Überraschung! Die Deutsche Bahn ist marode. Wer hätte das gedacht. Und ihre jüngste Faulstelle ist ausgerechnet Stuttgart. Der Oberleitungsschaden vom Samstag hat die Gleisanlage, von der behauptet wird, sie sei ein Hauptbahnhof, lahmgelegt. So weit, so ärgerlich, so chaotisch. Wurden vor zehn Jahren Reisende noch sauer, wenn es mit der Bahn mal nicht klappte, zeigen sie heutzutage eine erstaunliche Gelassenheit. Der Mensch ist halt ein Gewohnheitstier, und wer lange genug Verspätungen, Zugausfälle, kaputte Türen, ausgefallene Klimaanlagen und gesperrte Toiletten erlebt hat, wundert sich eher, wenn mal was funktioniert. Jüngst hatte eine unserer Redakteurinnen Besuch aus Ägypten. Der Kollege fuhr eifrig mit den Öffentlichen. "Die S-Bahn heute ist ausgefallen!", erzählte er eines Abends erstaunt. "Wie in Ägypten." Und fügte hinzu: "Warum?"
Das Warum ist allgemein bekannt. Das Streckennetz der Bahn wurde nicht gewartet – dafür dürfen wir uns bei der Regierung Kohl-Genscher bedanken, die 1993 aus DB und RB die Deutsche Bahn AG machte. Abgesegnet von einer überwältigenden Mehrheit im Bundestag, gerade mal 13 Abgeordnete stimmten mit Nein. Die folgenden Regierungen – erst unter Kohl, dann unter Merkel – kümmerten sich ebenfalls eher nicht um die Bahn. Jedenfalls nicht darum, sie voranzubringen. Sehenden Auges schauten die Verkehrsminister (egal ob CDU, SPD oder CSU) dabei zu, wie das Unternehmen auf Verschleiß fuhr. Ja, auch das ist nix Neues.
Okay, das Stuttgarter Stellwerk, das am Samstag von der herabstürzenden Oberleitung getroffen wurde, ist 44 Jahre alt und wurde nicht mehr gepflegt, weil es ja 2025 stillgelegt werden sollte wegen – genau: Stuttgart 21. (In Sachen Gäubahn übrigens bricht mittlerweile der Irrsinn durch.) Nun fehlen Ersatzteile, und gerüchteweise suchen engagierte Bahnbeschäftigte in Kellern und auf Dachböden nach alten Beständen. Da ist zu hoffen, dass möglichst viele ehemalige Reichsbahn-Mitarbeiter:innen noch bei der DB AG arbeiten. Denn diese Kolleginnen und Kollegen aus der ehemaligen DDR haben Erfahrung mit Materialmangel und können aus nahezu nichts funktionierende Ersatzteile basteln.
Schluss damit machen will ausgerechnet der aktuelle Verkehrsminister Volker Wissing von der FDP. Er hat angekündigt, das Bahnnetz zu erneuern. Das wäre echt gut. Und echt erstaunlich. Wollte die FDP vor ihrem Eintritt in die Regierungskoalition doch noch die Bahn in viele kleine Teile zerschlagen und endlich komplett privatisieren. Weil der Markt, man weiß es, ja alles so super regelt. Aber auch einem FDPler sei Einsichtsfähigkeit zugetraut. Vielleicht passiert ja tatsächlich was. Die Erneuerung des Schienennetzes gelingt natürlich nur, wenn es Menschen gibt, die es bauen. Stichwort: Personalmangel. Auf dem Bau und bei der Bahn. Jüngst, auf einer nächtlichen Fahrt von Heidelberg nach Stuttgart, in einem sehr vollen Zug, der vorhergehende war ausgefallen, erzählte eine mitteilsame Zugbegleiterin unserer Redakteurin: "Letzte Woche haben auf einen Schlag fünf Lokführer und noch sieben Kollegen gekündigt." Am Geld liege es nicht, "man verdient bei der Bahn ganz gut", sagte sie. Doch der Stress sei zu groß. Und je weniger Mitarbeiter:innen, desto größer der Stress, desto mehr Kündigungen, desto weniger Mitarbeiter:innen und so weiter. Ordentlich bezahlte Arbeitsstellen, die zudem verlässlichere Arbeitszeiten bieten, lassen sich schnell finden, so die junge Frau und verkündete beim Einfahrt in die Stuttgarter Gleishalle noch lächelnd: "In den nächsten zwei, drei Jahren wird das Chaos bei der Bahn übrigens noch schlimmer."
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Peter Meisel
am 13.07.2022Das gleiche Ergebnis haben wir dank Corona an den Krankenhäusern und ihrer Qualität…