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AfD und die EU

Doch noch ziemlich flügellahm

AfD und die EU: Doch noch ziemlich flügellahm
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Die Zerschlagung der EU heißt jetzt Transformation: Mit kleinen Eingriffen hat die AfD versucht, ihr Europawahlprogramm weichzuspülen. Bei ernsthafter Lektüre werden dennoch viele aufschrecken. Zudem schwächeln die europäischen Partnerparteien.

Der demoskopische Höhenflug ist erst einmal auf einem Plateau angekommen. Rund 80 Prozent der Bevölkerung hat die "Alternative für Deutschland" (AfD) weiterhin bundesweit gegen sich. Die Fachleute des Marktforschungsinstituts Kantar, früher Emnid, sehen die Rechtsaußen-Opposition bei der jüngsten Sonntagsfrage mit 18 Prozent wieder hinter der SPD und nur knapp vor den Grünen. Die zumindest gegenwärtig durchaus begrenzte Strahlkraft radikaler Strömungen insgesamt zeigt zudem der Blick auf die beim AfD-Europaparteitag Ende Juli in Magdeburg so gefeierten neuen Freund:innen von der "Identität und Demokratie Partei", kurz ID-Partei oder IDP genannt. Denn die können keineswegs vor Kraft kaum laufen, ganz anders, als es die AfD-Europakandidat:innen weismachen wollen.

Bei der ID-Partei handelt es sich um eine überstaatliche europäische Partei, einen Zusammenschluss von rechten und rechtsextremen Parteien aus aktuell zehn Ländern, bald elf – denn die AfD hat in Magdeburg ihren Beitritt beschlossen. Relevant sind in der IDP vor allem die großen und größeren Länder. So hängt Marine Le Pens Rassemblement National in Frankreich bei 25 Prozent fest. Die italienische Lega hat sich in den vergangenen zwei Jahren von gut 20 auf neun Prozent halbiert. In kleineren Ländern ist die Lage differenziert, etwa weil die österreichische FPÖ durchaus ein Potenzial bis 30 Prozent haben könnte, was aber bei der Europaparlamentswahl im nächsten Juni auch nur zu zusätzlichen fünf oder sechs Mandaten führen würde. Gegenwärtig sitzen in der zur ID-Partei gehörenden ID-Fraktion – bei der schon jetzt auch die AfD dabei ist – jedenfalls 62 Abgeordnete im Europaparlament (EP), von insgesamt 705.

Die Vereinigung mit anderen etwa genauso vielen Rechtspopulist:innen hat bisher nicht geklappt. Aus der "Nationalistischen Internationalen", die Italiens stellvertretender Ministerpräsident Matteo Salvini schon im Zuge der Europawahl 2019 schmieden wollte, ist dankenswerterweise nichts geworden. Das Abstimmungsverhalten der rechtspopulistischen Parteien im EP zeige, schreibt die Bundeszentrale für politische Bildung (BpB), "dass ihre Gemeinsamkeiten in zahlreichen Politikfeldern begrenzt sind". Sogar innerhalb der jeweiligen nationalen Delegationen besteht regelmäßig keine Einigkeit darüber, wie entschieden der eigene Weg sein soll, wenn es um die postulierte Abschottung des Kontinents geht, um das Grenzregime mit oder ohne Waffeneinsatz, die Demonstration militärischer Stärke, den Umgang mit Russland. Und zwischen den Parteien aus den verschiedenen EU-Ländern herrschen schon allein deshalb beträchtliche Differenzen, weil es logischerweise nicht zusammenpassen kann, wenn einerseits das eigene Volk und Vaterland zum wichtigsten Maßstab erhoben wird und zugleich stabile Allianzen mit anderen gebildet werden sollen, die demselben vulgären Scheinpatriotismus huldigen.

Ganz vorne bei der Wanderung nach rechts: die FPÖ

Ein Beispiel für solche naturwüchsigen Kollisionen liefert ausgerechnet Maximilian Krah, der AfD-Hardliner und frisch gekürte Spitzenkandidat für die Europawahl. Kurzerhand erklärte der Jurist in Magdeburg die AfD zur "spannendsten Rechtspartei" des Kontinents, weil überall anderswo "man den Leuten erzählt, man muss sich anpassen, wenn man Erfolg haben will". FPÖ-Chef Herbert Kickl allerdings preist seine Partei ebenfalls als die spannendste und beweist Auftritt für Auftritt, dass auch Krahs Behauptung von Anpassung falsch ist. Denn im bizarren Wettkampf darum, wer konsequent und radikal nach rechts wandert, haben Österreichs "Freiheitliche" schon lange die Nase vorn mit "Heimatliebe statt Marokkaner-Diebe", "Daham statt Islam" oder "Neue Wohnungen statt neuer Moscheen".

Bei allem Applaus der Sympathisant:innen für das notorische Bashing der "Altparteien" ist die positive Breitenwirkung zentraler rechtspopulistischer Forderungen doch eher zu bezweifeln. Ist selbst noch so interessierten AfD-Anhänger:innen im Straßenwahlkampf die Zerschlagung der EU oder die neue "Festung Europa", die bei genauerem Hinsehen eine "Festung Deutschland" sein soll, tatsächlich vermittelbar, mit geschlossenen Grenzen, mit der Abkehr vom Euro, mit der Rückkehr zu eigenen Regeln in den Vaterländern? Sogar auf dem Europaparteitag der AfD stockte der nationalistische Aufgalopp immer wieder. Zum Beispiel in der Wirtschaftspolitik, wie ein Auftritt des früheren baden-württembergischen Landesvorsitzenden, Mitbegründers der rechten Pseudogewerkschaft Zentrum Automobil und Stuttgarter Bundestagsabgeordneten Dirk Spaniel zeigte: Er legte plötzlich Wert auf pragmatisches und unideologisches Vorgehen, als er international vereinbarte Regeln als unentbehrlich anerkannte, nach denen die Exportnation Deutschland zum Beispiel Edel- und andere Karossen künftig noch verlässlich in aller Welt absetzen können soll.

Das für die vielen Ferienregionen von der Ost- bis zum Bodensee existenzielle Thema Tourismus – nach der Rückkehr zu Grenzstaus und den nationalen Währungen – wird im Wahlprogramm gleich ganz ausgespart, in anderen Bereich werden aus strategischem Kalkül unerfüllbare Erwartungen geweckt: etwa beim gebetsmühlenhaft wiederholten Versprechen, Kindergeld an in Deutschland Arbeitende mit Familie im EU-Ausland nur noch in der jeweils dem Lebensstandard entsprechenden Höhe zu zahlen. Denn das Thema ist geklärt. Österreichs bürgerlich-rechte Regierung unter dem damaligen Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) hatte sich vom EuGH zurückpfeifen lassen müssen, weil Unionsrecht "jede Diskriminierung aufgrund der Staatsangehörigkeit der Wanderarbeitnehmer" unterbinde.

Die AfD und andere Rechtsaußen-Parteien werden genau mit solchen Entscheidungen im Wahlkampf versuchen, nicht nur die EU schlechtzumachen, sondern auch den demokratischen Staatsaufbau insgesamt. Politische Entscheidungen können und müssen von Gerichten kassiert werden. Käme die ID-Partei tatsächlich zu parlamentarischen Mehrheiten und in die Lage, ihre Pläne anzugehen, würden die in vielen europäischen Ländern niemals Realität – weil sie gegen die jeweiligen Verfassungen verstoßen. Die israelische Entwicklung lässt grüßen. Krah, Höcke, Weidel, Sänze und Co. würden umgehend zum Sturmlauf auf die Rechte von Richter:innen bis hinauf zum Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe ansetzen. Aber taugt eine solche Haltung, gerade in der Bundesrepublik, um mehr als etwa ein Fünftel der Wählerschaft zu überzeugen?

Was eine Umsetzung der Versprechen bedeuten würde

Argumentativ am einfachsten ist es, die Radikalinskis auseinanderzunehmen, wenn ihre Versprechen aufs Alltagsleben heruntergebrochen werden. Zölle wären dann wieder gang und gäbe, bis tatsächlich die in Aussicht gestellten "interessengeleiteten Handelsabkommen" ausgehandelt wären oder gar die von der AfD angestrebte Autarkie Deutschlands in vielen Bereichen hergestellt wäre. Will heißen: Nur lagerbares und saisonales Obst und Gemüse wäre für schmälere Geldbeutel leistbar. Und was in Deutschland nicht wächst, würde nach und nach ganz verschwinden müssen vom Speisezettel. Ohne europäischen Energiemarkt würde Heizen, Kochen etc. deutlich teurer, zugleich fielen in der Welt der AfD aber alle Vorgaben zum klimaneutralen Bauen. Mieter:innen müssten unter Umständen in billig hochgezogene und wenig isolierte Wohnungen einziehen und mehr als einen Pullover brauchen, wenn sie nicht frieren wollen. Folgenreich wäre auch die Renationalisierung des Schutzes von Gewässern. Was wohl in der Elbe oder der Oder alles ankommen könnte an Schadstoffen? Bulgarinnen oder Rumäninnen dagegen müssten daheimbleiben, statt in Deutschland als Pflegekräfte zu arbeiten, weil "die Privilegien" durch die Arbeitnehmerfreizügigkeit zurückgefahren würden.

Der Katalog der umstürzlerischen Eingriffe ist lang. Wunschdenken kombiniert mit Halbwahrheiten spricht aus vielen Sätzen: "Eine neue Deutsche Mark könnte ihre höhere Kaufkraft gegenüber anderen Ländern wiedergewinnen, und die damit verbundene Senkung der Importpreise würde zu steigenden Realeinkommen und damit zu einer 'Sozialdividende' führen, die dem gesamten deutschen Volk zugutekäme und nicht nur, wie derzeit, einigen Exportfirmen." Sozialdividende? Einige Exportfirmen? Der deutsche Exportüberschuss lag im ersten Halbjahr 2023 bei fast hundert Milliarden Euro.

Den Rechtspopulismus mit der Realität konfrontieren

Die Lektüre der Europawahlprogramme der AfD ist auf jeden Fall lohnend, weil es sich herumsprechen muss, was die "Transformation" der EU tatsächlich bedeuten würde. Den Arbeitgeberpräsidenten Rainer Dulger "erschüttern" die guten Umfragewerte der AfD, "mich persönlich und auch als Unternehmer". Er sieht vor allem die anderen Parteien am Zug, während der DGB gerade an Industrie, Wirtschaft und deren Verbände appelliert, aktiv gegen Nationalismus und Radikalismus aufzutreten – und der ehemalige IG-Metall-Sekretär Peter Kern sieht sogar ganz besonders die CEOs in der Pflicht.

Der rechte Schachtelteufel steckt im Detail und muss nicht gefesselt, sondern so oft wie möglich in den nächsten zehn Monaten mit der tatsächlichen Realität im Land konfrontiert werden. Oder, wie die BpB appelliert: "Um eine sachliche Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Entwicklungen und individuellen Problemlagen zu ermöglichen, muss die Grundfiktion des Rechtspopulismus durchbrochen werden." Denn der populistische "Volks"-Begriff, als homogene Einheit verstanden, stehe "im Widerspruch zur Wirklichkeit in allen Gesellschaften und ganz besonders zur Wirklichkeit in modernen, ausdifferenzierten und vielfältigen Gesellschaften". Und die wollen – ausweislich jüngster Umfragen – sogar in AfD-Hochburgen wie Thüringen noch immer satte zwei Drittel der Wahlberechtigten.


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