KONTEXT:Wochenzeitung
KONTEXT:Wochenzeitung

Auf der Straße

Go to hell

Auf der Straße: Go to hell
|

Datum:

Der größte Irrtum des Gewohnheitskolumnisten ist der Gedanke, es könne jemanden interessieren, was er so treibt. Und gelegentlich ist ihm das scheißegal. Es war am Morgen des Himmelfahrtstags, als ich begann, diese Zeilen zu tippen. Am Abend zuvor hatten die Bayern das Champions-League-Halbfinale bei Real Madrid mit 1:2 verloren, und ich sagte mir: "Alter Mann, mach dir nichts mehr draus, wenn du auf dieser Welt zu Unrecht ins Abseits gestellt wirst. Eines Tages wird auch der Schiedsrichter im Jenseits landen." Diese philosophische Erleuchtung kam mir, als ich zum schnelleren Aufwachen die Metal-Sparte des französischen Internetradios FIP einschaltete. Da lief gerade "Go to Hell" von Motörhead.

Als Spaziergänger lande ich zurzeit ununterbrochen im Inferno. Es ist Wahlkampf, sie sagen, ein schicksalhafter. Die Kämpferinnen und Kämpfer haben die Stadt in einen Schilderwald des Grauens verwandelt. Es kommt mir vor, als würden mich die Plakate anschreien vor Schmerz, weil sie da hängen müssen. Dagegen klingt Lemmys Motorkopf-Stimme wie Engelsgesang nach einer Himmelfahrt. Eines der Kunststoffposter brüllt wie am Spieß: "Sicherheit" – und nur wenige Meter weiter, wo das abgelichtete Gesicht eines Stadtrats namens Alexander Kotz zur Schau gestellt wird, blökt ein weiteres: "Für Sicherheit. Immer und überall." Auch im Wissen, dass mein Privatleben alle Welt einen Dreck interessiert, muss ich es noch loswerden: Dieser mit tödlicher Sicherheit strunzdumme Immer-und-überall-Spruch ging mir durch den Kopf, als ich am Himmelfahrtstag auf die oberste Stufe meiner Bockleiter steigen musste, um noch vor dem Frühstücksmüsli einen nächtens verendeten Deckenstrahler auszuwechseln. Ich kämpfte mit meiner Höhenangst, während Lemmy mit betörender Hingabe mir den Weg wies: Fahr zur Hölle!

"Freiheit" oder "Irgendwas"

Mögen es die Harten unter uns für kokett halten, wenn ich immer wieder auf meinen natürlichen Verfall hinweise. Für mich wiederum ist beruhigend, dass dieses Problem auch auf höherer intellektueller Ebene behandelt wird. Nur ein paar Tage vor Paul Austers Tod am 30. April in Brooklyn hatte ich zufällig "Baumgartner", seinen letzten Roman, zu Ende gelesen. Es geht um einen Mann, der die Siebzig überschritten hat. Ich musste keinen Bleistiftstrich machen, um später eine entscheidende Stelle wiederzufinden: auf Seite 111, eine Zahl, die man sich trotz schwindendem Kurzzeitgedächtnis noch merken kann. Eines Tages bleibt Baumgartners Blick nicht nur an seiner "kleinen Wampe hängen, zu der sich sein einst flacher Bauch entwickelt hat". Er bemerkt auch, "dass der Reißverschluss seines Hosenstalls nicht wie erwartet zugezogen ist, sondern offen steht, weit offen". Und er erinnert sich, wie früher seine älteren Freunde "an ihren Tisch im Restaurant zurückkehrten, ohne sich des offenen Scheunentors unterhalb ihres Gürtels bewusst zu sein".

Nur noch darum geht es eines Tages, und dann ist gepfiffen auf das offene Scheunentor einer Partei, aus dem uralte Parolen kommen. Auf einem ihrer Plakate steht einsam das Wort "Freiheit". Den bewährten Zusatz "statt Sozialismus!" hat sie sich diesmal gespart, weil ihr Anhang diesen Begriff ohne das vorgeschaltete "National" womöglich nicht mehr deuten kann.
Eigentlich sind Wahlkampfparolen unwichtig, ihren wahren Sinn und Zweck legt ein sehr gutes Plakat der Partei Die Partei in drei Silben offen: "Irgendwas". Darum geht es. Es steht alles schon fest. Und nur wer keinen Humor hat, muss sich ersatzweise an Propaganda-Obszönitäten wie den "gesunden Menschenverstand" klammern.

In 800 Jahren mit Merz in der Hölle

Bald so alt wie Baumgartner, wenn auch nicht so weise, bin ich immer mehr davon überzeugt, dass die Beschäftigung mit Politik nur noch dann ein halbwegs lebenswertes Leben zulässt, wenn sie sich im satirischen Bereich bewegt. So wahr ich angesichts meines Alterns ab sofort Sicherheit & Freiheit meines Hosenstalls mit aller rechtsstaatlichen Schärfe kontrollieren werde.

"Altern wird wahrscheinlich bald heilbar", verspricht im Wahlkampf die Partei für schulmedizinische Verjüngungsforschung. Das glaub ich gern, allerdings kann ich die plakative Frage "Wo willst Du in 800 Jahren leben?" nur schwer beantworten, da meine Himmelfahrt im Go-to-hell-Programm vermutlich auf einen etwas früheren Termin angesetzt wurde. In 800 Jahren wäre ich womöglich im Tausendjährigen Reich. Oder unter einem achthundertachtundsechzigjährigen Kanzler Merz in der Hölle.

Dem Stadtspaziergänger schadet es gesundheitlich, wenn er sich gedanklich im Horrordschungel der Parteischilder verirrt. In seinem Hirn muss er frei bleiben für Gedankensprünge. Was soll ich beispielsweise mit diesem umwerfend stabgereimten Wahlversprechen anfangen: "Für Kultur von Punk bis Poesie". Punk-Poesie oder Poesie-Punk? Der Trend geht zur Kultur von Hausmusik bis Hula-Hoop. Meine Meinung.

Bei dem Wort "Kultur" bekomme ich Magenschmerzen. Ständig lese ich Plakate wie dieses in der Nähe unserer Bahnhofsruine: "Kultur trifft Bau", heißt es da in der Ankündigung eines Gruben-Events, präzisiert mit den Schlagwörtern: "Kultur, Musik, Tanz". Musik und Tanz gehören demnach zu einer anderen Kultur als die Kultur. Vielleicht zur Fehlerkultur, zur deutschen Leitkultur oder internationalen Fruchtjoghurtkultur. Die neuen Nazis haben mit "Kultur" übrigens ihr nicht mehr ganz so cooles Wort "Rasse" ersetzt. Man sieht: Unsere Kultur ist vielfältig.

Spazierenschlafen als ultimative Lebenskultur

Zu unserer verbliebenen Kultur mit Musikkultur, Kulturmusik und Kulturkultur gehört neben dem Punk auch die sogenannte Klassik, ein Begriff, den der New Yorker Publizist und Kritiker Alex Ross nach eigenen Worten hasst. Sobald die Leute das Wort "klassisch" hörten, schreibt er in seinem Buch "Listen to This", dächten sie automatisch an "tot". Das kann ich nicht genau beurteilen, da dieser Denk-Automatismus in meinem Alter in ganz verschiedenen Fällen auftaucht.

Neulich hörte ich in einer Kirche ein Brahms-Konzert, in dem Schauspieler zwischendurch aus dem Briefwechsel von Clara Schumann und Johannes Brahms vorlasen. Botschaften in betörend schöner Sprache (im Part des Mannes übrigens nicht immer ganz frei von lustiger Punk-Poesie). Eine Stelle mit einer mir unbekannten Wortschöpfung beeindruckte mich zutiefst. Sie wird mein Leben verändern. Irgendwann teilte Herr Brahms der verehrten Frau Schumann mit, in Italien liege er in so wunderbar großen Betten: Darin könne er sogar "spazierenschlafen".

Das ist die Lösung. Diese schwerkraftlose Bewegungstechnik ohne Schuhwerk macht mir mehr Hoffnung als der Laden für schulmedizinische Verjüngungsforschung. Ich brauche jetzt zügig ein italienisches Bett – und muss dann nur noch etwas gegen meine Albträume tun: ab sofort an allen Wahlplakaten mit geschlossenen Augen vorbeigehen. Angesichts der Stuttgarter Stadtkultur könnte dieser Plan zwar in einem klassischen Tod in unserer hochkalibrigen Autokultur enden. Meine erfolgreich absolvierte Bockleiterbesteigung ohne Netz stimmt mich allerdings leicht optimistisch.

Schlafspazieren ist die ultimative Lebenskultur auf dem Weg des Fortschritts. Sie wird mich weiterbringen als diese ganze verdammte Herumgeherei. Was soll dieser blöde Schrittzähler auf dem Taschentelefon. Nie mehr die dreckige Luft des Kessels im Freien atmen. Nie mehr wegen eines weit geöffneten Hosenstalls vor Scham erröten. Vor dem Schnarchengehen werde ich die Briefe von Clara und Johannes lesen, sodann in einem Himmel voller Arschgeigen herumstiefeln und die Bockleiter zum Vollmond hinauftänzeln – als wäre Himmelfahrt.

Und ich sage euch: Es ist etwas passiert, fucking hell. Irgendwas.

Wir brauchen Sie!

Kontext steht seit 2011 für kritischen und vor allem unabhängigen Journalismus – damit sind wir eines der ältesten werbefreien und gemeinnützigen Non-Profit-Medien in Deutschland. Unsere Redaktion lebt maßgeblich von Spenden und freiwilliger finanzieller Unterstützung unserer Community. Wir wollen keine Paywall oder sonst ein Modell der bezahlten Mitgliedschaft, stattdessen gibt es jeden Mittwoch eine neue Ausgabe unserer Zeitung frei im Netz zu lesen. Weil wir unabhängigen Journalismus für ein wichtiges demokratisches Gut halten, das allen Menschen gleichermaßen zugänglich sein sollte – auch denen, die nur wenig Geld zur Verfügung haben. Eine solidarische Finanzierung unserer Arbeit ermöglichen derzeit 2.500 Spender:innen, die uns regelmäßig unterstützen. Wir laden Sie herzlich ein, dazuzugehören! Schon mit 10 Euro im Monat sind Sie dabei. Gerne können Sie auch einmalig spenden.


Gefällt Ihnen dieser Artikel?
Unterstützen Sie KONTEXT!
KONTEXT unterstützen!

Verbreiten Sie unseren Artikel
Artikel drucken


0 Kommentare verfügbar

Schreiben Sie den ersten Kommentar!

Kommentare anzeigen  

Neuen Kommentar schreiben

KONTEXT per E-Mail

Durch diese Anmeldung erhalten Sie regelmäßig immer Mittwoch morgens unsere neueste Ausgabe unkompliziert per E-Mail.

Letzte Kommentare:






Die KONTEXT:Wochenzeitung lebt vor allem von den kleinen und großen Spenden ihrer Leserinnen und Leser.
Unterstützen Sie KONTEXT jetzt!