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Lebenshöfe

Gras um die Hufe und Sonne im Fell

Lebenshöfe: Gras um die Hufe und Sonne im Fell
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 Fotos: Julian Rettig  

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Datum:

Die meisten Schweine in Deutschland leben nur sechs Monate, bevor sie geschlachtet werden. Auf dem Lebenshof Tierlieben in Ammerbuch bei Tübingen oder dem Gnadenhof Fränkische Schweiz in Bayern dürfen Nutztiere ohne wirtschaftlichen Nutzen ihr ganzes Leben genießen. Schweine manchmal 18 Jahre lang.

Einmal am Tag verlässt das kleine Schaf Ole die Schafherde, um seinen besten Kumpel zu besuchen. Auch an diesem sonnigen Freitag trabt es schnurstracks auf Ori zu, den Hofhund, und rollt sich neben ihm in den Schatten wie ein pelziger, weißer Donut. "Die haben sich angefreundet", erzählt Gitta Haas mit einem Lachen, sie ist die Chefin des Lebenshofs Tierlieben in Ammerbuch zwischen Tübingen und Herrenberg. Das Lamm haben sie selbst aufgezogen, mit der Flasche, weil die Mutter es nicht angenommen hat und der Schäfer keine Zeit hatte, das Baby alle zwei Stunden zu füttern. "Wir haben schon echt viele Schafe mit der Flasche aufgezogen", sagt Gitta Haas, und sie so vor dem sicheren Tod bewahrt. Hinter ihr drängen die Tiere neugierig durch ein offenes Tor und knuspern erst mal ein paar saftige Brennnesseln weg.

Angefangen hat die gelernte Ergotherapeutin mit Zwerghühnern im Garten. Bis eine Freundin ihr einen Hühnerstall spendierte – für ausgestallte Legehennen. Heute bewirtschaftet sie gemeinsam mit Mann, Sohn, Praktikant:innen und Ehrenamtlichen etwa sechs Hektar Land mit Weiden, Ausläufen, Ställen, einer Jurte mit Feuerstelle und rund 80 Tieren – Pferde, Schweine, Schafe, Ziegen, Rinder, Katzen, Hunde, Kaninchen. Die Hühner seien das verbindende Element des Lebenshofs Tierlieben, weil sie überall herumlaufen dürfen, erzählt David Haas, der Sohn. "Jedes Huhn hat seine ganz eigene Persönlichkeit", sagt er. "Die bauen richtige Beziehungen auf." Ein paar der Hühner sind von einer Schulklasse. Die hatte als Projekt Eier ausgebrütet und wollte die Küken eigentlich wieder zum Hühnerhof bringen, brachte es dann aber doch nicht übers Herz, dass die flauschigen gelben Knirpse gemästet und geschlachtet worden wären. Mittlerweile leben diverse Hähne auf dem Hof, die keiner mehr haben wollte, Hühner, die gefunden wurden, Moritz, Betzi, Fee, Frau Mayer und Frau Müller: Die braun-weiß gefiederte Henne hatte in ihrem früheren Leben das Glück, als einziges Tier einen Fuchsangriff überlebt zu haben. Einmal, berichtet Gitta Haas, nahmen sie ein Huhn mit drei Brustbeinbrüchen auf. "Das ganze Calcium geht bei Legehennen in die Eier", erklärt sie. "Da bleibt wenig übrig für die Knochen."

Lebenshöfe wie dieser sind eine leise, aber eindrückliche Gegenposition zur industriellen Tierhaltung. Sie sind Orte, an denen vor allem Nutztiere, die keinen Nutzen mehr bringen, weiterleben dürfen bis ans Ende ihres Lebens. Sie zeigen: Ein Tier ist so viel mehr als sein wirtschaftlicher Wert. Ziegen zum Beispiel sind superschlau, Kühe bilden echte Freundschaften aus, in Gruppen von Schweinen gibt es eine Rollenverteilung ganz ähnlich wie in menschlichen Gemeinschaften – es gibt Clowns, Kümmerer, Grummler, Außenseiter und Everybodys Darling. Nur wissen das viele nicht, denn den wenigsten Nutztieren bleibt die Zeit, diese Qualitäten auszubilden.

Ein geschützter Raum für Tiere

Was Lebenshöfe eint, ist das gemeinsame Ziel: Tieren einen geschützten Raum zu geben, der ihr Leben als solches wertschätzt – unabhängig von Leistung oder Produktivität. Den ersten soll es schon Anfang des 20. Jahrhunderts gegeben haben, einer der bekanntesten ist mit Sicherheit Gut Aiderbichl mit etwa 30 Höfen in Europa. Allein in Deutschland gibt es mittlerweile Dutzende dieser Höfe, landwirtschaftsähnliche Einrichtungen, die Tiere aufnehmen, die sonst meist geschlachtet worden wären – etwa aus der Nutztierhaltung, der Tierversuchsindustrie, aus privaten Notfällen oder deren Behandlung nach schweren Verletzungen zu unwirtschaftlich ist oder zu kompliziert. Eines der Schafe beispielsweise sollte eingeschläfert werden, weil es sich schwer am Bein verletzt hatte. Gitta Haas hat es aufgenommen und ihm einen Hunde-Rollstuhl umgeschnallt, mittlerweile läuft es auch ohne Rolli wieder ganz normal.

Auf Lebenshöfen dürfen Nutztiere einfach ihr Leben verbringen. Häufig entstehen sie aus privaten Initiativen, getragen von Tierschützer:innen, Aktivist:innen oder einfach Menschen mit großem Herz und kleiner Scheune. Ehrenamtliches Engagement ist ebenso zentral wie ein gewisser Idealismus – denn wirtschaftlich tragfähig sind die wenigsten dieser Orte. Sie finanzieren sich meist über Spenden, Tierpatenschaften oder Stiftungen. Das Herzstück des Lebenshofs Tierlieben beispielsweise ist ein Pädagogik-Konzept. Zwei Nachmittage in der Woche ist "Offener Betrieb" für Kinder aber ohne Eltern ("elternfreie Zone"), einen Sonntag im Monat ist der Hof für alle geöffnet, es gibt Events, Schwafwanderungen, Ferienprogramm. Kinder, die als schwer erziehbar oder als unbeschulbar gelten, sind ebenfalls gern gesehene Gäste auf dem Hof. Sie können helfen, einfach nur Tiere streicheln, auf Bäume klettern, an der großen Feuerstelle Feuer machen und lernen nebenher fürs Leben über die Natur. Zum Beispiel dass ein Schwein, wenn es nicht zu Wurst wird, ganze 18 Jahre alt werden kann.

Dass Emma lebt ist keine Selbstverständlichkeit. Die große, schwarz-weiße Kuh liegt im Gras, kaut wieder und wieder, blinzelt in die Sonne. Niemand bringt sie zum Schlachter. Emma darf einfach leben, Gras unter den Hufen und das Licht der Sonne auf dem Fell spüren – auf dem Gnadenhof Fränkische Schweiz e.V. Er liegt in Oberfranken, eingebettet in sanfte Hügel und dichte Wälder: Der Lebenshof Fränkische Schweiz wurde 2016 gegründet und beherbergt heute eine bunte Gemeinschaft aus Ponys, Pferden, Schweinen, Hühnern, Ziegen, Hunden und Kühen.

Viele Tiere auf dem Hof haben traurige Geschichten. Einige Ponys und Pferde wurden ausgesetzt, darunter ein Pferd, das hilflos auf einer Autobahn gefunden wurde. Auch Vögel leben dort: Gänse, Enten und Hühner in friedlicher Gemeinschaft. Damit kein Nachwuchs entsteht, werden die gelegten Eier entfernt. Hühnereier können als Tierfutter genutzt werden, Gänse- und Enteneier werden entsorgt, weil sie bakteriell kontaminiert sein können.

Neben den Hühnern gibt es Ziegen und Schafe, insgesamt leben rund 120 Tiere auf dem Lebenshof, darunter auch Hunde, Katzen, sechs Kühe und Wildschweine. Die Schweine werden durch doppelte Zäune geschützt, um die Gefahr einer Schweinepest-Übertragung durch wilde Wildschweine zu verhindern. Das Blut der Kühe, Schafe und Ziegen wird jedes Jahr untersucht und die Tiere sind, wie gesetzlich vorgeschrieben, mit Ohrmarken gekennzeichnet – eine Prozedur, die den Tieren Schmerzen bereitet, aber vom Veterinäramt vorgeschrieben wird. Auch in Ammerbuch bei Gitta Haas tragen einige Tiere noch Ohrmarken aus ihren früheren Leben, entfernt werden dürfen sie nicht.

Von der Anbindehaltung ins Glück

Milchkuh Emma ist zwölf Jahre alt und lebte zuvor auf einem kleinen Bauernhof in Thüringen, wo sie ganzjährig in Anbindehaltung stand – eine Haltungsform, die Kühen kaum Bewegungsfreiheit lässt. Jedes Jahr musste sie wie jede Milchkuh ein Kalb zur Welt bringen. Denn Kühe geben – wie alle Säugetiere – nur dann Milch, wenn sie zuvor trächtig waren. Millionen Milchkühe werden deshalb jedes Jahr künstlich befruchtet. Direkt nach der Geburt wird den meisten Kühen ihr Kalb weggenommen, damit die produzierte Milch nicht dem Nachwuchs zugutekommt, sondern für den menschlichen Konsum in den Handel gelangt.

Als die Familie, der sie gehörte, die Tierhaltung aufgab, hätte Emma eigentlich zum Schlachthof gemusst. Doch am 23. November 2023 wurde sie stattdessen in die Fränkische Schweiz gebracht. Nach drei Stunden Fahrt stand Emma drei Tage im Stall, bis sie schließlich mit viel gutem Zureden und Futter zum ersten Mal auf die Weide hinausging. Heute genießt sie Gras, Sonne und Gesellschaft.

Emma ist kein Einzelfall: Rund 1,4 Millionen Kühe leben in Deutschland immer noch in Anbindehaltung, sehr viele auch in Baden-Württemberg. Die Deutsche Tierlobby setzt sich dafür ein, die Anbindehaltung gesetzlich zu verbieten. Aus ihrer Sicht verstößt diese Praxis bereits heute gegen das bestehende Tierschutzgesetz. Der Verein hat zudem eine Reform des Tierschutz-Gesetzes angestoßen. Allerdings wurden wesentliche Fortschritte durch das vorzeitige Ende der Ampel-Koalition zunichtegemacht – nun muss die Deutsche Tierlobby bei der neuen Bundesregierung wieder von vorne beginnen.

Seit August 2016 leitet Reinhard Frederking das "Kuhaltersheim" auf dem Hof. Neben Emma leben hier der Haflinger Aladin und fünf weitere Kühe, von denen zwei auf dem Hof geboren wurden.

Der Tagesablauf auf dem Lebenshof ist geprägt von Routine und Fürsorge: Morgens werden die Tiere gefüttert und die Ställe ausgemistet. Danach werden die Koppeln hergerichtet und der Zaun überprüft. Abends kommen alle Tiere zurück in den Stall, wo sie erneut Futter bekommen. Der Unterschied zur klassischen Landwirtschaft: Hier steht nicht die Verwertung, sondern die Beziehung zu den Tieren im Mittelpunkt.

Tiere als Mitgeschöpfe

Lebenshöfe stellen eine einfache, aber radikale Frage: Was ist ein Tier wert? Die Antwort darauf fällt in der öffentlichen Debatte zunehmend vielschichtig aus. Während die einen Lebenshöfe als Symbolorte mit begrenzter praktischer Reichweite sehen, erkennen andere in ihnen ein Modell für eine neue, ethisch orientierte Beziehung zwischen Mensch und Tier.

Tatsächlich sind Lebenshöfe auch Projektionsflächen. Für Tierschutz- und Tierrechts-Bewegungen sind sie Leuchttürme einer zukünftigen Landwirtschaft. Für andere sind sie private Utopien – emotional, schön, aber eben auch Ausnahmen in einem System, das weiterhin Milliarden Tiere pro Jahr nutzt und tötet. Doch gerade diese Ausnahmen machen sichtbar, was möglich wäre – zumindest im Kleinen. Sie laden ein zur Auseinandersetzung: mit Konsumgewohnheiten, mit landwirtschaftlicher Realität, mit ethischer Verantwortung.

Emma lebt. Und mit ihr eine Idee, die leise, aber beständig weiterwächst: dass Tiere mehr sein dürfen als Fleischlieferanten oder Milchmaschinen. Lebenshöfe wie der in der Fränkischen Schweiz erzählen von dieser Hoffnung – konkret, berührend und glaubwürdig.

In Ammerbuch erzählt Gitta Haas gerade die Geschichten ihrer Schweine. Anton, das Minischwein beispielsweise kommt aus Wohnungshaltung und war mal ein Weihnachtsgeschenk. Zu ihren Füßen liegt ein graues Schwein, ein ganz schöner Oschi. Plötzlich kipp es zur Seite, streckt die Hufe vom Körper weg und den Ranzen raus. "Am Bauch kraulen mögen sie ganz besonders", sagt Gitta Haas. Und das Schwein grunzt zufrieden.

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