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Bildung

Keine Wunderwaffe gegen Armut

Bildung: Keine Wunderwaffe gegen Armut
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Die soziale Ungleichheit in Deutschland steigt und gerne wird dann aus der Politik und auch Arbeitgeberlagern erklärt: Bessere Bildung würde das ändern. Stimmt das? Unser Gastautor, der Politikwissenschaftler Christoph Butterwegge, hat Zweifel.

In der politischen Fach- und Medienöffentlichkeit unseres Landes gilt die Forderung nach Umverteilung des privaten Reichtums als historisch überholt und ideologisch verstaubt, obwohl das Volksvermögen so groß und die Kluft zwischen Arm und Reich so tief ist wie nie zuvor. Bildung und Beschäftigung werden hingegen meist als die entscheidenden Hebel propagiert, um prekäre Lebenslagen hinter sich zu lassen. Viel entscheidender als die gleichmäßigere Verteilung von Geld sei, dass die Menschen einen gleichberechtigten Zugang zu den Bildungsinstitutionen und zum Arbeitsmarkt erhalten, lautet das neoliberale Credo, welches große Zustimmung findet. Schließlich entspricht es der Lebenserfahrung vieler Menschen, dass man durch eigenen Fleiß, harte Arbeit und beharrliche (Weiter-)Bildungsanstrengungen sozial aufsteigen kann. Entscheidend ist jedoch die Frage, ob es sich dabei um eine verallgemeinerbare und für die Gesamtgesellschaft tragfähige Lösung des Problems der gravierenden Einkommens- und Vermögensunterschiede handelt.

Kaum ein Wahlprogramm, kaum eine Politikerrede und kaum ein Diskussionspapier der etablierten Parteien, von öffentlichen Verlautbarungen der Unternehmerverbände ganz zu schweigen, kommt ohne die Botschaft aus, dass "Aufstieg durch Bildung" möglich und die Letztere der Garant beruflichen Erfolgs, privaten Wohlstandes und (volks)wirtschaftlichen Wachstums sei. Unbestritten ist, dass man aufgrund der erfolgreichen Bewältigung von (Aus-)Bildungsprozessen einer schwierigen Lebenslage entkommen und beruflich Karriere machen kann. Solche individuellen Bildungsaufstiege waren übrigens selbst in früheren Jahrhunderten möglich, wenn junge Männer – Frauen blieben davon jahrhundertelang weitgehend ausgeschlossen – zur richtigen Zeit am richtigen Ort waren. Nur bieten Bildungserfolge einzelner Personen diesen weder eine Garantie auf einen gut dotierten Job noch eine gesamtgesellschaftliche Lösung für das Problem der Ungleichheit, der Armut und der sozialen Ausgrenzung ganzer Bevölkerungsgruppen.

Aufgrund der sich zuletzt häufenden Krisen ist die Hoffnung, durch eigene Bildungsanstrengungen sozial aufzusteigen und sich fest in der Mittelschicht zu etablieren, überdies der Angst vieler Mittelschichtangehöriger gewichen, trotz guter Ausbildung und harter Arbeit sozial abzusteigen. Dennoch wird häufig so getan, als könnten alle Menschen durch eigene Bildungsanstrengungen reüssieren. Folglich drängt sich die ideologiekritische Frage auf, wem der Mythos einer Bildungsmeritokratie nützt und welchen Bevölkerungsgruppen damit Sand in die Augen gestreut wird. Es handelt sich hierbei um eine populäre Aufsteigerideologie, mit der Arme angehalten werden, ihre (Bildungs-)Karriere durch Selbstoptimierung eigenständig und eigenverantwortlich zu organisieren, anstatt sich für kollektive, solidarische Lösungsansätze zu engagieren. Nicht die gesellschaftlichen Verhältnisse, Wirtschaftsstrukturen und Privilegien müssten demnach angetastet, sondern nur das Verhalten der einzelnen Individuen angepasst werden.

Ablenken vom Umverteilen

Die starke Fokussierung auf Bildung verführt zu dem Fehlschluss, dass Armut und soziale Ungleichheit primär Qualifikationsdefiziten ethnischer Minderheiten und Migrant:innen ohne deutsche Sprachkenntnisse geschuldet seien, während in Wirklichkeit der Mangel an materiellen Ressourcen bei Einheimischen gleichfalls zu Bildungsbenachteiligung führt. Strategisch erzeugt die Fixierung auf Bildung den kulturalistischen Irrglauben, dass Armut und soziale Ungleichheit nur durch sie mit Erfolg bekämpft werden könnten. Auf diese Weise wird von der Notwendigkeit abgelenkt, Maßnahmen der Umverteilung des privaten Reichtums zu ergreifen, damit sich die Kluft zwischen Arm und Reich schließt.

Selbst der französische Ökonom Thomas Piketty überschätzt die Bedeutung der (Schul-)Bildung für den sozioökonomischen Ausgleich, hat er doch eine "egalitäre Bildungspolitik" als Musterbeispiel "effizienter Umverteilung" bezeichnet. In dieselbe Richtung wies das Jahresgutachten 2016/17 des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, welches unter dem Titel "Zeit für Reformen" statt einer Wiedererhebung der Vermögensteuer die Einführung eines verpflichtenden Vorschuljahres empfahl: "Eine zielgerichtete Bildungspolitik kann helfen, die Verfestigungen in Einkommens- und Vermögenspositionen in der langen Frist zu reduzieren. Dabei ist der Fokus auf die Verbesserung der Chancengerechtigkeit zu legen, die zu verbesserten Bildungsmöglichkeiten und -ergebnissen führt." Eine gute Bildung ist jedoch ohne materielle Umverteilung kaum realisierbar, weil Letztere die unabdingbare Voraussetzung für eine bessere Sach- und Personalausstattung der öffentlichen Schulen darstellt.

Wer die Schulbildung trotzdem als Mittel der Armutsbekämpfung favorisiert, darf eigentlich weder ihre Ökonomisierung, Privatisierung und Kommerzialisierung betreiben, noch irgendwelche Bildungsbarrieren für Kinder aus sozial benachteiligten Familien errichten. Kontraproduktiv sind vor diesem Erklärungshintergrund beispielsweise die Förderung von Privatschulen, die Einschränkung bzw. Abschaffung der Lernmittelfreiheit, die Schließung von Schulbibliotheken aus Kostengründen oder die Errichtung einer Bezahlschranke im Hochschulbereich durch (Wieder-)Einführung von Studiengebühren. Schließlich schmälert alles, was die Kinder "bildungsferner" Familien von höherer Bildung abhält, ihre Chancen auf beruflichen Erfolg und ein adäquates Gehalt im weiteren Lebensverlauf. Konservative und Neoliberale, die trotzdem wie beschrieben handeln, nähren das rechtspopulistische Klischee vom heuchlerischen, hinterhältigen und machthungrigen Politiker.

Millionenerben können auch ungebildet sein

Trotz unübersehbarer Korrelationen zwischen der Bildungsexpansion und der sozialen Polarisierung im Gegenwartskapitalismus ist die parallel verlaufende Spreizung von Einkommen und Vermögen einerseits sowie von Bildungsgütern andererseits nie zum Thema einer öffentlichen Debatte geworden. Dabei folgt die akademische Exzellenz im Aufstieg des neoliberalen Diskurses der ökonomischen Elite und dem Geldadel. Die wachsende Ungleichheit im Bildungswesen wird mit ähnlich strukturierten Argumenten gerechtfertigt wie die sich vertiefende Kluft zwischen Arm und Reich. Man legitimiert sie durch ihren Nutzen für das Gemeinwohl, der sich durchaus in Zweifel ziehen lässt.

Bildung versagt als sozialer Gleichmacher ebenso wie als Wunderwaffe im Kampf gegen die Armut. Das gilt für Deutschland, Österreich und die Schweiz wegen ihres gegliederten Schulsystems noch mehr als für andere entwickelte Industriestaaten. Maßnahmen direkter steuerlicher und sozialstaatlicher Umverteilung sind erheblich wirkungsvoller als indirekte, das Bildungssystem betreffende Maßnahmen.

Bildung ist weder ein Patentrezept gegen Armut noch eine Grundvoraussetzung zur Vermögensbildung in großem Stil, denn gerade Firmenerben benötigen nicht einmal höhere Bildungsabschlüsse für die Mehrung ihres Reichtums. Wäre die Bildung ein wirksames Mittel gegen Armut, hätte Letztere in den vergangenen Jahrzehnten rückläufig sein müssen. Seit den 1990er-Jahren ist die Armutsrisikoquote in Deutschland jedoch um etwa ein Drittel gestiegen, obwohl zur selben Zeit ein Akademisierungsprozess stattgefunden und der Anteil besser Gebildeter sowie beruflich höher Qualifizierter spürbar zugenommen hat.

Armut verhindert häufig, dass Menschen eine gute Bildung erhalten, aber Bildung verhindert Armut nur im Einzelfall. Als sozialer Egalisator ist Bildung nur begrenzt geeignet, erst recht in einem mehrgliedrigen Sekundarschulsystem, das zu einem frühen Aussondern jener Kinder führt, die wegen ihres materiell schlechter ausgestatteten Elternhauses keine weiterführende Schule besuchen können.

Bessere Bildung nur mit Umverteilung

Weil nicht der Bildungsgrad darüber bestimmt, wer in einer Gesellschaft arm und wer reich ist, sondern die Verteilung der materiellen Ressourcen darüber, wer ungebildet bleibt, lässt sich das Problem der sozioökonomischen Ungleichheit kaum durch einen Ausbau der Bildungseinrichtungen (Kindertageseinrichtungen, Schulen und Hochschulen) allein lösen. Neben einer Verbesserung der sozialen Bildungs- und Betreuungsinfrastruktur ist die Umverteilung von Arbeit, Einkommen und Vermögen nötig. Schließlich kann die Pädagogik weder eine gerechte Steuerpolitik noch eine Armut konsequent bekämpfende Sozialpolitik ersetzen.

Eine bessere materielle und personelle Ausstattung des öffentlichen Schulwesens ist nötig, um die Bildungschancen für Kinder aus sozial benachteiligten Familien zu erhöhen. Manchmal wird die (Schul-)Bildung von Politikern jedoch gar nicht als Instrument zur Bekämpfung der Kinderarmut begriffen, vielmehr als propagandistisches Instrument zur Verhinderung der Armutsbekämpfung missbraucht. Ein aufschlussreiches Beispiel hierfür lieferte das monatelange Tauziehen um die Kindergrundsicherung innerhalb der Ampel-Koalition. In der Kontroverse zwischen Bundesfamilienministerin Lisa Paus und Bundesfinanzminister Christian Lindner um die Ausgestaltung des neuen Leistungssystems plädierte Letzterer zwar wiederholt dafür, das Geld der Steuerzahler:innen lieber in die Bildung der Minderjährigen zu stecken, als es durch Erhöhung des Kinderzusatzbetrages den von Armut betroffenen oder bedrohten Familien direkt zu geben. Um wieder die Schuldenbremse einzuhalten, setzte Lindner den Rotstift bei den Haushaltsberatungen für das Jahr 2024 aber gerade im Bildungsbereich an. Auf diesem Gebiet wird auch sonst wenig investiert: So ließ der Bund die "Sprach-Kitas" auslaufen und halbierte die Mittel für das "Startchancenprogramm", mit dem Schulen in herausfordernden Lagen besser ausgestattet werden sollen.

Wer vorgibt, die Armut vieler Kinder mit einer besseren oder mehr Bildung bekämpfen zu wollen, ohne die dafür erforderlichen Gelder bereitzustellen, lenkt im Grunde nur davon ab, dass eine Umverteilung des vorhandenen Reichtums und eine Umstrukturierung der kapitalistischen Wirtschaft notwendig sind, damit sich die sozioökonomische Ungleichheit verringert.


Prof. Dr. Christoph Butterwegge hat von 1998 bis 2016 Politikwissenschaft an der Universität zu Köln gelehrt und kürzlich das Buch "Deutschland im Krisenmodus. Infektion, Invasion und Inflation als gesellschaftliche Herausforderung" veröffentlicht. Heute erscheint bei Papyrossa sein Buch "Umverteilung des Reichtums".

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