In der politischen Fach- und Medienöffentlichkeit unseres Landes gilt die Forderung nach Umverteilung des privaten Reichtums als historisch überholt und ideologisch verstaubt, obwohl das Volksvermögen so groß und die Kluft zwischen Arm und Reich so tief ist wie nie zuvor. Bildung und Beschäftigung werden hingegen meist als die entscheidenden Hebel propagiert, um prekäre Lebenslagen hinter sich zu lassen. Viel entscheidender als die gleichmäßigere Verteilung von Geld sei, dass die Menschen einen gleichberechtigten Zugang zu den Bildungsinstitutionen und zum Arbeitsmarkt erhalten, lautet das neoliberale Credo, welches große Zustimmung findet. Schließlich entspricht es der Lebenserfahrung vieler Menschen, dass man durch eigenen Fleiß, harte Arbeit und beharrliche (Weiter-)Bildungsanstrengungen sozial aufsteigen kann. Entscheidend ist jedoch die Frage, ob es sich dabei um eine verallgemeinerbare und für die Gesamtgesellschaft tragfähige Lösung des Problems der gravierenden Einkommens- und Vermögensunterschiede handelt.
Kaum ein Wahlprogramm, kaum eine Politikerrede und kaum ein Diskussionspapier der etablierten Parteien, von öffentlichen Verlautbarungen der Unternehmerverbände ganz zu schweigen, kommt ohne die Botschaft aus, dass "Aufstieg durch Bildung" möglich und die Letztere der Garant beruflichen Erfolgs, privaten Wohlstandes und (volks)wirtschaftlichen Wachstums sei. Unbestritten ist, dass man aufgrund der erfolgreichen Bewältigung von (Aus-)Bildungsprozessen einer schwierigen Lebenslage entkommen und beruflich Karriere machen kann. Solche individuellen Bildungsaufstiege waren übrigens selbst in früheren Jahrhunderten möglich, wenn junge Männer – Frauen blieben davon jahrhundertelang weitgehend ausgeschlossen – zur richtigen Zeit am richtigen Ort waren. Nur bieten Bildungserfolge einzelner Personen diesen weder eine Garantie auf einen gut dotierten Job noch eine gesamtgesellschaftliche Lösung für das Problem der Ungleichheit, der Armut und der sozialen Ausgrenzung ganzer Bevölkerungsgruppen.
Aufgrund der sich zuletzt häufenden Krisen ist die Hoffnung, durch eigene Bildungsanstrengungen sozial aufzusteigen und sich fest in der Mittelschicht zu etablieren, überdies der Angst vieler Mittelschichtangehöriger gewichen, trotz guter Ausbildung und harter Arbeit sozial abzusteigen. Dennoch wird häufig so getan, als könnten alle Menschen durch eigene Bildungsanstrengungen reüssieren. Folglich drängt sich die ideologiekritische Frage auf, wem der Mythos einer Bildungsmeritokratie nützt und welchen Bevölkerungsgruppen damit Sand in die Augen gestreut wird. Es handelt sich hierbei um eine populäre Aufsteigerideologie, mit der Arme angehalten werden, ihre (Bildungs-)Karriere durch Selbstoptimierung eigenständig und eigenverantwortlich zu organisieren, anstatt sich für kollektive, solidarische Lösungsansätze zu engagieren. Nicht die gesellschaftlichen Verhältnisse, Wirtschaftsstrukturen und Privilegien müssten demnach angetastet, sondern nur das Verhalten der einzelnen Individuen angepasst werden.
Ablenken vom Umverteilen
Die starke Fokussierung auf Bildung verführt zu dem Fehlschluss, dass Armut und soziale Ungleichheit primär Qualifikationsdefiziten ethnischer Minderheiten und Migrant:innen ohne deutsche Sprachkenntnisse geschuldet seien, während in Wirklichkeit der Mangel an materiellen Ressourcen bei Einheimischen gleichfalls zu Bildungsbenachteiligung führt. Strategisch erzeugt die Fixierung auf Bildung den kulturalistischen Irrglauben, dass Armut und soziale Ungleichheit nur durch sie mit Erfolg bekämpft werden könnten. Auf diese Weise wird von der Notwendigkeit abgelenkt, Maßnahmen der Umverteilung des privaten Reichtums zu ergreifen, damit sich die Kluft zwischen Arm und Reich schließt.
Selbst der französische Ökonom Thomas Piketty überschätzt die Bedeutung der (Schul-)Bildung für den sozioökonomischen Ausgleich, hat er doch eine "egalitäre Bildungspolitik" als Musterbeispiel "effizienter Umverteilung" bezeichnet. In dieselbe Richtung wies das Jahresgutachten 2016/17 des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, welches unter dem Titel "Zeit für Reformen" statt einer Wiedererhebung der Vermögensteuer die Einführung eines verpflichtenden Vorschuljahres empfahl: "Eine zielgerichtete Bildungspolitik kann helfen, die Verfestigungen in Einkommens- und Vermögenspositionen in der langen Frist zu reduzieren. Dabei ist der Fokus auf die Verbesserung der Chancengerechtigkeit zu legen, die zu verbesserten Bildungsmöglichkeiten und -ergebnissen führt." Eine gute Bildung ist jedoch ohne materielle Umverteilung kaum realisierbar, weil Letztere die unabdingbare Voraussetzung für eine bessere Sach- und Personalausstattung der öffentlichen Schulen darstellt.
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