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Kindergrundsicherung

Keine Umverteilung für Kinder

Kindergrundsicherung: Keine Umverteilung für Kinder
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In Deutschland lebt jedes fünfte Kind in existenzgefährdenden Verhältnissen, auch im wohlhabenden Baden-Württemberg. Die neue Grundsicherung könnte Abhilfe schaffen. Wirklich gut vorbereitet ist sie nicht. Und von vielen, die da etwas zu entscheiden haben, gar nicht mehr gewollt.

Der Schlüsselsatz geht unter in einem Schwall von Kritik. "Um Armut zu bekämpfen, brauchen Familien schlicht und einfach mehr Geld", erklärt Andreas Aust vom Paritätischen Gesamtverband im vergangenen November. Anlass: Die Bundestagsanhörung zum Gesetzentwurf zur Kindergrundsicherung aus dem Ministerium für Familien, Senioren, Frauen und Jugend. Statt den manifestierten Ungerechtigkeiten gegenüber den Jüngsten der Gesellschaft auf den Grund zu gehen, werden Mängel bei der Umsetzung des im Koalitionsvertrag der Ampel-Regierung beschlossenen Vorhabens beklagt oder die fehlerhafte Automatisierung der Antragsverfahren. Dabei sind das Peanuts angesichts der Tatsache, dass mindestens zwei Millionen Familien mehr als bisher unterstützt werden müssen, um ihre Chancen auf gesellschaftliche Teilhabe zu verbessern, um Dinge zu finanzieren, die in einem Leben ohne Armut selbstverständlich sind. Geburtstagsparty, neue Sommerschuhe, eine gesunde Ernährung.

Dazu müsste viel Geld umverteilt werden. Also geht es in einschlägigen Kreisen gar nicht mehr um eine ernsthafte Diskussion, wie der Einstieg in die Grundsicherung ab 1. Januar 2025 geschafft werden könnte. Es geht darum, die Pläne als Ganzes zu torpedieren. Für Hans-Ulrich Rülke, den FDP-Fraktionschef im baden-württembergischen Landtag, gehört das "bürokratische" Vorhaben zu den "übertriebene Wohltaten". Der Generalsekretär der Liberalen Bijan Djir-Sarai beteuert zwar, der Armut entgegenwirken zu wollen, allerdings nicht durch mehr Umverteilung, sondern dadurch, dass arbeitslose Eltern eine Beschäftigung aufnehmen (müssen). Die Union will die neue Unterstützung ganz streichen. Der Wirtschaftsrat spricht sogar von einem "Sozialgeschenk", der Bundesvorsitzende und Hobbypilot Friedrich Merz prophezeit, dass "eben nicht mehr alles geht". Und Manuel Hagel, die Nummer eins der Baden-Württemberg-CDU, lastet der Berliner Ampelkoalition beharrlich an, mit solchen Plänen "Chaos und Unsicherheit" zu stiften.

Eine Einschätzung, der Bundesfamilienministerin Lisa Paus (Grüne) selbst nach Meinung von Befürworter:innen eine Steilvorlage geliefert hat, durch ihren Verwirrung stiftenden Gesetzentwurf und die wenig professionelle Kommunikation. Zunächst musste die 55-Jährige wochenlang mit Finanzminister Christian Lindner (FDP) über die Finanzierung ringen und erhebliche Abstriche hinnehmen. Dann offenbarte die Anhörung im Bundestag erhebliche Unsicherheiten unter Beteiligten zu Zahlen, Daten, Anträgen und den komplizierten Berechnungsmethoden, etwa rund um die neuen Familien-Servicestellen.

Familien bleiben arm, Anträge kompliziert

Bisher sind rund tausend Jobcenter für die Auszahlung von Hilfen zuständig, jedoch nur an Familien im Bürgergeld-Bezug und so an knapp zwei Millionen Kinder. Die Zahl der insgesamt Berechtigten liegt aber laut Bundesfamilienministerium bei 5,6 Millionen und damit auch deutlich über jenen 2,9 Millionen Unter-18-Jährigen, die in Statistiken häufig als armutsgefährdet angegeben werden. "Dabei handelt es sich jedoch nur um minderjährige Kinder", heißt es in einem Erklärtext des Ministeriums. Der geplante Kinderzusatzbetrag richte sich aber auch an Kindergeldberechtigte zwischen 18 und 24 Jahren, die bei ihren Eltern leben. Hinzu kämen Kinder aus Familien mit sehr geringen Einkommen.

Kein Wunder also, dass auch neue Stellen nötig werden, um die Auszahlung zu organisieren. Dennoch hätte Paus besser die Finger davon gelassen, die Debatte zuerst mit der Zahl von bis zu 5.000 neuen Beschäftigten anzuheizen, um dann zurückzurudern ("Wir haben noch einiges identifiziert, wo man eben stärker bündeln kann") und schlankere Verfahren in Aussicht zu stellen.

Ungeklärt ist, warum gerade die nicht längst entwickelt sind. Er stehe für die Grundsicherung, hatte sich Baden-Württemberg Sozialminister Manfred Lucha (Grüne) 2020 festgelegt, und zwar für eine "ohne kompliziertes Antragsverfahren". Diskutiert wurde ein immerhin 75-seitiger Bericht mehrerer Arbeitsgruppen zur Einführung "zentraler Bausteine zur Vermeidung von Kinderarmut". Zudem bewertet ein Gutachten die Umsetzung der mit einer Kindergrundsicherung verbundenen Ziele von mehr Gerechtigkeit und mehr Teilhabe positiv. Ausdrücklich hervorgehoben wird "die Beseitigung bestehender Zugangsschwellen".

Der Südwesten bezahlt lieber Netzwerke

Gerade in diesem Punkt hätte Baden-Württemberg beispielgebend werden können. Die grün-rote Landesregierung versprach 2011, "Kinderarmut zu bekämpfen und zu verhindern". Die damalige Sozialministerin Katrin Altpeter (SPD) setzte durch, dass zum ersten Mal überhaupt fürs Land über Armut und die Verteilung von Reichtum Bericht erstattet wurde. Fünf Jahre später wird immerhin die Stärkung von Familien mit der CDU beschlossen, 2021 folgt die Entscheidung von Grünen und CDU, die Kindergrundsicherung "voranzutreiben" und bis 2030 in allen Stadt- und Landkreisen Präventionsnetzwerke zu schaffen.

Auf dem Papier steht ein gewaltiger Anspruch: Die neue Struktur der Präventionsnetzwerke soll "dazu beitragen, dass alle von 0 bis 18 Jahren, unabhängig ihrer sozialen Herkunft und der familiären finanziellen Situation, gleiche Chancen auf Teilhabe und ein gelingendes Aufwachsen haben". Bisher arbeiten solche Netzwerke in 25 der 44 Stadt- und Landkreise. Derzeit geht eine weitere Antragsrunde zu Ende. Für 2024 stehen 1,7 Millionen Euro zur Verfügung – nicht um Betroffene direkt, sondern um Projekte zu fördern, die verhindern sollen, dass immer mehr Kinder, Jugendliche und Familien abrutschen.

Was allerdings seit Jahrzehnten nicht gelingt. Unter dem Stichwort "Neue Armut" wurden 1983, nach dem Ende der sozialliberalen Koalition auf Bundesebene, gerade im Südwesten die Auswirkungen von Leistungskürzungen durch die neue CDU/CSU-FDP-Bundesregierung unter Helmut Kohl näher untersucht. Einzelne Kreise erhoben damals exakte Zahlen über den rasanten Anstieg von Armut und Armutsgefährdung, wenngleich auf einem im Vergleich zu heute niedrigen Niveau. So rechnete der Kreis Tübingen vor, dass Aufwendungen für die Sozialhilfe allein von 1984 auf 1985 um 60 Prozent wuchsen. In Freiburg fand eine Studie heraus, dass jedes neunte Kind in einem Haushalt von Sozialhilfeempfängern lebte. Im Stuttgarter Landtag warb die Grünen-Fraktion Mitte der 1980er-Jahre für eine Grundsicherung von 1.000 Mark pro Monat und dafür, das Existenzminimum "ehrlich zu berechnen".

Letzteres verlangt auch das Bundesverfassungsgericht nicht erst seit gestern. Noch ein Armutszeugnis für die reiche Republik. Denn spätestens seit 2010 ist schwarz auf weiß festgeschrieben, dass jedem Hilfsbedürftigen "diejenigen materiellen Voraussetzungen zustehen, die für seine physische Existenz und für ein Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben unerlässlich sind". Konkret ist noch unklar, was das in Zahlen gegossen für die 5,6 Millionen Kinder bedeutet. Anhaltspunkte immerhin hat das Bundessozialministerium bereits geliefert: "Schreibt man die heutigen Werte mit 15 Prozent fort, können die Kinder je nach Altersstufe ab 2025 wahrscheinlich bis zu 530 Euro (bis fünf Jahre), 555 Euro (bis 13 Jahre) beziehungsweise 636 Euro (17 Jahre) erhalten."

Lucha bleibt ohnehin hoffnungsfroh, vor allem weil die Länder im Bundesrat bereits Vorschläge gemacht haben. Unter anderem, um die Zahl der beteiligten Behörden zu reduzieren. Bei der konkreten Umsetzung gebe es Verbesserungsbedarf, sagt der Minister, im Grundsatz dürfe es den aber nicht geben. Und auch keine Zweifel daran, dass bezugsberechtigte Kinder und Familien künftig darauf aufmerksam gemacht werden, welches Geld ihnen zusteht und wie sie unkomplizierter als bisher dazu kommen.

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