Das Gehirn ist völlig unberechenbar, jedenfalls meins. Ein durchtriebenes Organ. Ein Käfig voller Sparren, beispielhaft für die Tücke des Objekts. Als neulich die ARD-Serie zum 100. Todestag Franz Kafkas startete, fiel mir Fanny Müller ein. Die 2016 in Hamburg verstorbene Schriftstellerin hat in Zeitungen, Magazinen und Büchern sehr schöne Geschichten geschrieben, viele davon über ihre Nachbarin Frau K. Einem sehr kurzen Text mit dem Titel "Knöterich", in dem Frau K. nicht vorkommt, hat sie ein englisches Sprichwort vorangestellt: "The path to enlightment requires a flashlight with fresh batteries." Müllers Übersetzung: "Den Weg zur Erleuchtung nicht mit durchgebrannter Birne antreten."
Dieser Satz wird mich auf allen Spaziergängen begleiten, bis meine Batterien versagen. Ich kann nichts dafür: In meiner Birne ist es nur ein kurzer Schwenk von Franz K. zu Frau K. Gedankensprünge sind mein gutes Recht – und ein schieres Übel, wobei mich die literarische Wiederbegegnung mit Frau K. nach der TV-Kollision mit Franz K. nahezu beschwipst hat. Knöterich ist übrigens kein Schimpfwort, auch wenn ich es als solches prima fände. Knöterich ist der Name einer Pflanzengattung mit Lust auf imperialen Wildwuchs.
In Wahrheit bin ich kein guter Spaziergänger, kein Lustwandler, der sich voll und ganz auf seine Straße einlässt. Der seine Umgebung mit all ihren Gerüchen, Lichtern und Schatten aufsaugt und in seinem Sprunghirn zu einem Bild verarbeitet. Wäre zu gefährlich in Stuttgarts orgiastischem Verkehr.
Ich bin ein Schnipseljäger, der herumzieht, um Beute für Kolumnen zu machen. Der eine Zeile aus Rio Reisers Lied "Der Turm stürzt ein" zusammenhanglos in seiner durchgebrannten Birne gespeichert hat: "Siehst du die Schrift an der Wand?"
Überall verbreiten Häuser Nachrichten, die sich ausschlachten lassen: dass Hans Christian Andersen in der Rotebühlstraße übernachtet hat, Eduard Mörike in der Moserstraße gestorben ist und der VfB Stuttgart in einem Wirtshaus an der Urbanstraße gegründet wurde. Ich bin in der Urbanstraße zu Hause und Stehplatz-Dauergast der Stuttgarter Kickers. Die hatten als britisch infizierte "Cickers" ihren Sportplatz bis Anfang des 20. Jahrhunderts am Stöckach, in der Nähe meines heutigen Heimathafens. Die Urbanstraße hat nichts mit dem Adjektiv "urban" zu tun, ihre Name geht auf den Heiligen Urban zurück, Papst Urban I., der anno 230, kurz vor der Kickers-Geburt, gen Himmel fuhr – und bis heute Schutzpatron der Weingärtner (hierzulande: Wengerter) ist.
Bombenziel Stuttgart
Der Kern unserer Autostadt ist bestenfalls in Zipfeln urban, bedingt städtisch, wenn man der Definition des Geografen Richard Walker folgt, die ich in Rebecca Solnits großartigem Buch "Wanderlust" gelesen habe. Urbanität ist demnach "jene schwer zu fassende Verbindung von Dichte, öffentlichem Leben, kosmopolitischer Verbindung und freier Meinungsäußerung". Solnit schreibt: "Urbanität und Automobile stehen in vielerlei Hinsicht im Gegensatz zueinander, denn eine Autofahrer-Stadt ist nicht mehr als eine dysfunktionale Vorstadt mit Bewohnerinnen und Bewohnern", die zwischen privaten Innenräumen hin- und herpendelten. Autos hätten die Zerstreuung und Privatisierung von Raum befördert. So reduziere sich die Gestaltung der Stadt auf Verkehrsplanung – "und Bewohner vermischen sich viel weniger frei und häufig". Die Folge: Isolation.
Mir scheint, mein Weg zur Erleuchtung ist zu Ende, bevor er begonnen hat. Wozu soll ich mich heute noch mit Fußgänger-Freiräumen beschäftigen in einer Stadt wie Stuttgart, die mit militärisch verlockenden US-Stützpunkten wie Patch Baracks (Eucom) und Kelley Baracks (Africom) im Kriegsfall ein Wunschziel abgibt. Beim Herumgehen rechne ich schon lange damit, an der nächsten Ecke eine abschussbereite Atomrakete anzurempeln. Zwar halte ich es mit Clausewitz, der in seinem Standardwerk "Vom Kriege" schreibt: "Solange man selbst den Krieg nicht kennt, begreift man nicht, wo die Schwierigkeiten der Sache liegen, von denen immer die Rede ist, und was eigentlich das Genie und die außerordentlichen Geisteskräfte zu tun haben, die vom Feldherrn gefordert werden." Aber angesichts des Genies und der außerordentlichen Geisteskräfte unserer Feldherr:innen wie Hofreiter (Grüne) und Strack-Zimmermann (FDP), die selbst den Krieg nicht kennen, habe ich ein mulmiges Gefühl. Kriegsgeile Schlangen-Knöteriche, wo du hinguckst.
Überhaupt macht mich die deutsche Aufrüstung bis in die Schulen der Kinder hinein leicht nervös, vor allem, wenn ich den Argumenten der Mobilmachung folge. Ununterbrochen werden Vergleiche zwischen dem russischen Angriffskrieg in der Ukraine und der gescheiterten Friedensdiplomatie mit dem nationalsozialistischen Deutschland gezogen. Und immer gilt unseren Generalstabserleuchteten Putin als Hitlers Bruder im Geiste, dem alles, wirklich alles zuzutrauen ist. Wenn dem aber so ist, warum behaupten dann dieselben Knall-und-fall-Chargen, dass Putin auf gar keinen Fall Atomwaffen einsetzen wird? Seltsame Logik. Hitler hätte die Bombe gezündet, hätten ihn nicht gewisse Terminschwierigkeiten daran gehindert.
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Johann Armand
am 16.04.2024