet – zum einen wegen der längeren Wege und damit grundsätzlicher verkehrspolitischer Überlegungen: "Die Gäubahn wurde bewusst als Abkürzungsstrecke gebaut", so Lieb, "um auf direktem Weg, ohne Umweg über Tübingen einerseits oder Renningen andererseits, Richtung Bodensee und Schweiz fahren zu können." Wer nun diese Umwege ins Spiel bringe, während die Autobahn auf direktem Wege zum Ziel führe, stärke nicht die Eisenbahn, sondern begünstige das Autofahren.

Aber auch fachlich seien beide Vorschläge ungeeignet, so Lieb. Die Strecke nach Tübingen müsste umfangreich ausgebaut werden, weswegen es mindestens zehn Jahre dauern würde, "bis die Strecke genutzt werden könnte. Böblingen, aber auch Freudenstadt wären abgehängt". Diese Nachteile seien überdies schon beim Filderdialog 2012 identifiziert worden und würden weiterhin gelten. Auch die Strecke über Renningen sei vor Jahren schon untersucht und verworfen worden. Ihre Nachteile: Die Gäubahnzüge müssten in Feuerbach enden, "eine Fahrt zum Hauptbahnhof wäre aus Kapazitätsgründen auf der Fernbahnstrecke von Zuffenhausen zum Hauptbahnhof nur nachts möglich". Und außerdem müsste auf der Linie S6/60 wegen der zusätzlichen Gäubahnzüge der S-Bahn-Fahrplan ausgedünnt werden, so Lieb. An dieser Stelle sei daran erinnert, dass nicht zuletzt wegen des Mischverkehrs aus S- und Fernbahnen die für S 21 ursprünglich geplante Gäubahnführung zum Flughafen bislang nicht planfestgestellt werden konnte.

Gäubahn-Anrainer vs. Neckartalbahn-Anrainer

Auch die Anrainer-Kommunen der Gäubahn lehnen die Vorschläge bislang kategorisch ab – während wiederum die Anrainer der Oberen Neckartalbahn die Variante via Tübingen begrüßen. In einem offenen Brief an Landesverkehrsminister Hermann äußerten vergangene Woche die Landräte der Region Neckar-Alb und die Oberbürgermeister von Reutlingen, Rottenburg und Tübingen – letzterer ist der Grüne Boris Palmer, früher als so scharfer wie kundiger S-21-Kritiker bekannt – Unterstützung für den Vorschlag Theurers. Die Strecke Horb–Tübingen werde für die Regionalstadtbahn sowieso elektrifiziert, so die Argumentation, und wenn die DB die Strecke noch zusätzlich ausbaue, könne sie für den Fernverkehr genutzt werden. Die Freunde der Tübinger Variante versprechen sich davon einen zusätzlichen Schub für Ausbauplanungen der Neckartalbahn, und vielleicht gehe auch die Elektrifizierung schneller vonstatten.

Ob und wie sich der Lenkungskreis der S-21-Projektpartner, der am 18. Juli tagt, auch mit der Frage von Gäubahn-Kappung und den Alternativrouten befassen wird, ist offen. Der Stuttgarter Gemeinderat hat OB Nopper jedenfalls den Auftrag gegeben, sich im Lenkungskreis gegen eine Stilllegung der Panoramastrecke starkzumachen. Vordringlich soll es in der Sondersitzung aber um den 11,5 Kilometer langen Pfaffensteigtunnel gehen, durch den die Gäubahn irgendwann einmal zum Flughafen geführt werden soll, anstelle der bislang wegen miserabler Planung nicht genehmigungsfähigen Strecke (Planfeststellungsabschnitt 1.3b). So soll der Finanzierungsvertrag zu S 21 geändert werden, um die bislang für die alte 1.3b-Planung vorgesehenen 270 Millionen Euro auf den neuen Tunnel umzuschichten.

Konfliktstoff wird nicht ausgehen

Fertig finanziert ist er damit freilich nicht. Befürworter gehen von einer Milliarde Euro Gesamtkosten aus, Kritiker von fast der dreifachen Summe. Für dieses Geld müsste der Bund einspringen, was eine Aufnahme des Tunnels in den Bundesverkehrswegeplan erfordert. Was wiederum erfordert, dass das Projekt wirtschaftlich sein muss. Und eine günstige Kosten-Nutzen-Rechnung hatte Theurers Vorgänger Steffen Bilger (CDU) 2021 nur mit einigen Tricks zustande gebracht: indem er den Tunnel in ein größeres Gäubahn-Maßnahmen-Paket packte, das auch Fahrzeitersparnisse durch den Wegfall wichtiger Halte wie Singen und Böblingen beinhaltet (Kontext berichtete). Das wiederum schmeckt den Gäubahn-Anrainern überhaupt nicht. Der Konfliktstoff wird also vorerst nicht ausgehen.

Wie man es dreht und wendet: Die einfachste, billigste und verkehrlich sinnvollste Variante ist und bleibt der dauerhafte Erhalt der Panoramastrecke. Landesverkehrsminister Winfried Hermann hat dazu seit Jahren eine klare Haltung: "Angesichts der Klimaveränderung und der nötigen Verkehrswende wirkt es aus der Zeit gefallen, eine innerstädtische Schienenstrecke mit hohem Fahrgastpotenzial stillzulegen", sagte er vergangene Woche. Am heutigen Mittwoch will er eine neue Studie seines Ministeriums zur Panoramabahn vorstellen.


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7 Kommentare verfügbar

  • Stefan Weidle
    am 16.07.2022
    Antworten
    Ich komme aus einem der anrainenden Gebiete und um zu verstehen wie es so weit kommen konnte, muss man wissen, wie banal die einstige Entscheidung der "Anrainer" pro S21, zustande gekommen ist.
    Der gemeine Konservative, der in meinen hiesigen Kulturkreis die mit großem Abstand am Häufigsten…
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